„Anne Will“ zu Israel und Gaza - „Es nützt der Hamas, wenn die Leute nicht fliehen“

Das Humanitäre Völkerrecht bedeutet nicht, dass Israel sich gegen seine Feinde nicht militärisch verteidigen darf. Da waren sich die Gäste in der Talkshow „Anne Will“ einig. Annalena Baerbock und Kevin Kühnert versprachen deutsche Hilfe für Israel - ließen aber offen, wie die aussehen soll.

Anne Will mit Gästen / Screenshot ARD
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Ingo Way ist Chef vom Dienst bei Cicero Online.

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Deutsche Talkshows anzuschauen, ist in der Regel kein Vergnügen. Doch die gestrige Ausgabe von „Anne Will“ konnte man fast als angenehm bezeichnen: Die Gäste fanden größtenteils die richtigen Worte, ließen einander ausreden, bekamen Gelegenheit, ihre Argumente in Ruhe auszuführen. In der Sendung mit dem Thema „Nach dem Terror-Angriff auf Israel – Droht ein Flächenbrand in Nahost?“ ließen Arye Sharuz Shalicar, Sprecher des israelischen Militärs, der Historiker Michael Wolffsohn, SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, die deutsch-iranische Journalistin Natalie Amiri und BND-Veteran Gerhard Conrad – Außenministerin Annalena Baerbock war per vorab aufgezeichnetem Videointerview zu sehen – keine Zweifel daran, dass die Ermordung von mehr als 1300 Israelis vor einer Woche ein in der langen Geschichte nahöstlichen Terrors beispielloses Verbrechen ist und dass Israel und die Welt nun vor der Aufgabe stehen, die Verantwortlichen – die Hamas – zur Rechenschaft zu ziehen und unschädlich zu machen. Die Frage war nur, wie.  

Der Twitter-Aufforderung der SPD-Politikerin Sawsan Chebli, jede Talkshow zum Thema Israel und Gaza sollte paritätisch besetzt werden („mindestens ein/e Israeli/n und ein/e Palästinenser/in“) war die Anne-Will-Redaktion übrigens nicht nachgekommen. Entweder hatte sich kein Palästinenser gefunden, der sich unmissverständlich zur Hamas äußern wollte, oder aber, derjenige hätte in einem solchen Fall unangenehme Konsequenzen zu fürchten.   

Auch wenn die Moderatorin die titelgebende Frage nach dem drohenden Flächenbrand ein paarmal zu oft stellte, ließ sich keiner der Diskutanten dazu verleiten, nun den Israelis eine Mitschuld an einer solchen bislang rein hypothetischen Entwicklung aufzubürden. Auch die von Will mehrmals ins Spiel gebrachte Sorge, Israel könnte sich womöglich bei seiner Gegenoffensive im Gazastreifen nicht an das Humanitäre Völkerrecht halten, konterte IDF-Sprecher Shalicar mit dem Hinweis, dass die israelische Armee seit Tagen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen vor zu erwartenden Angriffen warne und sie dazu aufrufe, den nördlichen Teil des Gazastreifens zu verlassen. Denn die Kommandostruktur der Hamas befindet sich vor allem im nördlichen Teil, rund um Gaza-Stadt. Und dort verschanze sich die Hamas mitsamt ihren Waffenlagern gezielt in Wohngebieten sowie in zivilen Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäusern. „Es nützt der Hamas, wenn die Leute nicht von dort weggehen“, so Shalicar, denn dann entstünden ebenjene Bilder von toten Palästinensern, die den Islamisten für ihre weltweite Propaganda so nützlich sind.  

Moment der Bewährung für die deutsche Staatsräson

Michael Wolffsohn machte darauf aufmerksam, dass sich Israel 2005 komplett aus dem Gazastreifen zurückgezogen hat und es seitdem keine jüdischen Siedlungen mehr gibt. Wenn die Bevölkerung dort immer noch in Armut und Unfreiheit lebe, sei es jedenfalls nicht Israels Schuld. „Es gibt tatsächlich eine Tragödie des palästinensischen Volkes“, meinte Wolffsohn, „die darin besteht, dass es von seiner eigenen Führung verraten wurde.“ Auch Wolffsohn machte darauf aufmerksam, dass es die Hamas ist, die derzeit verhindert, dass palästinensische Zivilisten aus dem nördlichen in den südlichen Teil des Gazastreifens fliehen. Er selbst hält eine Bodenoffensive zwar für einen militärischen und politischen Fehler, findet, man solle den Gazastreifen stattdessen einfach abriegeln, betont aber auch, er sei eben Historiker und kein Militärstratege.  

Es war dann Kevin Kühnert, der daran erinnerte, dass das Völkerrecht jedem Staat das Recht gibt, seine Bevölkerung auch militärisch zu schützen. Und für die deutsche „Staatsräson“, an der Seite Israels zu stehen, sei der Moment der Bewährung jetzt gekommen. Der Islamwissenschaftler und ehemalige BND-Mitarbeiter Gerhard Conrad, der von 2009 bis 2011 an den Vermittlungsgesprächen zwischen Israel und der Hamas zur Freilassung des Soldaten Gilad Shalit beteiligt war, erklärt die Taktik der Hamas, Zivilisten der eigenen Seite zu opfern, aus dem islamische Dschihad-Verständnis: „Die Pflicht der Muslime, sich dem Dschihad zu widmen, gilt auch für Frauen, Kinder und Greise. Damit begründet die Hamas, warum sie sich hinter menschlichen Schutzschilden verschanzt.“ Und dennoch, so Conrad, bemühe sich Israel, dem Völkerrecht Genüge zu tun und zivile Opfer zu begrenzen.  

 

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Doch da es diese Opfer geben und die Hamas sie für Propagandazwecke ausschlachten wird, steht Natalie Ameri, die frühere Iran-Korrespondentin der ARD, einer israelischen Bodenoffensive skeptisch gegenüber, weiß allerdings auch nicht zu sagen, welche Alternative Israel denn bliebe. Ihre große Sorge ist, dass der Iran die Stimmung, die zuungunsten Israels kippen wird, ausnutzen werde. Denn der Kern des Problems sei nicht die Hamas, sondern die Islamische Republik Iran, die ihren Einfluss in der Nahostregion, der ihr zunehmend entgleitet, wieder festigen wolle. „Mit dem Iran kann man nicht mehr verhandeln. Das Atomabkommen ist gescheitert, warum hält man das Regime immer noch mit Appeasementpolitik bei Laune?“ 

Finanzhilfen an palästinensische Einrichtungen

Das ist eine Frage, mit der sich Außenministerin Baerbock in ihrem eingespielten Interview nicht auseinanderzusetzen brauchte. Dafür betonte sie mit erfreulicher Klarheit, dass die Terrorattacke von vergangener Woche eine ganz neue Situation geschaffen habe, da die Hamas nunmehr die Methoden des Islamischen Staates kopiere. Und dass Israel nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht habe, seine Geiseln aus dem Gazastreifen zu befreien. Dass es ohne eine Bekämpfung des Hamas-Terrors keinen Frieden und keine Sicherheit geben könne. Was die Israelis derzeit durchmachen, so Baerbock, könne man nur verstehen, wenn man sich die Geschichten von Menschen anhöre, deren Angehörige von palästinensischen Terroristen entführt, vergewaltigt oder brutal umgebracht worden sind. „Jede Hilfe, die Israel braucht“, versprach die Außenministerin, „wird es bekommen.“ 

Michael Wolffsohn goß ein bisschen Wasser in den Wein: „Mir fehlt bei Frau Baerbock die Selbstkritik.“ Denn das Auswärtige Amt finanziere durch Finanzhilfen an palästinensische Einrichtungen den Hamas-Terror mit, ein Umstand, den Baerbock vehement bestreite. Ihm lägen dazu interne Papiere aus dem Auswärtigen Amt vor, die er demnächst veröffentlichen und kommentieren wolle.  

Baerbock konnte sich zudem nicht verkneifen, am Ende ihres Interviews allen Unzufriedenen im Lande noch ein mahnendes Schlusswort mitzugeben: „Wir können alle – bei den Sorgen, die wir haben – jeden Tag und jede Nacht nur dankbar sein, dass wir mit unseren Familien hier in Frieden und Sicherheit“ – sie hätte noch hinzufügen können: gut und gerne – „leben können. Das ist das Allerwichtigste.“ Doch wie lange Frieden und Sicherheit noch gewährleistet sind, wenn die Politik der offenen Grenzen nicht bald ein Ende findet und die Bundesregierung auch noch ihr Herz für die jüngsten Gaza-Flüchtlinge entdeckt, das wäre dann ein Thema für eine weitere Talkrunde bei Anne Will.

Für Juden in Deutschland ist es mit dem Vertrauen in das staatliche Sicherheitsversprechen schon jetzt nicht allzu weit her, vor allem, wenn sie aus Israel stammen und auf der Straße erkennbar sind, wenn sie sich in ihrer Muttersprache Hebräisch unterhalten. Am vergangenen Freitag, als die Hamas zu einem weltweiten Kampftag gegen Israel aufgerufen hatte, ließen viele jüdische Eltern ihre Kinder zuhause. Ein Lehrer an einer jüdischen Grundschule in Berlin erzählte, dass an jenem Freitag nur zwei Schüler seiner Klasse zum Unterricht erschienen sind. An die Fassade eines Wohnhauses in Prenzlauer Berg, in dem eine Mitarbeiterin der jüdischen Gemeinde wohnt, wurde ein riesiger Davidstern gesprüht, als wollte jemand das Haus markieren. In anderen Berliner Bezirken gab es ähnliche Schmierereien. Und in Berlin-Tiergarten wurde eine junge Frau, die ein proisraelisches Plakat aufhängen wollte, tätlich angegriffen.

Wenn man sich, wie es Annalena Baerbock in ihrem Interview ebenfalls zum Ausdruck brachte, Sorgen um die zu erwartenden Gaza-Flüchtlinge macht, sollten diese Sorgen jedenfalls nicht hierzulande die „Sorgen, die wir haben“ noch verstärken.

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