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(picture alliance) Auch er will seine Rente. Sie zu sichern gleicht dem Speckanfressen vor dem Winter

Wir sind Rentenbürger - Lieber Rente als Leistung

Man kann keine Zeitung aufschlagen, ohne Belege dafür zu finden, dass sich der Raubtierkapitalismus des Westens in eine rentenabhängige Gesellschaft verwandelt hat. Unternehmertum gilt als unmenschlich, soziale Absicherung durch Renten als gerecht. Ein Rentenschlaraffia für alle aber ist zum Scheitern verurteilt

Es ist keine Schöne Zeit, in der ­Célestin Guittard Tagebuch führt. Sein Land befindet sich in Aufruhr, die Wirtschaft ist zusammengebrochen, erdrückende Schulden des untergegangenen Regimes machen jeden Handlungsspielraum für die Übergangsregierung zunichte.

Um überhaupt noch eine Währung auf die Beine stellen zu können, konfisziert sie kirchliche Ländereien und gibt Papiergeld aus, das jederzeit gegen den gestohlenen Grund und Boden einlösbar sei. Der Trick funktioniert nur mäßig. Auf wenige Prozent vom Ausgabewert rutscht der Marktpreis dieser „Assignaten“, denn niemand traut dem Deckungsversprechen der neuen Herrscher.

Warum auch? Im Stundentakt lassen die Akteure der Französischen Revolution ihren Gegnern die Köpfe abschlagen. Vertrauensbildende Maßnahmen sehen anders aus. Was aber bewegt den Revolutions-Chronisten Célestin Guittard in den Jahren 1791 bis 1796?

Es ist seine Rente – und die Rendezvous mit seiner deutlich jüngeren Geliebten, die er in seinem Tagebuch immer mit einem Kreuzchen markiert. Der Zeitzeuge des welthistorischen Umbruchs gehört keineswegs dem privilegierten Adel an. Nein, Guittard ist ein „Rentenbürger“.

Seinen Lebensunterhalt bestreitet er aus Tontinen, einer frühen Form der Lebensversicherung, und einer Leibrente, in deren Kapitalstock er beizeiten eingezahlt hat. Zu seinem Glück fällt dieses System nicht der Revolution zum Opfer. Stattdessen verwandeln die Revolutionäre das Instrument der Krone in eine staatliche Pension.

Doch über die gesamte Tagebuchzeit hinweg – zu Beginn seiner Aufzeichnungen ist er 66, also im besten Rentenalter – kann Guittard nie wissen, ob sein Lebenskonzept nicht von der Wurzel her bedroht ist. Schließlich gelten die verhassten Pfründe von Adel und Kirche – „leistungslose Einkommen“, wie Adam Smith die Rente charakterisierte – als Ursprung aller Ungerechtigkeiten.

Über all dem Grämen merkt Guittard bis zu seinem Tode nicht, dass ausgerechnet er ein Zukunftsmodell verkörpert. 210 Jahre später sind wir alle Célestin Guittards.

Rentenbürger – wir? Allerdings.

Man kann kaum die Zeitung aufschlagen, ohne Belege dafür zu finden, dass sich der angebliche Raubtierkapitalismus des Westens in eine höchst erfolgreiche rentenabhängige Gesellschaft verwandelt hat. Überspitzt gesagt, ist Rente immer eine Zusicherung von Geldzuflüssen, die nicht nach Leistungen aufseiten des Empfängers fragt.

Die Suche danach wird selten von Misserfolgen erschüttert. Da kollabiert etwa – endlich! – eine überflüssige Drogeriemarktkette, deren Umgang mit den Mitarbeitern an Praktiken aus dem 19. Jahrhundert erinnerte und jahrzehntelang die Gewerkschaft auf die Barrikaden trieb, und wie reagiert diese? Voller Triumph darüber, dass sich ein persönlich haftender Erzkapitalist aus dem Spiel gekegelt hat? Nein, sie schreit nach einer staatlich unterstützten „Transfergesellschaft“.

Die Öffentlichkeit nimmt es beifällig zur Kenntnis, denn den Bedürftigen am unteren Ende der Gesellschaft gönnt man solche Absicherungen; wer diese ablehnt, kann nur ein kalter, liberaler Prinzipienreiter sein.

Der Fall Schlecker kommt uns Rentenjunkies entgegen, weil er vom eigentlichen Brennpunkt ablenkt. Leistungslose Einkommen werden zwar prinzipiell von allen Schichten der Gesellschaft angestrebt, aber dort, wo sie sich in den Mantel der „sozialen Gerechtigkeit“ hüllen, lässt sich ihre Grundtendenz nicht ernstlich kritisieren.

Parteiübergreifend glauben die meisten Menschen, dass „soziale Gerechtigkeit“ dann erreicht sei, wenn stete Geldzuflüsse für jedermann an möglichst wenige Gegenbedingungen geknüpft und von möglichst wenigen Unwägbarkeiten bedroht sind. Eine Selbstständigenökonomie gilt als abschreckend, ja inhuman, während eine zementierte Arbeitsplatzgesellschaft mit Kündigungsschutz und kaum einklagbarer Leistungspflicht die Gloriole der Gerechtigkeit trägt.

Woran liegt das? Die Ursprünge dieser marktfernen Mentalität liegen noch vor der Französischen Revolution. Als in Europa das Industriezeitalter anbrach, stand dessen Akteuren ein verführerisches Vorbild vor Augen, das wenig mit Unternehmertum, aber viel mit Savoir-vivre zu tun hatte: das bequeme feudalistische Leben von Adel und Klerus.

Selbst wenn Missernten die Bodenpächter auszuhungern drohten, ließen die Grundherren den Pachtzins in seiner Höhe unangetastet. Doch Ironie der Geschichte: Das Oberschichtprivileg des leistungslosen Einkommens, das die Massen erst auf die Straße getrieben hatte, diente nach dem geglückten 1789er-Umsturz als künftige Wohlstandsverheißung: Bodenrente für alle.

Weshalb wir die Rente dem Gewinn vorziehen

Der Wunsch danach besteht bis heute fort. Und obwohl es auf der Hand liegt, dass eine solche Zusicherung immer nur einer Minderheit der Gesellschaft gegeben werden kann, streben alle Menschen der westlichen Welt vom ersten Tag ihres Erwerbslebens an danach, sich Renten zu sichern.

Dies ist keine ideologische Systemfrage nach links oder rechts, sondern ein anthropologischer Umstand: Menschen schielen nach Renten, weil dies dem Futteranfressen für den Winter gleicht. Sie streben Festanstellungen an, weil dort nach Zeit und nicht nach Leistung bezahlt wird; das entspricht der Fettschicht, von der man zehrt, wenn die eigenen Leistungen schwächer werden.

Der Begriff „Rente“ steckt schon in den Vokabeln Rentabilität und Rendite, ursprünglich beide auf Grund- und Geldbesitz bezogen. Doch interessant wird es erst bei der dritten Spielart, dem Gewinn, den wir seit Adam Smith als Entschädigung für drohende Verlustrisiken ansehen.

Gewinn ist strukturbrechend, Boden- und Zinsrente sind strukturerhaltend. Aufstiegsmöglichkeiten für alle verspricht demnach nur die kapitalistische Wirtschaftsweise, nicht die feudale, die kaum jemanden emporkommen lässt. Doch warum sollte ein vernünftiger Mensch unter hohem Verlustrisiko Gewinne anstreben, wenn er auch ungefährdet Renten beziehen kann?

Gerade die höheren Gesellschaftsschichten ziehen deshalb das Rentenmodell dem riskanten Gewinnstreben vor.

Um zu durchschauen, wie weit die Verrentung unserer Gesellschaft geht, muss man den Smith’schen Rentenbegriff heutigen Umständen anpassen. Die Urdefinition als „leistungsloses Einkommen“ setzt ja voraus, dass sich Leistung wie in Bauern- und Handwerkerepochen noch individuell zuschreiben lässt. In arbeitsteiligen, hochindustrialisierten Gesellschaften geht das nicht mehr so einfach.

Deswegen muss man Rente als Produktivitätsabschöpfung ohne Produktivitätsbeitrag begreifen. Danach drängen sich sofort die Namen einiger prominenter Rentenbürger auf: Martin Winterkorn (VW-Chef), Dieter Zetsche (Daimler-Boss), Peter Löscher (Siemens-Vorstand), um nur einige Beispiele zu nennen.

Dass sich sein persönlicher Produktivitätsbeitrag bei VW auf jährlich 17 Millionen Euro belaufe, würde nicht mal Winterkorn selbst zu behaupten wagen. Aber das braucht er auch gar nicht, denn im Rentenfeudalismus des 21. Jahrhunderts werden derartige Ansprüche nicht hinterfragt. Das macht ja gerade die Attraktivität einer Managerkarriere aus. Wer macht schon einen MBA, um Unternehmer zu werden?

Dafür, dass es in der Politik ähnlich zugeht, genügt der Verweis auf die Debatte um den „Ehrensold“ der ehemaligen Bundespräsidenten, eine übriggebliebene Traumrente der BRD-Glücksspirale.

Worauf eine Rentengesellschaft hinausläuft

Doch was ist falsch am allgemeinen Vormarsch der Rente? Existiert nicht längst ein Konsens, der da lautet: lieber Rentenfeudalismus als Raubtierkapitalismus?

Die Gerechtigkeitsfrage ist der Pferdefuß. Solange die totale Rentenwelt nicht jedermann offensteht, es also noch Insider und Outsider gibt, bleibt das Gegenteil gerechter, nämlich die für alle Gesunden und Leistungsfähigen komplett rentenlose Welt.

Es ist kein Zufall, dass eine ähnliche Debatte derzeit beim Urheberrecht geführt wird, das parallel zur Bodenrente im 18. und 19. Jahrhundert konstruiert wurde. Genau wie die Bauern sollten die Autoren aus dem von ihnen fruchtbar gemachten Boden (ihrem Werk) auch dann noch Früchte ziehen, wenn ihre Schaffens­periode längst beendet war.

Und weil der Bauer sein Land vererben kann, soll das auch der Autor dürfen – mit dem feinen Unterschied, dass die Schutzfrist des Autors 70 Jahre nach seinem Tod endet, während das Eigentumsrecht des Bauern unbefristet ist. Im Urheberrecht fordern aktuell nicht nur die Piratenpartei, sondern auch die Grünen, dass die Schutzfrist abgeschafft oder zumindest verkürzt werden müsse.

Es wäre nur konsequent, wenn dann auch Boden- und Geldrenten zurückgedrängt würden, also alle „Äcker“ regelmäßig wieder der Allgemeinheit zufallen. An ihre Stelle träte der unmittelbare Leistungstausch: Gerecht ist, wenn alle schwitzen müssen.

Da die Entwicklung der Menschheit jedoch bislang von Anstrengung zu weniger Anstrengung verlief, scheint dieser Rückschritt in die entrentete Welt wenig wahrscheinlich. Dass der moderne Rentenfeudalismus allerdings als gerechter denn der Kapitalismus empfunden wird, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Gerade die Superrenten angestellter Manager sind kein Marktphänomen, sondern das Produkt institutioneller Seilschaften, wie sie am besten in nichtkompetitiven Situationen gedeihen.

Gerechtigkeit ist ein weicher Faktor, Effizienz ein harter, und darüber droht dem System der Absturz: Ins Rentensystem transferieren sich die Misserfolge der Wirtschaft nicht, weil es die Kategorie „Misserfolg“ gar nicht kennt. So ist ein ökonomisches Perpetuum mobile entstanden, von dem wir wissen, dass es nicht existieren kann.

Wir wissen, was 1789 geschah, nachdem zu viele Pächter zu lange Hunger gelitten hatten. Rentensysteme sind Pyramidenspiele, sie kollabieren irgendwann; man kann nur versuchen, den Zeitpunkt möglichst lange hinauszuzögern. Griechenland hat vorgeführt, was aus einem blühenden Rentenparadies wird, wenn die Zuflüsse von außen versiegen, und zumindest die Finanzierung rentensüchtiger Gesellschaften über Verschuldung sollte damit diskreditiert sein. Von der kolonialen Strategie, das eigene träge Volk durch unterjochte fremde Völker zu ernähren, wollen wir ganz schweigen.

Ein Umstand spielt den emsigen Rentensuchern dennoch in die Hände: Wir leben nicht mehr im 18. Jahrhundert. Der größte Teil unseres Reichtums entspringt Maschinen, basiert also auf einer Produktivität, die vom Produktivitätsinhaber nicht selbst beansprucht wird. Wachsen die Maschinenrenten auch in Zukunft so wie in den vergangenen 150 Jahren, muss es deren Nutznießern nicht bange werden.

Freilich lauert auch hier eine Fußangel: Der immer größer werdende Bereich an maschinell nicht ausführbaren sozialen Dienstleistungen bleibt im neuen Rentenfeudalismus ökonomisch abgespalten. Er kann sich nicht verrenten, die Leistung muss täglich aufs Neue erbracht werden und lässt sich auch nicht substituieren.

Will man keine extrem gespaltene Gesellschaft riskieren – hier die Nutznießer industrieller Maschinenrenten, da die Arbeitssklaven in Pflegeheimen –, bleibt die Entkopplung von Leistung und Lohn unabdingbar: Oben müssen Superrenten gekappt, unten Armutslöhne subventioniert werden. Die Abschöpfung der kollektiven Produktivität in Form eines allgemeinen, gleichen Grundeinkommens liegt dann in Reichweite, und das Raubtier Kapitalismus streicht uns als schnurrender sozialistischer Kater um die Beine.

Wenn wir dann nach zwei, drei Stunden gemeinnütziger Zwangsdienste mittags um zwölf im Rasthaus zur ewigen Rente sitzen, wird uns ein tiefes Gefühl durchströmen, das schon den Rentenbürger Célestin Guittard in den 1790er-Jahren irritierte.

Es heißt keineswegs Erleichterung. Sondern Langeweile. 

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