
- Die Grenz-Wertegemeinschaft
Europa müsse mehr als Friedensunion und Wertegemeinschaft diskutiert werden, mahnen derzeit viele Politiker, darunter auch Günther Oettinger (CDU). Was richtig klingt, ist falsch. Hinter dem Pathos verbirgt sich Hilflosigkeit. Dabei wäre es ganz einfach, die EU zu stärken
Im Grunde konnte Günther Oettinger (CDU) mit seiner Formulierung gar nichts falsch machen. Der EU-Kommissar für Haushalt und Personal hielt in der Berliner Repräsentanz der Bertelsmann Stiftung eine Rede zum Zustand der Demokratie in Europa. Anlass dafür war insbesondere die Europawahl, die vom 23. bis 26. Mai 2019 in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union stattfinden wird. Auch weil EU-skeptische Parteien vom rechten und linken Rand bei diesen Wahlen zum Europäischen Parlament womöglich hinzugewinnen könnten, lautete der Titel der Veranstaltung „Demokratie im Stresstest“.
Als Vertreter der großen Volkspartei CDU mit ihrem Pendant, der EVP, im Europaparlament verriet Günther Oettinger dann auch sein Rezept, wie der erwartete Zuwachs jener EU-kritischen Parteien zu begrenzen sei: „Die Europawahl muss uns so wichtig sein wie die Bundestagswahl! In Deutschland sollte mehr über Europa als Friedensunion und Wertegemeinschaft diskutiert werden.“ Mina Andreeva, die bulgarische Pressesprecherin von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, griff diesen Satz sogleich auf und verbreitete ihn über ihren Twitteraccount – allerdings mit überschaubarem Erfolg.
Ein Satz, der zugleich falsch und richtig ist
„In Deutschland sollte mehr über Europa als Friedensunion und Wertegemeinschaft diskutiert werden.“ Es ist ein Satz, der richtig und falsch zugleich ist. Richtig ist der Satz, weil hoffentlich niemand in Europa in Frage stellt, wie wichtig der Zusammenschluss und die Zusammenarbeit unserer Staaten war und ist, um nach furchtbar leidvollen und tödlichen Kriegen eine Phase des Friedens zu beginnen, die hoffentlich auch für immer anhalten wird. Auch bezüglich der Werte – also der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Menschenrechte, der Demokratie, der Gleichheit und der Rechtsstaatlichkeit – findet sich hoffentlich jederzeit eine große Mehrheit, die diese hochhält.
Der Satz des EU-Kommissars ist aber deshalb falsch, weil er Ursache und Wirkung vertauscht. Zunächst geht er davon aus, dass das Friedens- und Werteprojekt EU gefährdet ist. Sei es durch den Brexit oder die rechtsstaatlichen Entwicklungen in Polen und Ungarn oder die Erfolge von Politikern wie Italiens Lega-Chef Matteo Salvini oder Heinz-Christian Strache in Österreich. Diese Auffassung mag man teilen. Diese Entwicklungen aber geschehen eben nicht, weil über Europa zu wenig als Friedensunion und Wertegemeinschaft diskutiert wird. Im Gegenteil: Sätze wie der von Oettinger verhallen inzwischen als viel zu häufig bemühte rhetorische Floskel. Ständig versuchen Politiker, damit zu mahnen – besonders in letzter Zeit. Das klingt pompös, gewichtig – und wie gesagt, es ist ja auch nicht ganz falsch.
Die EU ist auch eine Grenz-Wertegemeinschaft
Für die meisten Menschen aber sind unser Frieden und unsere Werte selbstverständlich, so banal und gefährlich es klingen mag. Das mag man als naiv geißeln. Aber sehr vielen Menschen in den Ländern der EU geht es eben nicht darum. Sie haben längst verstanden: Europa ist viel mehr als eine Friedensunion und Wertegemeinschaft. Wir sind vor allem auch eine Wirtschaftsgemeinschaft, in weiten Teilen überdies sogar seit bald zwanzig Jahren eine Währungsunion und betrachten wir insbesondere in diesen Tagen die deutsche Diesel- und Fahrverbotsdebatte, so sind wir selbstverständlich auch eine Grenz-Wertegemeinschaft.
Und die EU legt nicht nur Grenzwerte fest, sie setzt Standards vom Daten- bis zum Gesundheitsschutz, sie bestraft Monopole und Wettbewerbsverletzungen. Sie schaffte auch die ärgerlichen Roaminggebühren ab, wovon alle Reisenden profitieren. Jeder noch so kurze Schweiz-Aufenthalt kann diesbezüglich bis heute eine sekundenschnelle, finanzielle Aderlass-Erfahrung sein. Trotz aller oder vielleicht sogar auch dank aller Bürokratie hat die EU in den Jahrzehnten ihres Bestehens die Lebensbedingungen vieler Menschen verbessert. Und womöglich hat sie hie und da auch etwas verschlechtert. Zum Beispiel, indem sie einen strengen Stickstoffdioxid-Grenzwert beschlossen hat, zugleich aber zu laxe Bedingungen auf den Prüfständen einfach zuließ, was den Dieselskandal erst mit ermöglicht hat.
Der Diesel gefährdet die Demokratie
Die EU legt fest. Das klingt recht abständig. Tatsächlich aber sind es Entscheidungen, die alle Nationalstaaten, beziehungsweise ihre demokratisch gewählten Vertreter, gemeinsam treffen. Und die Auswirkungen spüren die Menschen im täglichen Leben. Positiv beim Ende des Roamings. Negativ, wenn sie mit ihrem Diesel-4-Auto etwa nicht mehr nach Stuttgart fahren dürfen. Wobei die Maßnahmen zur Einhaltung der Grenzwerte eben auch nationaler Anstrengungen bedurft hätten.
Wie durchsichtig ist es dann also, wenn Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) in dieser Debatte nicht müde wird, mitzuteilen, dass die Grenzwerte ja „in Europa“ entschieden worden seien. Genau hierin liegt das Problem, dass Oettinger mit großen Worten gerne lösen möchte. Wenn Günther Oettinger und seine Parteienfamilie samt CSU-Spitzenkandidat Manfred Weber den „Stresstest“ wirklich bestehen wollen, dann müssen Politiker auf nationaler Ebene endlich aufhören, „die EU“ verantwortlich zu machen. Denn sie selbst sind die EU. Sie selbst wussten seit Jahrzehnten von diesen Grenzwerten. Sie haben über sie entschieden. Sie haben sie mitgetragen. Und sie haben sie auf Jahre hinaus ignoriert. Sie sind also mitverantwortlich. Es ist nicht leicht, mit solchen Bashing-Gewohnheiten zu brechen. Aber wie schwerwiegend mag es erst sein, sie nicht abzulegen.
Debatten von Porto bis Pristina
Wenn die EU jenes Friedens- und Werteprojekt bleiben soll, wie es Günther Oettinger und viele andere derzeit so vollmundig beteuern, dann muss Europa endlich jenseits dessen diskutiert werden. Und zwar dort, wo die EU das tägliche Leben der Menschen eben sehr viel maßgeblicher beeinflusst als die Frage nach Krieg oder Frieden – so gefährlich naiv das zunächst auch erscheinen mag, gerade wenn Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung in Gefahr geraten. Dazu darf auch nicht geschwiegen werden. Aber wir brauchen endlich eine gesamteuropäische Öffentlichkeit, in der jene anderen gemeinsamen Themen wie etwa die Zukunft von Rente, Pflege und Sozialstaat, diskutiert werden – von Porto bis vielleicht sogar bald Pristina. Wenn etwa Macron Vorschläge macht, dann braucht es zumindest eine Antwort, auch wenn sie anders ausfallen sollte, als er sich wünscht. Das ist eine Aufgabe, die nicht nur Politiker, sondern auch Journalisten sehr viel stärker wahrnehmen müssten.
Das wird vielleicht nicht pompös und auch nicht glanzvoll. Das wird anstrengend. Aber nur dann kann die EU bestehen und sich zum Wohle aller weiterentwickeln. In Deutschland und in allen anderen Staaten sollte deshalb über Europa also ein bisschen weniger als Friedensunion und Wertegemeinschaft diskutiert werden – und viel mehr darüber, wer in der EU warum täglich wie und über was entscheidet. Und damit sollten wir uns beeilen. Denn die Welt wartet nicht mehr auf Europa.