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Mischung aus Esoterik und Etikettenschwindel: Naturwein /dpa

Hype um „Naturwein" - Wein ist alles andere als ein Naturprodukt

Die selbst ernannte Gourmet-Avantgarde hat den Naturwein für sich entdeckt. Was so verheißungsvoll ursprünglich klingt, ist eine Mischung aus Esoterik und Etikettenschwindel. Ungenießbar ist das beschworene Produkt noch dazu.

Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Es war so eine Art Pilgerfahrt. Weit über tausend Wein-Hipster aus allen Teilen Deutschlands  drängelten sich am 29. November durch eine überfüllte Kreuzberger Markthalle, um an 122 Ständen Weine aus 16 Ländern zu probieren. Aber nicht etwa irgendwelche Weine, sondern solche, die von „Authentizität“, „Emotion“ und „lebendiger Präsenz“ geprägt seien, wie es der Veranstalter rawfair ankündigt.

Es geht um „Naturwein“, derzeit das Lieblingsthema der selbst ernannten Gourmet-Avantgarde, die sich nach dem allmählichen Verglimmen der Molekularküche und der Ankunft in Plastik verschweißter veganer Lebensmittel in den Discounter-Regalen ein neues Spielfeld suchen muss. Naturwein klingt gut und befriedigt die Sehnsucht nach dem Natürlichen, Ursprünglichen und Unverfälschten als Gegenpol zur konventionellen, technisierten Weinproduktion. Naturwein suggeriert ferner eine gewisse Exklusivität, da es sich derzeit um eine (allerdings rasant wachsende) Marktnische handelt, und die Weine entsprechend selten und teuer sind.

Doch was da als Avantgarde inszeniert wird, ist im Kern eine Mischung aus Pseudo-Esoterik („authentischer Wein entsteht quasi von alleine“) und Etikettenschwindel. Wein ist alles andere als ein „Naturprodukt“. Die rund 10.000-jährige Geschichte des Weinbaus ist durchgehend von menschlichen Eingriffen geprägt. Das betrifft sowohl die Anlage der Weinberge, die Selektionierung, Klonung und Kreuzung der Reben als auch die Weinbereitung von der Pressung über die Vergärung bis hin zur Reifung und Abfüllung.

Bei guten Winzern längst Standard
 

Von den ursprünglichen Weinreben ist in Europa seit der Reblaus-Plage gegen Ende des 19. Jahrhunderts so gut wie nichts übrig geblieben. Seitdem basiert der europäische Weinbau auf Stecklingen, die auf reblausresistente Unterlagsreben aufgepfropft werden. Naturwein? Bio-Winzer ersetzen konventionelle Pflanzenschutzmittel unter anderem durch Kupferpräparate.

Ohnehin wird dieses gesetzlich nicht definierte Label schwammig gehalten. Beim derzeit global wichtigsten Promoter rawfair beschränkt man sich auf biologische Bewirtschaftung, Hand- statt Maschinenlese, Verzicht auf Fremdhefen bei der Vergärung, den Verzicht auf einige (bei weitem nicht alle) Zusatzstoffe und technische Methoden zur Konzentration. Nichts Besonderes also, sondern bei vielen guten Winzern längst Standard. Der Rest sind Kann-Bestimmungen. Es darf also filtriert, geklärt und geschönt werden, der Most darf vor der Vergärung aufgezuckert und zur Haltbarmachung darf auch Schwefel verwendet werden, wenn auch nur in geringeren Mengen als gesetzlich erlaubt.

Doch an der Spitze der „Naturweinbewegung“ steht eine Art Hardcore-Fraktion bei der Weißweinbereitung. Die gequetschten Trauben werden ungepresst vergoren, es wird nicht filtriert und kein Schwefel zur Klärung und Haltbarmachung eingesetzt. Dernier Cri ist dabei die Reifung der Weine in Ton-Amphoren, die im Weingut eingegraben werden, eine Methode, die bereits vor vielen tausend Jahren besonders in Georgien recht verbreitet war. Auch Beton-Eier sind auf dem Vormarsch. Die Rede ist dann von „Orange Wines“, was sich auf die Farbe dieser oftmals stark oxidierten Weine bezieht.

Geschmacklich ungenießbar
 

Natürlich gibt es auch in diesem Segment einige ausgesprochen spannende Erzeugnisse, die in der Tat den Geschmackshorizont erweitern und ein vollkommen neues Weinerlebnis bescheren. Sie werden von guten, ernsthaften Winzern gemacht, die sich teilweise seit vielen Jahren mit den biochemischen Prozessen bei dieser Art der Weinbereitung beschäftigen und Wege gefunden haben, Fehltöne zu vermeiden. Diese Winzer brauchen keine neue PR-Sau, die durchs Weindorf getrieben wird. 

Doch die meisten Naturweine, denen man derzeit begegnet, sind eigentlich ungenießbar. Sie schmecken wie verdorbener Fruchtsaft oder abgestandener Sherry und weisen mitunter ausgesprochen faulige Aromen auf. Spontane, unkontrollierte Vergärung, Oxidation sowie der Verzicht auf Klärung, Filtration und Schwefelzugabe zur Haltbarmachung fordern ihren Tribut. Die Weine sind geschmackliche Zeitbomben.

Den Wein-Hipster scheint das nicht zu stören. Als Natur- oder Orange-Weinkonsument hebt er sich von der Masse ab, sieht sich im Einklang mit der Natur und als Vorreiter einer Rückbesinnung auf den vermeintlich eigentlichen Geschmack des Weines. Befeuert wird der Hype von einschlägigen Lifestyle-Magazinen und der internationalen Spitzengastronomie, deren Karten sich allmählich mit Naturweinen füllen. Vor allem deswegen springen immer mehr Winzer auf den Zug auf.

Für den Weinpublizisten Manfred Klimek ist der Naturwein „der Veganismus der Alkoholtrinker“. In seinem Blog thewineparty schreibt er: „Orange- und Naturweine, das waren immer die ‚Ich-bin-dagegen-Weine‘, die Weine der Skeptiker, die Weine der Impfgegner, die Weine der Besserwisser, die Weine, der von Schuld geplagten Bürgerlichen, die Weine jener, die dringend ein Distinktionsmerkmal suchen, weil sie nichts Besonderes haben, und sich besonders sehen wollen.“

Pose statt Radikalität
 

Der Begriff der Avantgarde, den die Naturweinprotagonisten für sich reklamieren, wird dabei in sein Gegenteil verkehrt: Regression statt Fortschritt, Anpassung statt Provokation, Dogmatismus statt Offenheit, Pose statt Radikalität. In einer Überfluss- und Überdrussgesellschaft ist dieses Kulturphänomen des Öfteren zu beobachten, besonders in hippen Metropolen wie Berlin.

Exakt zwei Wochen vor der rawfair okkupierten drei Australier im Rahmen des Berliner Jazzfestes die Empore der ausverkauften Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, um auf der imposanten Schuke-Orgel mit ihren 5.000 Pfeifen und 256 Registern eine geschlagene Stunde lang lediglich schmierige und manchmal unangenehm zirpende Cluster übereinander zu türmen, ergänzt durch allerlei spontanes Gezischel und Gebrumme. Das Trio „The Necks“ wird für derartige Darbietungen in Avantgarde-Kreisen seit einiger Zeit als Vorreiter einer neuen „freien“ Musik gefeiert, die einem beinharten (Geschäfts-)Prinzip folgt: keine Kompositionen, keine Absprachen, einfach raus und spielen, egal womit, egal wo. Wohl selten ist eine große Kirchenorgel so sinnfrei und würdelos behandelt worden.

Eigentlich wäre das der ideale Soundtrack für die rawfair gewesen. Oder auch andersrum: Warum gab es keinen Naturwein-Stand bei dem Konzert? Auch die Avantgarde sollte Synergieeffekte nutzen.

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