Streifzug durch die lettische Gesangstradition: der Rigaer Jugendchor BALSIS / Geert Maciejewski/Usedomer Musikfestival

Musikgenuss auf Usedom - Viele Stimmen – ein Gedanke

Unser Genusskolumnist hat das Usedomer Musikfestival besucht. Und hat dort vor allem ein paar Eindrücke von der vielfältigen lettischen Musikkultur gewonnen.

Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Wenn das Wetter mitspielt, kann die Ostseeinsel Usedom im Spätsommer ein wunderschöner Ort sein. Die Sommerferiensaison ist zwar vorbei, aber noch immer genießen viele Besucher vor allem in den Kaiserbädern Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck die kilometerlange Strandpromenade und auch das wald- und seenreiche Hinterland. Es geht entspannt zu, denn schon lange wird auf der Insel nicht mehr in erster Linie auf Massentourismus gesetzt, sondern auf gehobenes Urlaubsgeschehen.

Die Ostsee als gemeinsamer Kulturraum

Dazu passt eine Veranstaltungsreihe, die seit nunmehr 30 Jahren stets in dieser Jahreszeit den kulturellen Höhepunkt des Insellebens markiert und inzwischen auch darüber hinaus eine gewisse Strahlkraft entwickelt hat. Das Usedomer Musikfestival ist eben keine genreübliche Touristenbespaßung, sondern ein sehr ambitioniertes, anspruchsvolles Projekt.

Es versteht sich als kulturelles Forum der zehn Anrainerstaaten des Baltisches Meeres, also der Ostsee. Zehn Staaten mit sehr unterschiedlichen historischen und kulturellen Hintergründen, für die die geografische Lage eine gemeinsame Klammer und eine gemeinsame Verantwortung darstellt. Und Usedom ist als Zweistaateninsel mit einem deutschen und einem polnischen Teil und einer Grenze, die kaum noch wahrnehmbar ist, als Standort für so ein Festival natürlich prädestiniert.

Kernstück des Konzepts ist die Präsentation jeweils eines Landes als Mittelpunkt des Festivals. Einen weiteren Schwerpunkt bilden bedeutende Komponisten aus diesem Kulturraum in ihren runden Geburtsjahren. In diesem Jahr drehte sich (fast) alles um Lettland, und gewürdigt wurde der russische Komponist Sergej Rachmaninow, der vor 150 Jahren geboren wurde.

Kein Kulturkampf gegen „alles Russische“

Womit wir beim „weißen Elefanten“ wären, der durch das Festival marschiert. Denn natürlich hat der russische Überfall auf die Ukraine auch die Koordinaten dieses Projektes verändert. In einigen Ländern auch des baltischen Raums ist ein regelrechter Kulturkampf gegen „alles Russische“ entbrannt, der auch vor den großen Schriftstellern und Komponisten nicht haltmacht – bis hin zur Verbannung von Büchern aus Bibliotheken und Aufführungsverboten für russische Musik. Auch russische Künstler haben vielerorts Auftrittsverbot – ungeachtet ihrer Haltung zu dem Krieg.

Für die Festivalmacher ist das ein schmaler Grat. Natürlich gibt es derzeit keine offiziellen Kontakte zu russischen Kulturinstitutionen, aber einem wie immer gearteten Boykott russischer Werke und russischer Künstler schließt man sich keinesfalls an. Das Usedomer Musikfestival soll als umfassendes Forum der Kultur aller Anrainerstaaten erhalten bleiben, auch als kleines Flämmchen für die Ideale der Völkerverständigung und des Friedens in dieser Region.

Wenn der Strand zur Konzertarena wird

Eingerahmt wird das dreiwöchige Festival, das am heutigen Sonnabend endet, von zwei großen sinfonischen Konzerten im Kraftwerk des Museums Peenemünde, einer beeindruckenden Konzertstätte, die 1200 Besucher fasst. Dazwischen wurde die ganze Insel mit beeindruckender Vielfalt bespielt: in Jugendstilvillen, kleinen und größeren Kirchen, Schlössern, Hotelsälen, Galerien oder auch einem temporären Konzertpavillon mitten am Ahlbecker Strand.

 

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Gerade letzteres war ein ganz besonderes Erlebnis. Man schaut durch die transparenten Wände auf das Meer und die Zugvögel, die ihre ersten Formationsübungen für den großen Trip nach Süden machen, während auf der Bühne eine beeindruckende Stimmgewalt namens Katrina Dimanta mit ihrem Trio hochenergetische Interpretationen lettischer Volkslieder darbietet.

Ein Land der Sänger mit großer Geschichte

Einen etwa tieferen Blick in das Wesen der lettischen Musiktradition bot das Konzert des renommierten Rigaer Jugendchors BALSIS in der evangelische Kirche St. Marien in der Stadt Usedom. Ein hervorragend ausgebildeter Chor mit klaren, präzisen Stimmen, dessen junge Mitglieder mit erkennbarer Hingabe und Begeisterung einen Streifzug durch die lettische Gesangstradition darboten, die seit 1873 in einem alle fünf Jahre veranstalteten Liederfest gipfelt. In diesem Jahr beteiligten sich daran in Riga rund 1700 Chöre, Tanzensembles, Orchester und Volkskunstgruppen mit insgesamt 45.000 Mitwirkenden, gefeiert von bis zu 300.000 Besuchern. 1873 erklang dort erstmals das von Karlis Baumanis geschriebene Lied „Dievs, sveti Latviju“ (Gott, segne Lettland), das bei der Proklamation der lettischen Republik am 18.November 1918 zur Nationalhymne erklärt wurde.

In kaum einem Land hat das gemeinschaftliche Singen einen so hohen Stellenwert wie in Lettland. Die lettische Liedkultur und die eigene Sprache wurden zum Motor des Nationalbewusstseins nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft. Seit dem 13. Jahrhundert waren das heutige Lettland und auch die baltischen Nachbarn Litauen und Estland ein Spielball europäischer Mächte, angefangen vom Deutschen Orden und gefolgt von Schweden, Polen und Russland.

Der große Sprung im 19. Jahrhundert

Neben der Volks- hat auch die protestantische Kirchenmusik eine wichtige Rolle bei der kulturellen Emanzipation gespielt. Doch der große Sprung kam im 19. Jahrhundert, als sich das lettische Musikleben professionalisierte, etwa durch Komponisten wie Jāzeps Vītols, der in St. Petersburg unter anderem bei Nikolai Rimsky-Korsakow studierte, nach der ersten Unabhängigkeit des Landes nach Lettland zurückkehrte und dort wenig später das erste Konservatorium gründete und als wichtigster lettischer Nationalkomponist gilt. Denn Lettland mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern ist eben nicht nur eine von drei Provinzen des Baltikums, sondern ein Staat mit eigener Sprache, eigener Geschichte und eigener Kultur und entsprechend erheblichen Unterschieden zu Estland und Litauen.

Ein Festival als Bote für eine friedlichere Zeit

Das alles geht einem durch den Kopf, wenn man die Eindrücke von diesem wunderbaren Chorkonzert und anderen Veranstaltungen dieses Festivals verarbeitet. Nein, die Ostsee ist derzeit kein „Meer des Friedens“ und der friedlichen Kooperation aller Anrainerstaaten. Und wenn man an den wunderschönen Stränden von Usedom entlangspaziert – gerne auch mal auf der polnischen Seite, wo es sensationell gute Räucherfischbrötchen gibt –, vergisst man auch nicht, dass hier einer der großen Nebenschauplätze des Krieges in der Ukraine ist, wie nicht nur die Sprengung der Nordstream-Pipeline vor gut einem Jahr auf bedrückende Weise demonstrierte.

Doch die Atmosphäre dieses Festivals macht auch ein bisschen Hoffnung auf bessere, friedlichere Zeiten, auch im Verhältnis zu Russland. Denn alle Mitarbeiter und Künstler hier wüssten „sehr wohl zwischen Putin und Puschkin zu unterscheiden“, formuliert es Festival-Dramaturg Jan Brachmann im Gespräch.  

Davon zeugt auch das Abschlusskonzert am heutigen Sonnabend. Das NDR Elbphilharmonie-Orchester spielt Werke des Letten Jazeps Vitols, des Russen Sergej Rachmaninow und des Finnen Jean Sibelius. Und am Pult steht der russische Dirigent Vasily Petrenko, der den leider erkrankten finnischen Kollegen Mikko Franck kurzfristig ersetzt. Und das sollte – auch und gerade in der heutigen Zeit – vollkommen normal sein.

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