Deutsche Hexenmeister - Schule der Ambivalenz und des Hintersinns

Schon lange vor "Doktor Faustus" thematisierte Thomas Mann die bedenklichen Aspekte der Musik

Thomas Mann gilt als der musikbesessenste Autor der Weltliteratur. Seine Formulierungskunst erreicht den Gipfel, wenn er Musikverläufe beschreibt. Gerade unter professionellen Musikern gab es allerdings immer wieder deutliche Widerstände gegen seine Äußerungen über die Musik. Wie passt das zusammen?

Musik, vor allem die romantische, ist für diesen Autor «Seelenzauber» – allerdings mit womöglich finste­ren Konsequenzen. Der argumentative Clou des «Doktor Faustus» besteht darin, dass Deutschland nicht «im Wi­derspruch» zu seiner hohen Musikkultur den Weg in die nationalsozialistische Barbarei gegangen sei, sondern geradezu in Berufung auf sie. Und dies nicht bloß deshalb, weil Adolf Hitler ein fanatischer Musikliebhaber und Wagnerianer war.

Wer vom «Dritten Reich» und seiner Vorgeschichte sprechen will, der darf über die Musik also nicht schweigen. Das hören Musiker nicht so gern. Die Berechtigung dieser Perspektive macht Hans Rudolf Vaget, einer der profundesten Thomas-Mann-Kenner, in den fünfzehn Untersuchungen seines Buches «Thomas Mann und die Musik» jedoch sehr plausibel – es gehört zweifellos zum Besten, Kenntnisreichsten, was zu diesem Thema bisher erschienen ist.

Vaget zeichnet nach, wie sich in Deutschland die Musik seit etwa 1800 an die Spitze der Künste setzte. Sie wurde zur nationalen Leitkultur. Deutsch sein hieß, zum Volk von Bach, Beethoven und Richard Wagner zu gehö­ren. Zugleich herrschte seit der Romantik die Überzeugung, dass die deutsche Musik wie nichts anderes die «deutsche Seele» auszudrücken vermöge.

Imperialistisches Bewusstsein braucht Kulturleistungen, die das hegemoniale Streben rechtfertigen. Nichts eignete sich dazu so gut wie der so genannte «Siegeszug» der deutschen Musik in aller Welt. Hier hatte Deutschland tatsächlich eine anerkannte Vorrangstellung, die selbst den Unmusikalischsten mit patriotischem Stolz erfüllte. So durchdrang bei allem Idealismus eine «potenziell aggressive Mentalität» das ganze deutsche Musikleben, vom bescheidensten Hausmusiker über die Gesangs­vereine und die Männerchor-Bewegung bis zur Musikwissenschaft.

Thomas Mann hatte selbst eine ganze Menge zur deutschen Musik-Idolatrie beigetragen, bevor er sie schließ­lich im «Doktor Faustus» kritisch thematisierte. Ein Kerngedanke seiner während des Ersten Weltkriegs verfassten «Betrachtungen eines Unpolitischen» ist es, dass Deutschland sich aufgrund seiner musikzentrierten Kultur vom Westen unterscheide und deshalb im Krieg seine Eigenart zu verteidigen habe. Mit entschlossenem Enthusiasmus reagierte er 1917 auf Hans Pfitzners Oper «Palestrina» – parsifaleske Spätestromantik, die ihm den deutschen Führungsanspruch in musicis endlich wieder zu bestätigen schien. Für diesen Anspruch stand ihm ansonsten sein Lieblingskomponist Richard Wagner ein. Der hatte ihm einen Begriff vom «welterobernden Künstlertum» gegeben: «Der Erdball ist, fünfzig Jahre nach des Meisters Tode, allabendlich in diese Musik eingehüllt.»


Es hilft nichts, man muss erst Wagnerianer sein

Lange herrschte Berührungsscheu vor dem Thema «Thomas Mann und Wagner». Zum einen wegen der ideologi­schen Kontaminationen; zum anderen war der Wagneris­mus ein Hemmnis, wenn es darum ging, Thomas Mann der Moderne zuzuordnen. Denn für viele repräsentierte Richard Wagner das tiefste, bedenklichste 19. Jahrhundert: Schwulst, musikalischen Pomp, nationalistische Lind­würmer und teutsche Recken. Man denke an die satirische «Lohengrin»-Darstellung in Bruder Heinrich Manns Roman «Der Untertan».

Thomas Mann allerdings unterschied seit je die Bühnentheatralik Wagners vom eigentlichen, inneren Dra­ma. Diese introspektive Seite war ihm der «wahre Wagner», den man «schließlich doch für sich hat». Die Verinnerlichung des Erzählens, die für die Entwicklung der modernen Literatur kennzeichnend ist, wurde entscheidend durch diese Qualitäten des Wagner-Werks angeregt – gipfelnd in der Technik des Inneren Monologs beim Wagnerianer James Joyce. Es gibt also durchaus progressive Anknüpfungspunkte. Mit Nietzsche gesagt: «Wagner resümiert die Modernität. Es hilft nichts, man muss erst Wagnerianer sein …»


Musik gefährdet Ihre Gesundheit

Wagner-Musik erklingt an den zentralen Umbruchstellen der Mann’schen Romane und Erzählungen. Sie ist für die lebensschwachen Gestalten des Frühwerks ein beglückendes Aufputschmittel, sie birgt ein Flucht- und Befrei­ungspotenzial. Und sie verführt zum Tode. Ob in «Der klei­ne Herr Friedemann», in «Tristan» oder «Buddenbrooks» – wenn Wagner gespielt wird, sind Willenslähmung, Auflösung und Ende meist nah.

«Kann das Leben verkürzen und unberechenbare Schübe verdrängter Gefühle reaktivieren» – derartige Warnhin­weise müssten demnach eigentlich auf jedem «Tristan»-Ticket stehen. Der Aufklärer Settembrini äußert im «Zauberberg» den Generaleinwand gegen die Musik, sie sei in ihrer Wirkung «den Opiaten» vergleichbar. Im Zeichen von Nietzsches Wagner-Kritik hat Thomas Mann von Anfang an, vor allen politischen Implikationen des Themas, eine Verdachtskultur gegenüber der Musik entwickelt. Sein eigenes Musik-Erleben stilisierte er gelegentlich in diesem Sinn, wenn er etwa in einem Brief schrieb, eigent­lich sei es gut, dass er eine Bayreuth-Karte habe verfallen lassen: «Ich bin gerade der Kunst Richard Wagners gegenüber völlig wehrlos und könnte sicher vierzehn Tage nach dem ‹Parsifal› keinen Strich tun.» Das sind erstaunliche und nicht sehr glaubhafte Worte bei einem Autor, dem der häufige Musikgenuss doch ganz im Gegenteil Lebens­elixier und eine unendliche Quelle der Anregung für die literarische Arbeit war.


Leitmotive als «treibende Haltestellen»

Er mache «so viel Musik, als man ohne Musik füglich machen kann», meinte er einmal. Sein Ehrgeiz war es, «gute Partituren» zu schaffen. Wagners Motiv-Technik wurde ihm dabei zum Modell. Mag das Leitmotiv als Mittel der äußerlichen Charakterisierung oft statisch und stereotypi­sierend wirken – gerade in seiner Wagner’schen Form des Anspielungsgewebes schafft es eine prozesshafte Dynami­sierung des Zeiterlebens, weil es ständig Zukünftiges und Vergangenes mit einbezieht, das über das aktuelle Bewusst­sein der Figuren hinausweist. Die Passagen der Reflexion und der Motivbündelung sind – mit einer schönen Formu­lierung Ernst Blochs – die «treibenden Haltestellen» im musikdramatischen Geschehen.

Dieses Kompositions-Verfahren hat Thomas Mann übernommen, darin vor allem besteht die «Musik» seines Erzählens. Wagners kommentierende Orchestersprache war für ihn eine Schule der Ambivalenz und des Hintersinns. Darüber hinaus gibt es zahlreiche inhaltliche Wagner-Bezüge. Die «Buddenbrooks» etwa sind eine Nachbildung des «Ring des Nibelungen», eine Travestierung der mythischen Vorlage ins Bürgerliche. Das erste Buch ist angelehnt an «Rheingold»: Hier die Inbesitznahme der Walhall-Burg durch die Götterfamilie, dort die des weitläufi­gen Mengstraßen-Hauses in Lübeck durch die Buddenbrooks. Risse zeichnen sich ab: Hier verlangen die Riesen den Lohn für ihre Bauleistung, dort will Gotthold Buddenbrook wirtschaftlich entschädigt werden. Immer geht es um Gold und Geld.

«Lohengrin», ein Erlebnis fürs Leben

Es gehörte zu den programmatischen Pflichtübungen des realistischen Romans, sich mit Spott gegen das Illusionsspektakel der Oper zu wenden und ihr die theatralische Luft herauszulassen. Auch Thomas Mann gibt in seinen Opernbeschreibungen das Geschehen auf der Bühne gern der Lächerlichkeit preis. Da mag der Sänger des Siegfried «ein rosiger Mann mit brotfarbenem Bart» sein und ein x-beiniger Hunding «mit Büffelaugen» ins Publikum blicken. Der Zauber des «inneren Dramas» aber bleibt davon unberührt.

Auch bei Flaubert, Tolstoj oder Henry James werden die Opernbesuche als gesellschaftliche Rituale geschildert. Es geht dabei weniger um Musik als um heiratsfähige junge Damen und die Demonstration gesellschaftlicher Arriviertheit. Soziale Signale werden mit dem Opernglas studiert. Das ist auch in Manns Opernbeschrei­bungen so, zugleich gibt es jedoch eine gegenläufige Bewegung nach innen: «Stunden tiefen, einsamen Glücks inmitten der Theatermenge», die Thomas Mann immer wieder beschworen hat.

Die Musik-Passion wurde ihm von der Mutter vermittelt. Julia Mann «war neben einem geläufigen Klavier­spiel eine volle metallene Mezzosopranstimme eigen, und damit beglückte sie einst ihre Jungens», schrieb der mit den Manns befreundete Journalist Ludwig Ewers. Der siebzehnjährige Thomas Mann erfuhr dann seine musikalische Initiation im Lübecker Stadttheater: «Lohengrin», ein Erlebnis fürs Leben.

Zeitlebens besuchte er regelmäßig Konzerte und Opernaufführungen und gönnte sich selige Stunden einsamer Ausschweifung am Plattenspieler. James Meisel, sein Sekretär in Princeton, hat den Ausdruck der musikalischen Hingabe im Gesicht des Schriftstellers überliefert: «Es ist ein Erlebnis zuzusehen, wie er den Schallplatten von ‹Tris­tan› und ‹Götterdämmerung› lauscht. Ein seltsames Sichgehenlassen zieht langsam über das sonst so beherrschte Gesicht: weich, milde, leidend und begeistert.»


Der Plattenspieler, er lebe hoch!

Begonnen hatte es im Jahr 1920, mit einem erstklassigen Grammofon, das er eines Tages im «Villino» vorfand, seinem Starnberger Arbeitsrefugium zu Zeiten des Kinderreichtums. Hingerissen ließ Thomas Mann es spielen und beschloss sogleich, den Zauberkasten für den «Zauberberg» fruchtbar zu machen. Bald sollte auch Hans Castorp vor einer «Polyhymnia» knien und seine Lieblingsplatten auflegen. Die von ihm immer wieder gehörten Arien aus «Aida» und «Carmen» sind Rollenprojektionen, subtile Spiegelungen seiner eigenen Situation zwischen dem präpotenten Peeperkorn, dem wackeren Vetter Ziemßen und der betörenden Clawdia Chauchat.

Thomas-Mann-Spezialisten lieben das Musikkapitel des «Zauberberg». In den Werken dieses Autors ist die moderne Lebenswelt sonst ja eher schwach vertreten – keine demokratischen Massen, kein Großstadtgetriebe. Aber immerhin der Plattenspieler! Zeitlebens hatte Thomas Mann das Bedürfnis, sein Musik-Erleben durch Expertenwissen abzusichern, indem er sich mit musikalischen Mentoren umgab. Sein vielleicht einziger wirklicher Freund, der Münchner Nachbar Bruno Walter, war einer der großen Dirigenten der Epoche. Wenn der Generalmusikdirektor in der Hofkutsche abgeholt wurde, saß der Schriftsteller oft mit darin. In der Oper standen ihm und seiner Familie dann die für den Dirigenten reservierten Plätze zur Verfügung. Der Allmachtstraum seiner Kindheit, ein «Dirigent» zu sein (in der Novelle «Der Bajazzo» wird die Dirigentenphantasie humoristisch dargestellt), wurde so zumindest beinahe wahr. In der unmittelbaren Nähe Bruno Walters konnte er am «Herrscherglück» des Dirigenten partizipieren.

Knappertsbusch hilft, Thomas Mann zu vertreiben

Allerdings erlebte er auch hautnah den fatalen Zusam­men­hang von Musik und Politik in den völkisch-antisemi­tischen Anfeindungen gegen Bruno Walter: «Die Pflege der Münchner Wagner-Tradition in den Händen eines Juden!» – so der Tenor. «Artfremde Interpretation» wurde dem Dirigenten vorgeworfen. Unter erheblicher Mitwirkung der Nazis und wohl auch Hitlers persönlich wurde Walter schließlich weggeekelt. 1923 reichte er das Abschiedsgesuch ein. Später schrieb die völkische Presse über die Dirigenten-Vertreibung: Sie sei ein «Sieg» gewesen, «der zum ersten Male in Deutschland die Riesenmacht des Judentums zu Boden zwang».

Die wagnerianische Leitkultur wurde für den Nationalsozialismus zum Einfallstor in die bildungsbürgerlichen Kreise. Thomas Manns großer Essay «Leiden und Größe Richard Wagners» war der Versuch, ein artistisches, dekadenzpsychologisches und kosmopolitisches Wagner-Bild gegen den bayreuth-offiziellen Wagnerianismus durch­zusetzen, der den Komponisten zunehmend als «Schutzherrn einer höhlenbärenmäßigen Deutschtümelei» in Anspruch nahm.

Es genügten bereits Reizworte wie «Dilettantis­mus», um das Wagner-Establishment aufschäumen zu lassen. Im März 1933 kam es dann zu jenem «Protest der Richard-Wagner-Stadt München», in dem Thomas Mann vorgeworfen wurde, «wertbeständige deutsche Geistesriesen» in den Schmutz zu ziehen. Initiiert wurde das Ganze vom Bruno-Walter-Nachfolger Hans Knappertsbusch, unterschrieben hatten unter anderem Hans Pfitzner und Richard Strauss. Es waren an erster Stelle nicht die Nazi-Behörden, es war das Kulturbürgertum Münchens, das Thomas Mann (ausgerechnet im Zeichen Wagners!) aus Deutschland vertrieb. Die Nazis kommentierten mit hämischer Freude den «Volkswillen». Diese «nationale Exkommunikation» war eine traumatische Kränkung, die größte, die dem Schriftsteller von Seiten der deutschen Öffentlichkeit je widerfuhr – und wie die Geschehnisse um Bruno Walter ein wichtiger Antrieb für den «Doktor Faustus», den Roman über den Zusammenhang von Politik und Musik.


Furtwängler, Vorreiter der «Inneren Emigration»

Mehr als jede andere Kunst diente die Musik der kulturellen Verbrämung der Nazi-Herrschaft. Die Bayreuther Festspiele waren ein Schaufenster des «Dritten Reichs». Für Reputation sorgten die in alle Weltteile übertragenen Furtwängler-Konzerte. Auch der Emigrant Thomas Mann hing da am Radio, nicht ohne Zerknirschung: «Man hätte nicht zuhören sollen, dem Schwindel nicht sein Ohr leihen», notierte er nach einer «Lohengrin»-Übertragung 1936 im Tagebuch. Wilhelm Furtwängler war für ihn das bedeutendste Beispiel für einen Musiker, der glaubte, er könne seine Kultur im politischen Vakuum pflegen. Auch dessen spezifisch deutscher Musik-Hochmut ist verbürgt, wenn er etwa die Auffassung vertrat, «eine wirkliche Sinfonie» sei «von Nicht-Deutschen überhaupt nie geschrieben worden».

Hans Rudolf Vaget plädiert dafür, nicht immer den mediokren Schriftsteller Frank Thiess in der Debatte um die «Innere Emigration» als Antipoden Thomas Manns zu bemühen – sondern Furtwängler als den «emblematischen Protagonisten» aller im Land Gebliebenen. Ungeachtet seiner inneren Widerstände gegen das Regime identifizierte sich der Dirigent mit dem kämpfenden und «tragisch» untergehenden Deutschland. Allerdings half er auch Verfolgten – und er hielt Kontakt zu Thomas Manns jüdischen Schwiegereltern; die aus ihrem Münchner Palais gewiesenen Eltern Pringsheim besuchte er um die Jahreswende 1937/38. Der «süße Willi» sei neulich «geschlagene zweieinhalb Stunden» da gewesen, berichtete Hedwig Pringsheim an ihre Tochter Katia in Zürich. Thomas Mann blieb jedoch misstrauisch. Als Furtwängler bei seinem ersten Berliner Nachkriegskonzert im Mai 1947 eine Viertelstunde lang Standing Ovations bekam, verstand er dies als politische Demons­tration der Unbelehrbaren.

Leverkühn beendet das «Ende der Musik»

«Kann Adrian Leverkühns Schicksal, kann das Leben und der Zusammenbruch eines unselig-genialen, paralysekranken Komponisten in irgendeiner zwingenden oder plausiblen Weise den Zusammenbruch von Hitler-Deutsch­land repräsentieren?» So fragte der Musikkritiker Joachim Kaiser, und er fragte es so, dass die Antwort klar erschien: Nein!

Freilich besteht keine allegorische Analogie zwischen Leverkühn und dem nationalsozialistischen Deutsch­land. Die Kategorie, mit der sich das Verhältnis von Musik und Geschichte im Roman angemessen erfassen lässt, ist für Hans Rudolf Vaget vielmehr die «Antizipation». So weist es auf die tota­litären Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft voraus, wenn Leverkühn das «Unthematische aus einer Kom­position zu eliminieren» suche und das Ideal «vollkommener Organisation» des musikalischen Materials anstrebe. «Antizipation» bedeutet für Vaget, dass die kollektive Anfälligkeit für den Na­tio­nalsozia­lismus vorgezeichnet ist in den Kultur-Erzeugnissen der vorausgehenden Epoche – der «mentalitätsgeschichtli­chen Inkubationszeit».

In diesem Sinn geht es im «Doktor Faustus» um die tiefe Krise der deutschen Musik in der Post-Wagner-Ära. «Finis musicae» – dieses Schlagwort, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Runde machte, drückte die Sorge aus, es könnte die große deutsche Musiktradition an ihr Ende gelangt sein. Wann und wie sollte je wieder ein Innovationsschub von der Größenordnung des «Tristan» möglich sein?


Arnold Schönbergs faustische Hybris

Mit dem Durchbruch in neue Formenwelten geht es in Manns Musiker-Roman auch darum, die Weltgeltung zu sichern, und sei es mit dämonischen Mitteln. Adrian Leverkühn strebt die «Führerschaft» in der Musik an, die welt­erobernde Genietat. Er will die «lähmenden Schwierigkei­ten der Zeit durchbrechen» und der «Zukunft den Marsch schlagen». Thomas Mann hat Schönberg in diesem Punkt besser verstanden als sein musikalischer Berater Theodor Adorno, für den die objektiven Tendenzen des «musikali­schen Materials» ausschlaggebend waren. Schön­berg aber hatte ganz im Leverkühn’schen Sinn mit gewissermaßen faustischer Hybris über das Komponieren im Zwölftonsystem formuliert: «Ich habe eine Entdeckung gemacht, durch welche die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert ist.» So wenig sich ein Leverkühn mit den proto-faschistischen Diskursen des Münchner Geisteslebens gemein macht – der Tonset­zer ist ein Meister aus Deutschland, der am musikalischen Su­perioritätsideal nicht nur teilhat, sondern es verkörpert.

Im Jahr 1948, beim Wiederhören der Schluss-Szene des «Rheingold», notierte Thomas Mann: «Gebe für diese Stelle allein die ganze Musik Schönbergs, Bergs, Kreneks und Leverkühns dahin.» Kein Wunder, dass dem Roman eine gewisse Unaufrichtigkeit vorgehalten wurde – Thomas Mann ließ Leverkühn Musik komponieren, die von seinen eigenen Hör-Vorlieben abwich! Solche Einwände sind merkwürdig: Wer käme auf die Idee, die Darstellung des medizinischen Betriebs im «Zauberberg» mit Thomas Manns eigenen Behandlungswünschen abzugleichen oder die vielen anderen Wissensbestände, die er in seinen Romanen verarbeitete, nach persönlichen Glaub­würdigkeitskriterien zu bemessen?

Nein, er hörte die Zwölftonmusik nicht gern, aber er hatte Sinn für ihre ästhetischen Problemstellungen,
ihre intellektuellen Reize – und ihre literarische Ergiebigkeit. Dabei ließ er sich von Adorno auf die Sprünge hel­fen, was einigen Passagen des Romans einen starken Drive in Richtung «Negative Dialektik» gibt, die dem Mann’schen Musikverständnis sonst eher fremd blieb. Das Kretzschmar-Kapitel über Beethovens Klaviersonate Opus 111 war das erste, das von Adorno beeinflusst wurde, und Joachim Kaiser wies ihm bei allem Lob der Mann’schen Musikbeschreibungskunst sachliche Fehler nach. Die Gescheitheiten seines «Geheimen Rats» mochten Thomas Mann selbst manchmal etwas fragwürdig erscheinen. Da­rauf deutet jedenfalls die Art hin, wie er Adorno schließlich in den Roman hineinportraitierte – als Verkörperung des Teufels, «ein Intelligenzler, der selbst komponiert, soweit eben das Denken es ihm erlaubt». Eine maliziöse Formulierung, die eine sehr empfindliche Stelle Adornos traf: seine hinter den eigenen Erwartungen zurückbleibenden Kompositionen.

Hans Rudolf Vagets Modell der «Antizipation» ist triftig, soll bisweilen aber wohl auch konzeptionelle Risse des «Doktor Faustus» verdecken. Leverkühn und Nazi-Deutschland suchen beide den Pakt mit dem Teufel, aber Leverkühn ist eben alles andere als ein wagnerianischer Faschist. Er ist ein Komponist, der unter Hitler zweifellos als «Kulturbolschewist» verfemt worden wäre; das bringt selbst klügste Interpreten in Erklärungsnöte. Thomas Manns Parallelisierung von Musik- und Deutschland-Roman bleibt problematisch – und gerade deshalb weiterhin interessant, weil sie nie in restlos stimmiger Interpretation aufgehen wird.


Wolfgang Schneider lebt als freier Kritiker in Berlin. Über Thomas Mann schrieb er das Buch «Lebensfreundlichkeit und Pessimismus. Thomas Manns Figurendarstellung».

 

Hans Rudolf Vaget
Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2006. 512 S., 22,90 €

Volker Mertens
Groß ist das Geheimnis. Thomas Mann und die Musik
Mit einer Audio-CD.
Militzke, Leipzig 2006. 288 S., 39,90 €

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