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Lucie Suchá

NSU-Theaterstück - Die Stimmen der Toten

In einem Stück des Berliner Dokumentartheaters spielen Jugendliche die Geschichte des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ nach

Autoreninfo

Christophe Braun hat Philosophie in Mainz und St Andrews studiert.

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„Deutschland den Deutschen – Ausländer raus! Deutschland den Deutschen – Ausländer raus! Deutschland den … “ Ohrenbetäubend dröhnt das Gebrüll aus vierzehn Kehlen durch den Gemeindesaal der Evangelischen Kirchengemeinde Plötzensee in Berlin-Charlottenburg. Mit heiseren Stimmen, die Gesichter wutverzerrte Fratzen, schleudern die Jugendlichen ihren Hass in die Welt.  

Zwei schlaksige Jungen brüllen besonders laut. Sie tragen Bomberjacken und Springerstiefel, sie heißen beide Uwe. Als ein Mädchen die „Scheiß-Asylanten“ beschimpft, feixen sie zustimmend.

Etwas abseits der grölenden Gruppe sitzt ein Mädchen – dunkles, glattes Haar, schmaler Mund, intelligente Augen. Gelassen beobachtet sie die anderen. Ein höhnisches Grinsen umspielt ihre Mundwinkel. Beate ist stiller als die anderen. Aber ihre Ruhe wirkt ungleich aggressiver als deren heiseres Geschrei.

Uwe, Uwe, Beate. Allerweltsnamen. Eigentlich. Aber in dieser speziellen Kombination: Drei Namen, die untrennbar verbunden sind mit den Namen der zehn Menschen, die Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zwischen 2000 und 2007 mutmaßlich ermordet haben.

Die Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ beschäftigen die Republik seit November 2011, als die rechtsterroristischen Umtriebe der Gruppe bekannt wurden, als Böhnhardt und Mundlos sich infolge eines gescheiterten Banküberfalls das Leben nahmen und Zschäpe sich der Polizei stellte.

Wie werden drei junge Menschen zu kaltblütigen Mördern? In dem nächste Woche beginnenden Prozess gegen Zschäpe und weitere mutmaßliche Mitwisser soll diese Frage beantwortet werden. Aber weil zwei von drei Kernmitgliedern des „NSU“ inzwischen tot sind, werden viele Fragen wohl dauerhaft unbeantwortet bleiben.

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Ganz anders im Gemeindesaal in Charlottenburg: Hier sind Böhnhardt und Mundlos lebendig – und reden. Denn hier stehen nicht die Neonazi-Verbrecher, sondern Schauspieler auf der Bühne: Junge Menschen aus dem bürgerlichen Stadtteil im Westen Berlins, die sich in einer szenischen Collage mit den Verbrechen des „NSU“ auseinandersetzen. So verleiht die Kunst den Toten eine Stimme – und sucht nach Antworten mit Mitteln, die dem Münchner Strafprozess nicht zur Verfügung stehen.

An diesem Samstagnachmittag findet die erste große Probe statt. Dialoge werden wiederholt, Bewegungsabläufe einstudiert, Missverständnisse ausgeräumt. Die Darsteller – größtenteils Laien, unterstützt von ein paar professionellen Theaterleuten – laufen, ihre Texte murmelnd, auf und ab oder probieren an ihren Kostümen herum; einige stehen Kaffee trinkend im Hintergrund. Die Stimmung schwankt zwischen Ciquentreff und Sozialkundeunterricht. Auf einem Poster an der Wand wirbt der Bibelkreis um neue Mitglieder.

[gallery:Nazis vor Gericht]

In der Mitte des großen, kühlen Gemeindesaals steht Marina Schbarth, die von allen „Maritschka“ genannt wird, und dirigiert die Schauspieler. Auf den ersten Blick wirkt die aus Russland stammende Regisseurin zierlich und unscheinbar. Aber sobald sie mit energischer Stimme Anweisungen gibt, hört alles auf ihr Kommando. Im Hintergrund sitzt ihre Kollegin Judith Rahner an einem MacBook und spielt Toneffekte ein. Zusammen leiten die beiden seit einigen Jahren das „Berliner Dokumentartheater“.

Rahner, studierte Erziehungswissenschaftlerin, arbeitet ehrenamtlich im Jugendclub der Plötzensee-Gemeinde. Fast alle Jugendlichen hier hätten einen Migrationshintergrund, erzählt die engagierte Pädagogin. Hauptberuflich ist sie als Bildungsreferentin bei der Amadeu-Antonio-Stiftung beschäftigt. Der Impuls zu „Akte/NSU“ sei von einem mazedonischen Mädchen gekommen: „Sie hat gesagt: Das hätte auch meinem Vater passieren können. Da haben wir gewusst, wir müssen was machen.“

Aus den Gesprächen im Jugendclub entwickelten Rahner und Schbarth die szenische Collage. Am kommenden Freitag soll das Stück, in dem die Geschichte des Terror-Trios nachgezeichnet wird, erstmals aufgeführt werden.

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Inzwischen ist die Probe vorangeschritten. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sitzen am Tisch, vor ihnen das selbst gebastelte Brettspiel „Pogromly“ – eine Monopoly-Variante, bei der die Straßen und Hotels durch Konzentrationslager ersetzt werden. „Wir sollten eine richtig geile Aktion anzetteln“, sagt Zschäpe. „So wie damals in Rostock-Lichtenhagen.“ Die beiden Uwes sind begeistert: „Die schießen wir nach Hause!“ „Das sind meine Jungs!“, lacht Zschäpe: „Wir schaffen wieder national befreite Zonen! Böni besorgt die Waffen!“

„Pogromly“, das Nazi-Monopoly, hat es wirklich gegeben. Eine Weile hat der „NSU“ sich über den Vertrieb des Brettspiels finanziert. Auch die meisten im Stück verwendeten Zitate sind echt. Dazu hat Rahner ordnerweise Akten gewälzt. Aber nicht alles ist authentisch; die oben geschilderte Szene mit dem Pogromly-Spiel zum Beispiel ist fiktiv.

Es gehe nicht in erster Linie darum, den Werdegang der drei Neonazis nachzuerzählen, erläutert Rahner. Stattdessen solle deutlich werden, dass Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Deutschland keine gesellschaftlichen Randphänomene mehr seien. Im Gegenteil: Spätestens mit Thilo Sarrazins umstrittenem Buch „Deutschland schafft sich ab“ seien rassistische Thesen wieder „salonfähig“ geworden.

Was meint Rahner mit „salonfähigem Rassismus“? Sie erzählt von einem Jungen, der eine Praktikumsstelle nicht bekam, weil die Personalleute des Unternehmens befürchteten, seine dunkle Hautfarbe könnte die Kunden verstören. Perfiderweise seien sie dabei der Überzeugung gewesen, im besten Interesse des Jungen zu handeln.

Kalt ist es geworden im Gemeindesaal. Die Probe ist fast zu Ende. Marina Schbart steht allein in der Mitte des Saals und liest aus der Rede, die Semiya Simsek, Tochter des ersten „NSU“-Opfers, auf der offiziellen Trauerfeier für die Opfer des „NSU“ gehalten hat. Sie liest langsam, jedes Wort sorgfältig artikulierend:

„In diesem Land geboren, aufgewachsen und fest verwurzelt, quäle ich mich mit der Frage: Bin ich in Deutschland zuhause?“ 

Ganz still ist es jetzt.

Die Probe ist vorbei.

Die Werkstattaufführung von „Akte/NSU“ findet am kommenden Freitag, 12. April, um 19 Uhr im Gemeindesaal der Evangelischen Kirchengemeinde Plötzensee in Berlin-Charlottenburg statt. Der Eintritt ist frei.

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