Linkspartei in der Krise - „Wenn nur noch die Wohlhabenden wählen gehen, ist das keine Demokratie mehr“

Ukraine-Krieg, Energiekrise, Inflation und soziale Verwerfungen: Im Interview spricht Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht über das Linkssein, ihre Vorstellungen von vernünftiger Politik und darüber, ob sie eine eigene Partei gründen wird.

Sahra Wagenknecht bei einer Wahlkampfveranstaltung in Bonn im September 2021 / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Sahra Wagenknecht ist Politikerin und Autorin. Sie sitzt für die Partei Die Linke im Deutschen Bundestag. Das Gespräch fand im November 2022 statt. 

Frau Wagenknecht, als Einstieg in unser Gespräch möchte ich Sie um eine kurze Definition bitten: Was ist aus Ihrer Sicht politisch „links“? 

Links heißt für mich, sich in erster Linie für die zu engagieren, die aus keiner wohlhabenden Familie kommen und auch heute noch sehr viel schlechtere Bildungs- und Aufstiegschancen haben; für Menschen, die sich mit harter, in der Regel wenig inspirierender Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Links heißt natürlich auch, sich um eine produktive, innovative Wirtschaft zu kümmern. Aber das Kernanliegen ist, dass alle ihren gerechten Anteil erhalten und niemand in Armut leben muss. Außenpolitisch bedeutet links für mich, für Frieden, die diplomatische Lösung von Konflikten und globale Abrüstung einzutreten.  

Wie bewerten Sie vor dem Hintergrund dieser Definition die bisherige politische Arbeit der Ampelregierung? Denn da sitzen ja immerhin zwei Parteien drin, die sich wohl mehr oder weniger als links bezeichnen würden. 

Na ja, die ist typisch für das, was heutzutage unter „links“ verstanden wird. Ich finde die Cannabis-Legalisierung nicht falsch, mit dem sogenannten Selbstbestimmungsgesetz“ habe ich große Probleme. Aber entscheidend ist: In sozialer Hinsicht macht die Ampel das genaue Gegenteil klassisch linker Politik. Die sozialen Probleme in unserem Land verschärfen sich. Die Explosion der Energiekosten trifft die Ärmeren am schlimmsten, aber sie zerstört auch unseren Mittelstand. Außenpolitisch setzt die Ampel stur auf die militärische Karte. Es gibt überhaupt keine Bemühungen um Friedensgespräche und eine diplomatische Lösung. So trägt man dazu bei, dass der Ukraine-Krieg immer mehr eskaliert. 

Darüber sprechen wir gleich. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es einige Menschen, die sich wohl als „links“ bezeichnen würden und die Grünen wählen. Sind diese Menschen also gar nicht links? Oder sind die Grünen nur besonders gut darin, den linken Schein zu wahren? 

Gerade die Grünen sind eben das, was man heutzutage unter „links“ versteht. Das ist dann mehr so ein Lebensgefühl: Ich fahre Lastenfahrrad oder E-Auto und kaufe im Bioladen. Ich will das gar nicht herabsetzen. Ich kaufe auch ab und an im Bioladen. Und es ist im allseitigen Interesse, wenn Leute in der Innenstadt für kurze Wege nicht ihr Auto benutzen. Aber das Problem ist, dass sich viele aus diesem Milieu wegen ihres Lebensstils für die besseren Menschen halten. Sie sehen herab auf Leute, die zum Beispiel im ländlichen Raum überhaupt keine Alternative zum Auto haben oder sich weder E-Auto noch Bioprodukte leisten können. Das Problem ist der missionarische Erziehungseifer, mit dem man anderen vorschreiben will, wie sie zu leben haben. Wenn sich dieser Ansatz mit politischer Macht verbindet, wird es gefährlich.

Vor wenigen Tagen haben Sie den Grünen vorgeworfen, die „gefährlichste Partei im Bundestag“ zu sein. Warum sind denn die Grünen gefährlicher als die AfD? 

Ich habe gesagt „gemessen an dem Schaden, den sie anrichten“. Die AfD kann nur reden. Die Grünen besetzen Schlüsselressorts in der Regierung. Habeck hat entschieden, zum Jahresende auch noch den Kauf von russischem Öl zu beenden, ohne bezahlbare Alternative. Die Grünen sind besonders realitätsfremd und ignorieren die Probleme, die vielen Menschen zur Zeit den Schlaf rauben. Sie vertreten ein wohlhabendes, großstädtisches Akademikermilieu, in dem die Ansicht populär sein mag, dass nur teure Energie gute Energie ist. Auch Frau Baerbock halte ich als Außenministerin für eine Fehlbesetzung.

Inwiefern? 

Ihre naive Moralisierung von Außenpolitik hat das Zeug, uns in einen großen Krieg hineinzutreiben. Die Aufgabe wäre doch jetzt, dass Deutschland gemeinsam mit Frankreich und anderen europäischen Ländern zu Friedensgesprächen aufruft, dazu, den bisherigen Weg zu verlassen, immer mehr Waffen zu liefern und zuzuschauen, wie der Krieg eskaliert. Europa muss die USA unter Druck setzen, indem man die bedingungslose Gefolgschaft aufkündigt. Denn wenn der Krieg sich ausweitet, werden vor allem wir betroffen sein. Man kann sich moralisch aufblasen und zu den „Guten“ zählen, weil man den allseits verhassten Putin mit militärischer Stärke bekämpft. Aber am Ende sitzt Putin am Atomknopf, und er wird sich aus der Ukraine nicht mal eben so zurückziehen, ohne alle Möglichkeiten, die er militärisch hat, ausgereizt zu haben. Es darauf ankommen zu lassen, halte ich für verantwortungslos. 

Sie sprachen gerade das geplante Selbstbestimmungsgesetz an: Was stört Sie daran? 

Ich halte es für hochproblematisch, sehr jungen Menschen in der ohnehin schwierigen Phase der Pubertät fast schon nahezulegen, in einem Geschlechterwechsel die Lösung ihrer Probleme zu suchen. Viele junge Frauen hadern zu Recht mit der sozialen Geschlechterrolle, mit den geringeren Verdienst- und Aufstiegschancen, die sie im Vergleich zu Männern heute immer noch haben. Aber wir sollten sie nicht motivieren, deshalb ihr biologisches Geschlecht zu verändern.

In Großbritannien gibt es inzwischen Klagen gegen Ärzte, die entsprechende Operationen bei jungen Menschen durchgeführt haben. Die Patienten haben diese Eingriffe später schwer bereut. Auch die Idee, dass jeder durch einen Eintrag beim Amt mal eben sein Geschlecht ändern kann und Männer dadurch Zugang zum Frauensport, zu Frauenhäusern oder Frauengefängnissen bekommen könnten, halte ich für gefährlich. Es gibt nun einmal zwei Geschlechter. Wer die biologischen Unterschiede leugnet, erweist dem Anliegen der Gleichberechtigung einen Bärendienst.

Das heißt, das Selbstbestimmungsgesetz wäre jetzt kein linkes Vorhaben?  

Nein. Ich halte die ganze Gender-Diskussion für maßlos überzogen. In den seltenen Fällen, in denen reife, erwachsene Menschen sich tatsächlich im falschen Körper fühlen, muss ihnen geholfen werden, und niemand darf deshalb diskriminiert werden. Aber man sollte aufhören so zu tun, als wäre das ein Massenphänomen. Schon gar nicht sollte die Politik den Weg bereiten, dass immer mehr junge Leute Pubertätsblocker nehmen oder irreversible operative Eingriffe an ihrem Körper durchführen lassen. 

Wären dann, um ein anderes Beispiel zu nennen, zumindest die Entlastungspakete der Bundesregierung linke Politik? Die politisch Verantwortlichen sagen ja, die Entlastungspakete würden doch zeigen, dass man die Sorgen der Bürger ernstnimmt. 

Das ist, als wenn ein Brandstifter ein ganzes Dorf anzündet, dann hilft, ein Haus zu löschen, und dafür als großer Feuerwehrmann gefeiert werden möchte. Nicht Putins Krieg, sondern die in der Folge beschlossenen Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind der Grund dafür, dass die Energiepreise explodieren. Und zwar besonders in Deutschland, weil andere westliche Länder die Sanktionen umgehen oder von ihnen kaum getroffen werden. Gas ist zur Zeit in Deutschland achtmal so teuer wie in den USA. Und ein Zuschuss hier, eine Erleichterung dort, das federt die riesigen Mehrkosten doch nicht ab. Ich habe Gespräche mit Handwerkern, Bäckern und Landwirten geführt, die trotz der Entlastungspakete um ihre Existenz fürchten müssen. 
 

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Wie erklären Sie sich denn, dass Sie im Jahr 2022 massiven Gegenwind erhalten, wenn Sie sagen, wir müssen zuerst darauf schauen, dass es den Menschen im Land gut geht? 

Ja, das ist eine seltsame Debatte. Es war früher eine Selbstverständlichkeit, dass eine Regierung in erster Linie dafür zu sorgen hat, dass es der eigenen Bevölkerung gut geht. Wenn man das heute ausspricht, wird man verdächtigt, ein Nationalist zu sein. Das zeigt einfach nur, dass wir verlernt haben, vernünftige Diskussionen zu führen. Wir erleben eine emotionale und moralische Aufladung von Debatten, die unserer Demokratie nicht guttut. 

Aber ist die „internationale Solidarität“ nicht ein ur-linkes Anliegen? 

Ich bin für internationale Solidarität. Das, was Deutschland zurzeit macht, hat damit aber wenig zu tun. Wir haben den Gaspreis zusätzlich hochgetrieben, weil wir, um die Gasspeicher zu füllen, zu irren Preisen eingekauft haben. Ärmere Länder hatten da keine Chance mitzuhalten. Die Sanktionen gegen Getreide und Dünger aus Russland tragen dazu bei, dass die Weizenpreise steigen und der Hunger in der Dritten Welt wächst. Die Rechtfertigung dieser Politik mit einer hehren Moral ist also auch noch ziemlich verlogen. Sie sagen etwa, dass man bei einem Diktator und Kriegsverbrecher wie Putin kein Öl und Gas kaufen darf. Gleichzeitig reisen Scholz und Habeck zu den islamistischen Diktatoren und Kriegsverbrechern im Nahen Osten, um dort – wesentlich teurer! – Energie zu kaufen. Das ist das Problem jeder Gesinnungsethik: Man bedenkt die Folgen nicht. Am Ende ist der Schaden riesengroß, nur dass meistens nicht die Verursacher darunter leiden, die sich stattdessen als besonders gute Menschen fühlen.

Energiekrise und Inflation, während der Corona-Pandemie haben wir einen übergriffigen Staat erlebt. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. In München, wo ich lebe, findet ein normaler Arbeiter eigentlich keine Wohnung mehr, die er bezahlen könnte. Das sind alles unschöne Entwicklungen. Gleichwohl sind die Zeiten doch eigentlich prädestiniert für linke Politik – und damit insbesondere auch für eine Partei, die sich selbst Die Linke nennt, oder? 

Ich denke, dass eine glaubwürdige Partei für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein sehr großes Potenzial hätte. Es gibt viele Menschen, das zeigen die Umfragen, die sich von den vorhandenen Parteien nicht mehr vertreten fühlen. Die Linke war einmal eine glaubwürdige politische Kraft. Da hatten wir zweistellige Bundestagswahlergebnisse, selbst 2017 waren es noch über 9 Prozent. Diese Wähler hat man mit der inhaltlichen Umorientierung der letzten Jahre mehr und mehr vertrieben. 

Erleben wir derzeit also den Anfang vom Ende der Linkspartei

Eine Partei, die immer wieder miese Ergebnisse einfährt, sollte sich fragen, was sie falsch macht. In der Linken dagegen macht die Führungsmannschaft jedes Mal irgendwelche externen Ursachen verantwortlich. Es gab eigentlich nie eine selbstkritische Debatte, ob die Wahlniederlagen nicht irgendwas mit dem Führungspersonal und der aktuellen Ausrichtung der Partei zu tun haben könnten. Das ist schon ein Trauerspiel: Wenn die Menschen sich eine andere Politik wünschen, profitiert davon aktuell nur die AfD. Wir sehen das auch in anderen Ländern: Wenn es keine vernünftige Politik und keine seriöse Opposition mehr gibt, übernimmt die Rechte. Eigentlich stehen Parteien, die sich demokratisch nennen, in der Verantwortung, das zu verhindern. 

Wie sehr fürchten Sie einen Rechtsruck? Deutschland ist ja nicht Italien oder Schweden. Hierzulande ist die AfD weitgehend isoliert vom restlichen politischen System. 

Ich glaube auch nicht, dass die AfD kurz vor der Machtübernahme steht. Aber es macht unsere Gesellschaft sicher nicht zu einem besseren Ort, wenn eine Partei, die in ihren Reihen Rechtsextremisten und Nazis duldet, immer stärker wird. Vor allem aber ist es ein Problem für die Demokratie, wenn sich immer mehr Menschen gar nicht vertreten fühlen und daher bei Wahlen zu Hause bleiben. Darüber wird viel zu wenig diskutiert. Wir haben ja nicht nur steigende AfD-Ergebnisse. Wir haben auch einen starken Trend zur Wahlabstinenz, und zwar gerade bei jenen, denen es nicht gut geht. Man kann von der Wahlbeteiligung eines Wohngebietes heute zuverlässig auf das Durchschnittseinkommen schließen. Die Ärmeren gehen nicht mehr zur Wahl, weil sie merken, dass keine Partei ihre Interessen vertritt. Doch eine Demokratie, in der irgendwann nur noch die Wohlhabenden wählen, ist keine mehr. 

Wie groß wäre in dem Zusammenhang das Wählerpotenzial der Die Linke? Und warum ist sie partout nicht in der Lage, dieses abzurufen? 

Beim Wählerpotenzial kann ich mich nur auf Umfragen stützen. Es gab vor kurzem eine von INSA, wonach eine Partei mit einem Profil wie dem, wofür ich werbe, aktuell ein Wählerpotenzial von 30 Prozent hätte und ziemlich sicher von etwa 10 Prozent der Wahlberechtigten gewählt würde. Ich glaube, dass sich ganz viele Menschen eine politische Kraft wünschen, die die Ampel unter Druck setzen kann, ihre Politik zu verändern. Als die Linke relativ stark war, hat sie die reale Politik verändert. Die SPD hat in der Folge eine Reihe sozialer Korrekturen vorgenommen. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie unser Land in ein oder zwei Jahren aussehen wird, wenn die Ampel mit ihrer derzeitigen Politik nicht gestoppt wird.

Sie gehören nach wie vor zu den populärsten Politikerinnen in Deutschland. Gleichwohl, las ich, soll es nach ihrer jüngsten Rede im Bundestag zu einer „Austrittswelle“ bei ihrer Partei gekommen sein. Welchen Anteil haben Sie persönlich am desolaten Zustand Ihrer Partei? 

Richtig ist: In den letzten Wochen sind besonders viele Menschen aus der Linken ausgetreten. Bei mir haben sich allerdings viele gemeldet, die das deshalb getan haben, weil die Parteispitze sich derart von den Inhalten meiner Rede distanziert hat. Tatsächlich habe ich wohl noch nie auf eine Bundestagsrede so viel positive Resonanz aus der Bevölkerung bekommen. Nun mag es natürlich auch Mitglieder gegeben haben, die wegen mir ausgetreten sind. Aber die reinen Austritte sagen über die Ursachen nichts aus. Man muss außerdem wissen: In dem Zeitraum ist die Entscheidung gefällt worden, dass die Linke das bedingungslose Grundeinkommen unterstützt. Auch das dürfte zu den Austritten beigetragen haben. 

Sind Sie gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen? 

Ja. Ich finde, jeder Mensch sollte das Recht haben und die Möglichkeit, mit einer guten Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wer unschuldig arbeitslos wird, muss durch eine ordentliche Arbeitslosenversicherung abgesichert werden, die sich am letzten Einkommen orientiert und so lange gezahlt wird, wie derjenige trotz aller Bemühungen keine angemessene Arbeit findet. Das bedingungslose Grundeinkommen kann nie das Level einer soliden Arbeitslosenversicherung erreichen, weil das nicht finanzierbar wäre. Es kann bestenfalls eine Leistung auf Armutsniveau sein, aber trotzdem ist es sehr teuer, weil es eben jeder bekommen soll.

Bekanntermaßen sind Sie sehr streitlustig. Jetzt sagen Sie, dass Sie für ihre Ansichten sehr viel positive Resonanz bekommen. Aber gleichzeitig bekommen Sie auch sehr viel negative Resonanz. Manche Kritiker schimpfen Sie eine „Putin-Versteherin“. Außerdem wird Ihnen vorgeworfen, auch Zustimmung aus Teilen der AfD zu erhalten. Gibt Ihnen das nicht zu denken? 

Das zeigt eher, dass viele nicht mehr in der Lage sind, sachlich zu diskutieren. Ich verurteile diesen Krieg, ich finde ihn verbrecherisch. Aber ich werbe dafür, ihn auf dem Weg der Diplomatie zu beenden, um weitere Eskalation zu vermeiden. Dass man für solche Positionen heute als „Putin-Versteher“ oder „Kreml-Propagandist“ diffamiert wird, zeigt, wie niveaulos unsere Debatten geworden sind. Und zum Beifall der AfD: Wollen wir wirklich zum Referenzpunkt der Diskussion machen, was die AfD meint? Also wenn die AfD sagt, der Himmel ist blau, dann müssen alle behaupten, er sei gelb, weil sie sonst „Beifall von der falschen Seite“ bekommen könnten? Das hat schon in der Flüchtlingskrise nicht funktioniert, als niemand mehr die Probleme der Zuwanderung thematisieren durfte, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, ein „Rassist“ zu sein. Also hatte die AfD ein Alleinstellungsmerkmal, das sie in den Bundestag getragen hat.
 

Podcast: Autorin Eva Engelken über Queer- und Transaktivismus


Wer sich von Ihrer Partei nicht mehr vertreten fühlt, ist beispielsweise der Schriftsteller Christian Baron. Wir hatten ihn neulich im Interview. Baron verordnet sich klar links und ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Er sagt: „Es braucht eine neue linkspopuläre Kraft in Deutschland.“ Wenn ich Sie bisher richtig verstanden habe, würden Sie ihm zustimmen? 

Ja. Und ich schätze ihn sehr, auch als Schriftsteller. Er hat großartige Bücher geschrieben. Das eine handelt von seinem Vater, das andere von seinen Großvätern, Menschen, die unter Verhältnissen leben mussten, von denen man in der wohlstandsverwöhnten grünen Blase keine Vorstellung hat, und die in ihrer Härte und dem täglichen Überlebenskampf natürlich prägen. Baron schildert die Enge und Zwänge des Lebens ganz unten und was das mit den Betroffenen macht. Es ist eben leichter, ein fröhlicher, netter Mensch zu sein, wenn man wohlbehütet und umsorgt im Wohlstand aufgewachsen ist. Heutzutage wird auf diese Menschen oft genug herabgesehen, sie werden verächtlich gemacht. Dagegen schreibt Baron in seinen Büchern an. Ich finde das sehr wichtig. 

Stichwort „neue linkspopuläre Kraft“, die Baron fordert: Sie haben vor vier Jahren versucht, mit „aufstehen“ eine neue linke Sammelbewegung zu gründen. Warum ist das Vorhaben gescheitert? 

Ich war damals Fraktionsvorsitzende und wollte keine neue Partei gründen. Deshalb sollte „aufstehen“ eine Bewegung werden, die die linken Parteien, speziell die Linke und die SPD, in ihrer Ausrichtung verändert. Wir wollten die Führung beider Parteien wachrütteln, wieder die Menschen zu vertreten, für die diese Parteien mal gegründet worden waren. Wir haben mit diesem Anliegen 170.000 Menschen angesprochen, hatten aber überhaupt keine Struktur, keine Organisation. Bei den Parteien wiederum ist „aufstehen“ auf taube Ohren gestoßen und auch deshalb letztlich gescheitert. 

Dann wäre ein logischer Schritt doch, nicht eine Sammelbewegung, sondern direkt eine neue Partei zu gründen. Laut Umfragen könnte sich jeder Zehnte vorstellen, eine „Liste Sahra Wagenknecht“ zu wählen. 

Da stellen sich aber ähnliche Probleme wie bei „aufstehen“. Wenn eine neue Partei entsteht, bei der dann viele Menschen mitmachen wollen, kommen nicht nur ehrliche, redliche und engagierte Mitstreiter, sondern auch solche, die den anderen das Leben schwer machen, die destruktiv wirken und womöglich ganz andere Ansichten und Absichten haben. Im schlechtesten Fall führt das dann in eine Richtung, die mit dem ursprünglichen Projekt nichts mehr zu tun hat. So wie das ja bei der AfD und leider auch bei der Linken geschehen ist. 

Ich formuliere es anders: Haben Sie vor, eine eigene Partei zu gründen? 

Ich bin Mitglied der Linken, aber ich sehe den Bedarf einer glaubwürdigen Partei für Frieden und soziale Gerechtigkeit. 

Gönnen Sie unseren Lesern dennoch ein Gedankenspiel: Was müsste drinstehen im Grundsatzprogramm einer neuen linken Partei? Wie müsste die ausgerichtet sein? 

Ich glaube, dass es eine Partei braucht, die einerseits für die klassischen sozialen Themen steht: gute Löhne, soziale Sicherheit, ein gutes Rentenniveau. Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, im Alter arm sind. Aber sie sollte auch für eine Wirtschaft mit starkem Mittelstand und fairem Wettbewerb eintreten und für Meinungspluralismus und Toleranz. Auch der Platz eines vernünftigen Liberalismus ist ja im politischen Raum verwaist. Mit ihrer Energiepolitik wie schon mit der Corona-Politik zerstört die Regierung vor allem kleinere und mittlere Betriebe, während die Großen Marktanteile dazugewinnen. Mit einer fairen Marktwirtschaft hat unsere Wirtschaftsordnung immer weniger zu tun.

Selbst ein moderner Konservatismus im Sinne der Bewahrung von Zusammenhalt stiftenden gemeinsamen Werten und Traditionen hat heute im politischen Spektrum keine wirkliche Adresse mehr. Kurzfristig allerdings geht es nicht um große programmatische Entwürfe, sondern darum, zu verhindern, dass wichtige Branchen unserer Wirtschaft nachhaltig zerstört werden. Die Politik sollte begreifen, dass preiswerte Energie eine Existenzbedingung unserer im Vergleich zu anderen Ländern relativ hohen industriellen Wertschöpfung ist. Außerdem müssten wir in der Außenpolitik wieder auf Diplomatie und Verständigung setzen und die Scheinmoral beenden. Wenn es lauter lupenreine Demokratien gäbe, von denen wir unsere Energie und unsere Rohstoffe beziehen könnten, wäre das wunderbar. Aber das ist eben nicht der Fall. 

Dann fasse ich abschließend kurz zusammen: Es geht Ihnen weniger um „links“ oder „rechts“, sondern im Prinzip um einen gesunden Pragmatismus. 

Ich glaube, dass viele Menschen mit der Einordnung in „links“ und „rechts“ immer weniger anfangen können. Es geht mir um eine Politik im Interesse der großen Mehrheit der Menschen in unserem Land. Dafür brauchen wir eine Wirtschaft, die innovativ und produktiv ist, was funktionierenden Wettbewerb voraussetzt. Zugleich brauchen wir Gesetze, die die Schwachen schützen, und natürlich auch solche, die verhindern, dass wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstören.

Aber das erreichen wir nicht, indem wir mit hohen Umweltauflagen unsere heimische Produktion killen und dann Produkte importieren, die unter viel problematischeren Bedingungen produziert wurden. Die Grünen sind ja auch in ihrer Klima- und Umweltpolitik verlogen und richten selbst da größeren Schaden an als die Vorgängerregierungen. Denken Sie an das Wiederanwerfen der Kohlekraftwerke, den großflächigen Einkauf von Fracking-Gas oder die LNG-Terminals vor der deutschen Küste, die Habeck von der Resterampe gekauft hat und die woanders wegen der hohen Chlor-Belastung des Wassers nicht mehr eingesetzt werden durften.

Das Gespräch führte Ben Krischke. 

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