Islamkritiker Hamed Abdel-Samad - „Der politische Islam gedeiht im Schatten linker Identitätspolitik“

Mit dem politischen Islam kehrt das Mittelalter nach Europa zurück, sagt der Politologe Hamed Abdel-Samad. Islamisten würden immer einflussreicher – weil die Politik ihre Organisationen subventioniert und salonfähig macht.

„Aufhören ist keine Option“: Der Politologe Hamed Abdel-Samad / dpa
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Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Hamed Abdel-Samad wuchs in Ägypten auf, als Student war er Mitglied der Muslimbruderschaft. Mittlerweile ist der Autor und Politologe einer der prominentesten Kritiker des politischen Islam. Für seine Kritik zahlt er einen hohen Preis: Seit ein ägyptischer Geistlicher 2013 im Fernsehen dazu aufrief, ihn zu ermorden, braucht er in Deutschland Polizeischutz. Jüngst ist sein neues Buch „Islam. Eine kritische Geschichte“ (dtv, 320 Seiten, 24 Euro) erschienen.

Herr Abdel-Samad, Sie leben seit ein paar Jahren im Libanon. Wie Sie sagen, weil Sie dort nicht auf der Straße angefeindet werden und offenere Debatten über Islamismus erleben. Jetzt sind Sie für die Promotion Ihres neuen Buches wieder in Deutschland – wie nehmen Sie die Debattenkultur als von außerhalb Kommender wahr?

Gerade war ich wieder mittendrin in den Untiefen der deutschen Debattenkultur. Ich habe vor ein paar Tagen in Berlin aus meinem neuen Buch vorgelesen, als 20 junge, offensichtlich islamistisch eingestellte Muslime aus dem Publikum aufstanden und mich beschimpften. Sie zerrissen mein Buch – wortwörtlich – und meinten, ich sei krank und würde den Westen dazu aufrufen, den Islam zu vernichten, was natürlich Unsinn ist. Aber diese Leute glauben, was sie glauben wollen, und blocken alle Argumente ab, die ihrem Weltbild widersprechen. Als ich Ihnen widersprechen wollte, verließen sie dementsprechend den Saal. Sie haben die Aktion gefilmt und sich später in den sozialen Medien dafür als Helden feiern lassen.

Das heißt ja, sie haben nur für diese Aktion Eintritt bezahlt.

Und der war nicht billig! 16 Euro pro Karte! Ich bin solche Aktionen gewohnt. Oft kommt eine Gruppe junger Männer, verteilt sich im Saal, um den Eindruck zu erwecken, sie seien getrennt gekommen. Und dann fangen sie an, mich zu beleidigen und ihre Macht zu demonstrieren. Ich gehe davon aus, dass sie im Auftrag von islamistischen Organisationen kommen, die schon seit Jahren versuchen, meine Kritik als krank zu delegitimieren. Krank ist der Islamismus, den ich kritisiere! Aber solche Organisationen lehnen eine freie, offene Debatte ab – und die Bundesregierung setzt sich mit ihnen an einen Tisch und wertet sie politisch auf.

Was ist im Libanon anders?

Gerade ist mein aktuelles Buch auf Arabisch erschienen und wird unter arabischen Intellektuellen als ein Werk der Aufklärung gefeiert. In Beirut, aber auch in Tunis oder Dubai brauche ich keinen Polizeischutz, junge Menschen wollen auf der Straße Selfies mit mir machen. In Deutschland werde ich oft von jungen Muslimen auf offener Straße trotz Polizeischutz angegriffen und beschimpft. Und die Linksintellektuellen in Deutschland teilen sich die Arbeit mit den Islamisten: Die Islamisten bedrohen mich, die Linksliberalen delegitimieren meine Arbeit als islamophob.

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Wie erklären Sie sich den Unterschied?

Die jungen Menschen und Intellektuellen in arabischen Ländern erfahren die Unterdrückung und die Gefahr des politischen Islam jeden Tag hautnah, gleichzeitig sehnen sie sich nach Freiheit. Im Libanon, wo fast die Hälfte Christen sind, ist es eine besondere Situation: Nach dem Bürgerkrieg wurde eine konfessionelle Regierung eingeführt, jeder Posten wird nach Religionszugehörigkeit verteilt, die Hisbollah hat zwar viel Macht, aber die Kritik an ihr wächst. Die jungen Menschen in arabischen Ländern kennen das Elend der Bürgerkriege, die der religiöse Fanatismus zu verantworten hat, deshalb sind sie offener für Religionskritik als Muslime in Europa.

Sie sind also von existenzieller Not und Freiheitssehnsucht angetrieben.

So ist es. Deswegen setze ich auch mehr Hoffnung auf sie als auf die jungen Muslime im Westen.

Was läuft falsch in Deutschland?

Verstehen Sie mich nicht falsch: Die meisten Muslime in Deutschland sind normale, friedliebende Menschen, und es gibt auch liberale Muslime, die einen europäischen Islam etablieren wollen. Aber es gibt eine große und einflussreiche Minderheit, die konservativ-reaktionär ist und von ausländischen Staaten gelenkt wird – der Türkei, den Golfstaaten, dem Iran. Deren Organisationen repräsentieren nur einen Bruchteil der Muslime in Deutschland. Weil die meisten Muslime nicht organisiert sind, lädt die Politik die Islamisten als Gesprächspartner ein, macht sie dadurch salonfähig und erweckt den Eindruck, sie stünden für alle Muslime in Deutschland.

Mit welchen Folgen?

Das Problem ist zunächst, dass diese Organisationen – Ditib, Zentralrat der Muslime, etc. – Förderungen in Millionenhöhe bekommen und dadurch vom Staat überhaupt die Möglichkeit bekommen, Einfluss zu nehmen. Etwa, indem sie entscheiden, dass im Ausland ausgebildete Lehrer und Imame muslimischen Religionsunterricht und Predigten leiten. Diese Leute stehen unter dem Einfluss des Iran oder der Türkei und sollen dann verantwortlich für die Bildung der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sein. Ditib und Co. haben es auch erfolgreich geschafft, das vorpolitische Feld zu beeinflussen, weil sie mit der Islamophobie-Keule eine unausgesprochene Koalition mit Linksliberalen eingegangen sind. Dadurch wandert das Thema nach Rechtsaußen und wird von Linksliberalen erst recht nicht mehr angefasst, weil sie nicht das Thema besetzen wollen, das von rechts „kontaminiert“ ist. Es ist ein Teufelskreis.

Woran machen Sie das fest?

Linksliberale prangern lieber vermeintliche Islamophobie als tatsächlichen Islamismus an. Es gibt keinen einzigen Lehrstuhl in Deutschland, der sich primär mit Islamismusforschung beschäftigt. Die akademische Welt hat sich von dieser Debatte verabschiedet. Die Politik sowieso. Grüne und SPD wollen muslimische Wähler mit sozialen Verlockungen für sich gewinnen und befürchten gleichzeitig, sie mit Islamismusdebatten zu vergraulen. Medial sieht es nicht besser aus: Vor fünf Jahren hat der Deutsche Kulturrat entschieden, dass es keine Talkshows mehr zum Thema Islam geben soll. Deswegen haben Leute wie ich heute kaum noch Platz in der politischen Debatte.

Das Interesse ist doch da: Ihre Bücher sind Bestseller, Sie geben zahlreiche Interviews und werden in Talkshows eingeladen.

Ja, das Interesse der Menschen ist da, und es gibt einige wenige prominente Islamismuskritiker wie Seyran Ates, Ahmed Mansour und mich, die gelegentlich in den Medien auftauchen, wenn es mal ein Ereignis wie die Silvesternacht in Berlin gibt. Aber die Politik will von uns nichts hören, auch die politischen Stiftungen meiden uns, um konservative Muslime nicht zu verärgern. Wir müssen aber noch viel mehr über das Thema reden und aufhören, die wenigen Kritiker, die zu Wort kommen, als Rechtspopulisten niederzubrüllen.

Ein Grund dafür, dass es nicht allzu viele Kritiker gibt, dürfte schlichtweg die Angst sein. Sie zahlen einen hohen Preis für ihre Kritik.

Ich kann nicht mehr ohne Polizeischutz leben, nur weil ich den Islam kritisiert habe. Theo van Gogh wurde niedergestochen und die Redakteure von Charlie Hebdo wurden erschossen, weil sie Mohammed verhöhnten. So etwas würde niemandem passieren, der sich über Jesus lustig macht. Natürlich haben die Menschen entsprechend Angst. Genauso große Angst müsste eigentlich die Zukunft bereiten, die kommt, wenn diese Fanatiker noch einflussreicher werden.
 

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Sie schreiben in Ihrem neuen Buch: „Wir müssen über den Islam wieder reden, denn von seiner Zukunft hängt auch die Zukunft Europas ab.“ Was meinen Sie damit konkret? Ein dystopisches Unterwerfungsszenario wie bei Michel Houellebecq?

In Deutschland leben derzeit fünf bis sechs Millionen Muslime, die Zahl wird sich bis 2050 verdreifachen. Daraus ergeben sich Gefahren angesichts der wachsenden Macht, die die Bundesregierung islamistischen Verbänden gibt. Die Bundesregierung fördert damit, dass eine wachsende Minderheit unter den Muslimen den deutschen Staat und die deutsche Kultur verachtet und hasst.

Mit welchen Fördermitteln geschieht das?

Es gibt zahlreiche. Es gibt zum Beispiele Deradikalisierungs- und Demokratieförderungs-Projekte, die die Verbände selbst leiten. Dann gibt es einen gewaltigen Topf für Anti-Rassismus-Projekte. Und davon bekommen eben die Islamverbände einen großen Anteil, Stichwort „Islamophobie“. Auch im Bereich Imam-Ausbildung bekommen die Verbände Geld vom Staat, um Imame auszubilden, die dann im Sinne von Erdogan in Deutschland predigen werden. Und so wächst der politische Islam und gedeiht im Schatten der linksliberalen Identitätspolitik.  

Warum setzt sich die Bundesregierung überhaupt mit Ditib und Co. an einen Tisch, obwohl deren Hintergrund jedem bekannt ist? Was ist die Motivation dahinter?

Die Ditib schafft es eben, die Türken in Deutschland zu organisieren, und kann deswegen auch Wählerstimmen für die CDU oder die SPD mobilisieren. Einzelne liberale Stimmen, die nicht organisiert sind, können das nicht. Liberale Stimmen werden als Alibi zu Islamkonferenzen eingeladen, doch ihre Ansätze und Kritikpunkte werden überhaupt nicht aufgegriffen. Deswegen bin ich vor ein paar Jahren auch aus der Islamkonferenz ausgetreten. Hinzu kommen wirtschaftliche Interessen: Deutschland exportiert Waffen und Autos und braucht Gas und Erdöl aus Saudi-Arabien und Katar. Von der Türkei hat Deutschland sich abhängig gemacht, weil sie als Türsteher fungiert, damit die vielen Flüchtlinge nicht nach Europa kommen.

Welche konkreten Weichen müssen gestellt werden, um den Einfluss des politischen Islam zurückzudrängen?

Logischerweise: Die Politik muss aufhören, den politischen Islam zu subventionieren und die Muslime als organisierte Gruppe zu sehen, sondern als Menschen, die individuelle Freiheitsrechte brauchen. Die Regierung ist nicht für das Seelenheil der Muslime verantwortlich, die Steuerzahler, die die Subventionen bezahlen, auch nicht und der politische Islam erst recht nicht. Wie Muslime ihre Religion ausüben, ist ihre persönliche Sache. Das Geld für die Subventionen sollte lieber in Infrastruktur und Arbeitsplätze investiert werden anstatt in eine Moschee in Marxloh. Davon haben die muslimischen Menschen als Staatsbürger letztlich auch mehr.

Was noch?

Wir müssen offen über die Strukturen und Finanzierung des politischen Islam sprechen. Über den Einfluss der Türkei und der Golf-Staaten. Die Zivilgesellschaft muss in diese Debatte miteinbezogen werden, anstatt sie mit der Rassismuskeule aus dem Diskurs zu verbannen.

Letztendlich sind das nur Appelle, die meist verpuffen.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als über den Islamismus aufzuklären und voranzugehen, um zu zeigen, dass man diese Themen ohne Angst ansprechen muss. Es stimmt, ich bin in Bezug auf Deutschland weniger zuversichtlich, dass sich etwas grundlegend ändert, als ich es in Bezug auf die Gesellschaften in der arabischen Welt bin. Aber aufzuhören ist keine Option.

Oft heißt es, islamistische Auswüchse hätten nichts mit dem Islam zu tun, sondern seien nur eine pervertierte Auslegung. Sie haben nun, so der Untertitel, „eine kritische Geschichte“ des Islam vorgelegt. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund diese Aussage?

Das ist so, als würde ein Alkoholiker sagen, sein Alkoholismus hätte nichts mit dem Alkohol zu tun. Für mich ist die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus unwichtig. Für mich zählt die Unterscheidung zwischen Islam und Muslimen. Muslime können aufgeklärt sein und sich kritisch mit der Geschichte des Islam auseinandersetzen, ohne ihren Glauben zu verraten – aber genau das versuchen Islamisten ihnen einzureden. Mir geht es in meinem Buch nicht darum, den Islam zu verteufeln, sondern kritisch zu betrachten, welche unterschiedlichen Strömungen es gab, welche Strömungen fruchtbare Wege gegangen sind und welche Strömungen in den Fanatismus abgedriftet sind. Der Sufismus, das Schisma von Sunniten und Schiiten, der Aufstieg im Mittelalter in Bagdad und Cordoba, durch den die islamische Kultur der europäischen philosophisch und generell kulturell weit überlegen war. Damals herrschte eine gewisse Freiheit, man konnte Alkohol trinken, ohne belangt zu werden, Homosexualität wurde nicht kriminalisiert. Sogar manche Kalifen waren homosexuell und haben das öffentlich gelebt. Damals im Mittelalter konnte man die Religion kritisieren, heute nicht mehr.

Woran lag das?

Das lag nicht am Islam als Religion. Die Kulturen Europas und islamischer Länder sind eng miteinander verwoben. Sie haben einander nicht nur bekriegt, sondern sich auch gegenseitig befruchtet. Der Grund für den Aufstieg der islamischen Kultur war unter anderem die Toleranz gegenüber Minderheiten, anderen Kulturen und Religionen in dem Sinne, dass man ihnen gegenüber offen war und die islamische Kultur von ihnen befruchten ließ. Man hat Wissen mit anderen Kulturen ausgetauscht, die griechische Philosophie war für das Denken wichtiger als die Religion.

Was war der Kipppunkt?

Die islamische Identitätspolitik und Cancel Culture haben sich nach 200 Jahren Fortschritt durchgesetzt. Eine konservative islamische Strömung propagierte die Rückkehr zum wahren Islam: Die Muslime sollten sich von den Christen und Juden abgrenzen, sie gar bekämpfen. Die Religion sollte Vorrang haben, Philosophie und Wissenschaft galten als Hindernis zum religiösen Heil. Kurz: Die islamische Kultur wurde plötzlich als hermetisch geschlossener Kulturkreis definiert, der sich nach außen abgrenzen muss. Dadurch kam es zum Abstieg der Kulturhochburgen Bagdad und Cordoba.

Sie sprechen in Ihrem Buch von einer Verkehrung: Der Islam erlebt heute sein Mittelalter, während Europa sich von seinem Mittelalter emanzipiert hat.

Ja, aber mit dem politischen Islam kommt auch das Mittelalter nach Europa zurück: Terrorismus, Tribalismus, Clankriminalität, religiöses Mobbing an Schulen und 13-Jährige, die Druck auf Mitschülerinnen ausüben, wenn sie kein Kopftuch tragen. Zudem Angriffe auf Juden und jugendliche Mobs, die Innenstädte verwüsten. Europa müsste sich damit auseinandersetzen. Stattdessen macht sich mit der linken Identitätspolitik eine Strömung breit, die mit dem Islamismus gemeinsame Sache macht und gewisse Parallelen hat zu der Strömung hat, die den Abstieg der islamischen Hochkultur in Gang brachte.

Das müssen Sie erläutern.

Beide Strömungen denken tribalistisch, sehen die Menschen nicht als Individuen, sondern teilen sie in Gruppen ein. Sei es als Vertreter einer Ethnie, Religion oder politischen Gesinnung. Sie teilen die Welt in Gut und Böse ein, hegen Reinheitsfantasien, mit denen sie die sündhafte Welt erlösen wollen. Beide dulden keine Kritik an ihnen, weil sie Kritik an ihren Positionen als Kritik an ihren Identitäten und unanfechtbaren Heilslehren sehen und sie Argumente sowieso durch Emotionen ersetzen.

Zum Abschluss noch eine tagespolitische Frage: Im Dezember hat erstmals Nancy Faeser als Innenministerin an der Islamkonferenz teilgenommen, von der Sie zurückgetreten sind. Haben Sie sie verfolgt?

Eine der ersten Entscheidungen von Nancy Faeser als Innenministerin war, den Arbeitskreis Islamismus aufzulösen. Mit der Begründung, es gebe keinen wissenschaftlichen Bedarf dafür. Das Gegenteil ist der Fall: Es herrscht ein Mangel an wissenschaftlichen Studien zum Islamismus. Islamismus hat für Nancy Faeser keine Priorität, vielleicht sieht sie ihn nicht einmal als Problem. Entsprechend ergebnislos war die Islamkonferenz, und ich sehe mich darin bestätigt, dass es eine richtige Entscheidung war, mich von dieser Veranstaltung fernzuhalten.

Die Fragen stellte Ulrich Thiele.

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