Gerhard Schröder
Damals noch angesagt: Bundeskanzler Gerhard Schröder beim Fitting eines Brioni-Anzugs im Jahr 1998 / dpa

Der Flaneur - Nachruf auf den Anzug

Ein Anzug ist weder sportlich noch zwanglos – und verströmt auch nicht aus jeder Stoffpore den Duft von Spaß und Freizeit. Kein Wunder, dass unser Kolumnist Stefan aus dem Siepen immer weniger Männern in Anzügen begegnet. Ein Abgesang auf ein Kleidungsstück, das im Widerspruch steht zu den maßgebenden Tendenzen der Zeit.

Stefan aus dem Siepen

Autoreninfo

Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

So erreichen Sie Stefan aus dem Siepen:

Man kann eine halbe Stunde lang durch eine beliebige deutsche Stadt flanieren, ohne einem einzigen Mann im Anzug zu begegnen. Fast ist es schon müßig, danach Ausschau zu halten – so wie es in früherer Zeit müßig gewesen wäre, einen Mann in Schlappen und Bermudashorts zu suchen. Allenfalls sind hier und da noch Restvarianten zu entdecken, die aber eigentlich nicht zählen: labbrige Modelle von trostlosem Schnitt, ohne Krawatte, ohne Einstecktuch, ohne Bügelfalte, von der Weste gar nicht zu reden – simple Basiskleidungsstücke, die einem Altbau ähneln, an dem der Stuck abgeschlagen wurde. Das Weglassen der Accessoires ist das Vorspiel zum Weglassen der Hauptsache.

Seien wir gerecht: Der Anzug steht im Widerspruch zu den maßgebenden Tendenzen der Zeit, daher ist es vermutlich nur folgerichtig, eine fällige Strafaktion, dass er von der Bildfläche verschwindet. Hier ein kleiner Ausschnitt aus der langen Liste seiner anachronistischen Eigenschaften:

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Edit Szegedi | Mo., 1. November 2021 - 16:41

Als ich Studentin war (1985-1989), gehoerte es zur Selbstverstaendlichkeit, dass maennliche Studenten bei Pruefungen Anzug tragen, selbst wenn sie ansonsten dem Schlabberlook froenten. Und sie sahen in Anzuegen sehr gut aus, selbst in den billigen.

Dominik Roth | Mo., 1. November 2021 - 17:05

Schön geschrieben. Eine unschöne Eigenschaft dieser Ver-/Bekleidung könnte man in dem Zusammenhang erwähnen: Ein gut sitzender Anzu lässt den auch größten Halsabschneider vertrauenswürdig erscheinen.

Klaus-Peter Götze | Mo., 1. November 2021 - 17:12

...hat sich ein Theaterbesuch in Ostberlin anlässlich einer Klassenfahrt im Jahr 1956 eingebrannt, als ich das Theaterpublikum in mehr oder weniger Arbeitskleidung ähnlicher Aufmachung sah. Ich werde meine Anzüge zu festlichen Anlässen weiter tragen; ich muss nicht jugendlicher aussehen als ohnehin und ich finde auch: es gehört sich so !

Norbert Heyer | Mo., 1. November 2021 - 17:12

Es ist richtig: Anzug entspricht -für Männer- nicht mehr dem Zeitgeist. Anders sieht es bei Frauen in Führungspositionen aus: Es scheint, seit Frau Merkel dem Einheitslook frönt, haben Frauen zumindest die Anzugjacke übernommen. Auch der Rock ist aus der Mode gekommen. Ich habe 50 Jahre lang Anzüge getragen, es war in den Chefetagen und bei Banken/Versicherung usus, einen "gedeckten" Anzug mit weißem Hemd und -natürlich- Krawatte zu tragen. In meinen letzten Berufsjahren habe ich zumindest am Freitag eine Kombination aus Jacke und Jeans- oder Cordhose getragen - sozusagen als Vorbereitung auf das Wochenende. In den letzten Jahren hatte ich überhaupt keine Anzüge mehr, Kombinationen waren angesagt und Krawatten habe ich heute als Pensionär keine einzige mehr. Gerade der Untergang der Krawatte habe ich begrüßt, den "Kulturstrick" hatte ich zuletzt als lästig und überflüssig empfunden. Heute kaufe ich meine Kleidung per Internet, riesige Auswahl, günstige Preise und schnelle Lieferung.

Sabine Lehmann | Mo., 1. November 2021 - 18:19

Ich persönlich finde ja, dass es kein Kleidungsstück gibt, in dem ein Mann vorzüglicher aussieht, als in einem schicken Anzug. Ob mit oder ohne Krawatte, das ist nicht entscheidend. Das sage ich als Frau;-)
Vor ein paar Wochen traf ich in einem hiesigen Supermarkt tatsächlich auf so ein vom Aussterben bedrohtes Exemplar. Und selten bin ich einem höflicheren und zuvorkommenderen Mann begegnet, also zumindest beim Einkaufen;-)
Ob man jetzt immer von der Verpackung auf den Inhalt schließen kann, weiß ich nicht, aber dennoch: ein Mann im Anzug, das macht was her. Aber ich bin da vermutlich auch latent auf Retro geeicht. Wenn man/frau ein gewisses Alter überschritten hat, ändert sich auch der Geschmack ein wenig. Und über den lässt sich immer vortrefflich streiten. Oder war es anders herum?
Übrigens gibt es noch Länder und Städte, in denen von dieser seltenen Spezies doch noch viele Exemplare "überleben" konnten: in Rom zum Beispiel. Aber da ist sowieso alles schön(er). Ciao Bella;-)

Tomas Poth | Mo., 1. November 2021 - 19:08

bzw. die Anzüge hängen im Schrank und kommen selten zum Einsatz.
Am Arbeitsplatz (Schreibtisch, Konferenztisch) sind die einfach zu unpraktisch, das Jacket hängt dann schnell an der Garderobe oder über dem Stuhl.
Im Flieger und anderen Verkehrsmitteln landet das Jacket irgendwo am Haken, im Gepäckfach über dem Kopf oder auf dem Rücksitz.
Anzug trägt man stehend/gehend und tanzend, aber spätestens nach dem dritten Tanz wird das Jacket wieder irgendwo abgelegt.
Die Jacke jeder Form hat das Jacket abgelöst, geht doch. Nur zu feierlichen Anlässen wird es dann ab und wann ausgeführt. Passt schon.

Ernst-Günther Konrad | Di., 2. November 2021 - 07:36

Ja, es stimmt, der Anzug ist und war häufig unbequem, lästig, wirkte bieder und sollte Seriosität, Anstand, Sitte und Moral vermitteln. Wer Anzug trug, war etwas Besonderes, meist höher gestellt, hatte wohl einen verantwortungsvollen Posten und galt gerne als integer. Ich trug in den 70ern täglich einen Uniformanzug, kratzig, unbequem, beim körperlichen Einsatz schnell zerrissen, die Krawatte anfangs gerne ein gefährlicher Gegenstand, an dem sich mancher Delinquent versuchte, einem staatlichen Zugriff zu entziehen. Anzüge haben aber auch etwas Ernsthaftes, etwas feierliches, steht außerhalb des Alltags für den besonderen Anlass. Der Anzug hat aber all die Eigenschaften, denen man den Trägern unterstellte, längst verloren. Wer sich im BT umschaut, viele Anzüge, sicher mancher auch teuer, vom deutschen Steuergeld bezahlt über Diäten oder in den Chefetagen der Wirtschaft muss leider erkennen, dass was man mal mit ihm verbunden hat, gibt es kaum noch. Der Anzug ist Blendwerk geworden.

Joachim Baumeister | Di., 2. November 2021 - 10:05

Käpt´n Niveau schreit: Wir sinken! Wenn man sich die Riege der männlichen Politiker ansieht in ihren schlecht sitzenden Anzügen, den offenen Hemden, deren Kragen schlampig herunterhängen und den hoffentlich gewaschenen Hals frei legen, dann könnte man auf eine ähnliche Politik schließen. Ich will gar nicht die Menschen auf den Straßen beschreiben, tätowiert, mit zerrissenen Jeans, angetragenen Sweatshirts, ausgetretenen Latschen. Und die Blödkappe mit der Werbung auf dem Kopp, darf auch nicht fehlen. Kultiviertes Auftreten mit Stil und Geschmack, Eleganz und Niveau...das war einmal. Muss man sich mal vorstellen: In Hotels wird schon darauf hingewiesen, dass man zu den Mahlzeiten in angemessener Kleidung erscheinen möge. Gute Nacht!

Ich musste ehrlich gesagt schmunzeln bezüglich Ihres etwas empörten Ausdrucks, dass man die Hotelgäste auf eine angemessene Bekleidung, (zumindest zum Abendessen) hinweisen muss. Oft werden diese am Eingang zum Restaurant platzierten schriftlichen, mehrsprachig verfassten Hinweise noch durch lustige Piktogramme ergänzt, so das es auch der letzte Bekleidungs-Analphabet eigentlich verstehen müsste. Als ein solcher startete auch mein Gatte in unseren allerersten Strandurlaub mit ***Unterkunft als er sich darüber mokierte, dass ich für ihn ein Paar lange Hosen in den Koffer packte. Das Gemecker endete wie erwartet erst, als dem männlichen Gast mit Bermudashorts, auf den er mich eben noch vorwurfsvoll hinwies und der vor uns war, der Eintritt vom Chef des Restaurants verweigert wurde;). Seit dem zieht er brav alles an;). Bei einem Weihnachts-Dinner in der Dom Rep hielt man ihn dank seines unter Protest! angezogenen Anzugs für den Manager und wir wurden fast in Champagner ertränkt;-).

Christoph Kuhlmann | Di., 2. November 2021 - 14:37

war einerseits der Zwang einen tragen zu müssen um diversen berufliche Tätigkeiten nachzugehen und zweitens die mangelnde Maschinenwaschbarkeit. Als in den 80ern und 90ern die Flöhe zurück kamen nach Deutschland und hielt ich neben dem Einsatz diverser Desinfektionsmittel sofortiges Duschen und wechseln der Kleidung für unabdingbar. Gerade Vorlesungen mit mehreren hundert Teilnehmern bieten dieser Spezies optimale Lebensbedingungen. Einen einmal getragenen Anzug in die Reinigung zu bringen führte aber zu misstrauischen Blicken und kritischen Fragen des Reinigungspersonals. Insofern bin ich wirklich froh, dass dieses Kleidungsstück weitgehend obsolet geworden ist.

Bernd Muhlack | Di., 2. November 2021 - 15:48

Mein Opa kam Ende 1948 aus sowjetischer Gefangenschaft; er war in der Ukraine im Lager.
Er war schwer krank, erhielt folglich eine karge Versehrtenrente.

Was hat das mit Anzügen zu tun?
In Bezug auf meinen Opa sehr viel!

Seine Tochter, also meine Mutter, war letztlich Schneidermeisterin, er war Schuhmachermeister - inzwischen wieder ein eigenes Geschäft.
Nie wieder wollte er in Uniformen, gar Lumpen herum laufen!
Er trug nur noch Maßanzüge, edle Krawatten und selbst gefertigte Schuhe!

Das war kein eitler Dünkel sondern die Bewältigung seiner Vergangenheit.
Er ist leider viel zu früh gestorben - er wurde in seinem Lieblingsanzug eingeäschert.

"Kleider machen Leute" sagt man.

Als Muttern und Tochtern deren Abiturkleid entwarfen, betrachtete ich eine Weile das Schnittmuster
Beide ganz stolz: "Sieht doch klasse aus, oder?"
"Ähem, klar! Ich habe noch zwei wichtige Termine - viel Spaß!"

Ein Schnittmuster?
Ich habe nichts davon kapiert!
Das hätte der U-Bahn-Plan von Paris sein können!