Doppel-Portrait - Der Mann im hellen Trenchcoat

Drei Leben lebte der Vater der Schriftstellerin Irina Liebmann: als herausragender Journalist, als Spion und als «Citizen Kane» der DDR. Jetzt hat die Tochter seine Biografie geschrieben: eine grandiose Verbindung von Welt-, Deutschland- und Privathistorie. Eine Begegnung mit einem Geschichts­buch der besonderen Art und dessen Autorin

Der Admiralspalast in der neuen alten Mitte Berlins ist ein traditionsreicher Ort. Wer die Schriftstellerin Irina Liebmann treffen will, könnte kaum einen besseren Treffpunkt finden. Gleich unterhalb des Bahnhofs Friedrichstraße gelegen – gegenüber dem «Tränenpalast», in dem zu DDR-Zeiten die mühseligen Kontrollen des Fußgänger-Grenzverkehrs zwischen Ost- und Westberlin vor sich gingen –, war der Gebäudekomplex zu Anfang des 20. Jahrhunderts berühmt für seinen Eispalast, das Publikum fuhr in großer Robe und Smoking vor: Tingeltangel war woanders. 1926 wich das Eisballett einem Revuetheater, eröffnet von der Walter-Kollo-Revue «Drunter und Drüber», und zur NS-Zeit feierte der Operet­tenkönig Johannes Heesters an dieser Stelle Triumphe.

Ein kleiner Flecken nur zwischen Bahngleisen und Spree, und doch zeigt sich hier wie im Brennglas das «Drunter und Drüber» der jüngeren deutschen Geschichte: vom Tanzparkett zum Ziel­ge­lände für die alliierten Bomber, wenig später dann Übergang zwi­schen dem amerikanischen und dem sowjetischen Sektor der gewe­senen Hauptsstadt, schließlich scharf bewachter Grenzposten an der Mauer zwischen zwei verfeindeten Weltsystemen – Glamour, Trüm­merberge, notdürftige Wiederherrichtung, dann vier Jahrzehnte lang stiller Verfall. Schaut man heute hier auf frischen Beton oder kunstvoll restaurierte Gebäude, erscheint auch der gegenwärtige Zustand wieder nur als ein Zwischenstadium, ein historischer Moment im Zeitkontinuum.


Zeitmaschine: Im «Presse-Café»

Es war Irina Liebmanns Vorschlag, dass wir uns hier treffen sollten, und wir schauen uns noch ein wenig um. Im Hof des Admiralspalasts, dessen Jugendstil-Ornamente in der beginnenden Dunkelheit schimmern, als seien sie gerade erst vergoldet worden, findet sich eine in der Nässe verwitternde Plakatwand. Neben kopierten Fotos aus der gloriosen Amüsierzeit zeigt sie unvermutet auch die Reproduktion eines Plakats aus dem Jahr 1946. «Ineins nun die Hände» steht darauf, abgebildet sind zwei Männer in dunklen Anzügen, die sich über einen Tisch hinweg die Hand reichen, Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck – ein Aufruf für den Vereinigungsparteitag von SPD und KPD, aus dem im April 1946 die SED hervorging. Auch dies Ereignis hatte im früheren Eispalast stattgefunden.

Wir sind also tatsächlich am richtigen Ort. Denn nicht nur ist Berlin, insbesondere dessen Osten in seinen wechselhaften Daseinszuständen, das geografische Zent­rum der literarischen Arbeit von Irina Liebmann – Titel wie «Berliner Mietshaus» (1981), «In Berlin» (1994) oder «Stille Mitte von Berlin» (2002) sprechen für sich. In ihrem neuen Buch mit der gleichermaßen wehmütig wie zart ironisch tönenden Überschrift «Wäre es schön? Es wäre schön!», einer weit in die Welt-Geschichte ausgreifenden und zugleich sehr persönlich gefassten Biografie, hat sie darüber hinaus gerade den Bezirk rund um die Friedrichstraße zum Schauplatz atemberaubender Ereignisse gemacht. Und hier, wo wir jetzt sitzen, saß vor sechzig Jahren womöglich auch der Held ihres Buches: Irina Liebmanns Vater, Rudolf Herrnstadt.

Unter völlig anderen Umständen freilich. Wo heute hinter ausgedehnter Glasfront ein Nobel-Italiener mit weiß eingedeckten Tischen «Coniglio mit Rosmarinkartoffeln» annonciert, befand sich in der Nachkriegszeit das «Presse-Café». Journalisten aus dem nahen Zeitungsbezirk kamen ebenso hierher wie Dichter, die gerade aus der Emigration zurückgekehrt waren, auch der eine oder andere Spion sprang wohl rasch mal die Treppen vom Bahnhof Friedrichstraße herunter – schnell und unauffällig war von hier aus der Zug zurück in den Westen zu erreichen.


«Rudi» mit den drei Identitäten

An diesem Platz also mag er aus dem Fenster geschaut haben, «Rudi», wie er im Buch manchmal genannt wird: In einer Pause zwischen zwei Sitzungen vielleicht, während er über einen Leitartikel nachdachte oder vielleicht auch über Walter Ulbricht und dessen engeren Kreis aus der Moskauer Emigration, mit denen Herrnstadt als Angehöriger der Roten Armee nichts zu tun hatte und es gegen Kriegsende dann doch zu tun bekam, mehr und mehr, und eines Tages dann mit endgültiger Konsequenz. Von allen drei Berufsgruppen, die das damalige «Presse-Café» bevorzugten, hatte dieser umtriebige Weltmann aus der Provinz etwas. Journalist war er, ausgebildet während der Weimarer Republik, gar nicht weit von hier beim «Berliner Tageblatt» seines großen Vorbilds und Förderers Theodor Wolff; und war nun Ende der Vierziger gerade dabei, sich zu einer Art Citizen Kane der DDR-Presse aufzuschwin­gen, als Gründer und Lenker eines Zeitungs-Imperiums.

Ein Dichter wiederum wäre er gern geworden. »Die neue, zeitgenössische Form des Dramas» hatte der Sohn eines oberschlesischen Rechtsanwalts finden wollen, scheiterte aber an der Darstellung des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv – ein Lebens-Thema und ganz konkret drei «vergeudete Jahre» zwischen 1925 und 1928, wie er in einem Lebenslauf festhielt. Den hatte er verfassen müssen, als er sich ohne Visum nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen über die russische Grenze gerade noch in Sicherheit brachte; und erst einmal, wenngleich seit Jahren schon Mitarbeiter des Auslandsgeheimdienstes der Roten Armee, in Haft geriet. Die Gewährsleute, die für ihn hätten bürgen können, waren in der Zwischenzeit der stalinistischen Säuberung zum Opfer gefallen.

Teil der dritten Gäste-Gruppe des «Presse-Cafés» an der Friedrichstraße war er also auch noch: Rudolf Herrn­stadt, Ex-Spion, Jude und Kommunist, geboren im Jahr 1903 in Gleiwitz. Wer Irina Liebmanns Buch über diesen Mann gelesen hat, wird für eine Weile unweigerlich anders über dieses Pflaster gehen – schwer, das Gefühl von den Leichenbergen unter den eigenen Füßen wieder loszuwerden, Tätern und Opfern der deutschen Geschichte. In deren Verlauf nicht nur die Nationalsozialisten Juden und Kommunisten auslöschten, sondern auch diese selbst einander verrieten und ermordeten. Und in deren Nachkriegsphase schließlich auch Rudolf Herrnstadts Geschichte keinen guten Ausgang nahm.


Auftritt des Vaters als Romanfigur

Romane, Hörspiele, Gedichte, Theaterstücke und Kinderbücher hat Irina Liebmann geschrieben, alle Arten von Fiktion also, und selbst wenn sie – wie im «Berliner Mietshaus» – Lebensläufe dokumentierte, die andere ihr erzählt hatten, fand sich auch hier alles Reale durch die Erzählweise eingesponnen in ein feines Netz, das die Geschichten in einer Art zweiter Wirklichkeit zusammenband: Die einzelnen Biografien schwebten gleichsam über ihren eng umgrenzten lebensgeschichtlichen Rahmen hinaus und ließen endlich das Gefüge selbst erkennen, in dem sie sich ereignet hatten; in dem alles womöglich immer auch anders hätte kommen können.

Dies verhält sich auch im neuen Buch mit dem zweifachen Irrealis im Titel nicht anders. «Wäre es schön? Es wäre schön!» zeichnet eine besondere deutsche Lebensgeschichte des 20. Jahrhunderts nach, die einen Mann auf die höchste Ebene der DDR-Staatsmacht führte und ihn dann von einem Tag auf den anderen jäh abstürzen ließ – eine Geschichte, die nicht erzählt werden kann, ohne dem Kriegsverlauf zu folgen, auch nicht ohne die Begebenheiten im kommunistischen Widerstand gegen das NS-Reich und ebenso wenig, ohne die Entwicklungen in der Sowjetunion wenigstens zu skizzieren. Ein Vorhaben also, das in einem Buch von knapp über 400 Seiten eigentlich nicht zu bewerkstelligen ist, zumal, wenn es auch noch die Auseinandersetzung der Tochter mit dem Vater (mitsamt all seinen Vater-Instanzen) einschließt. Und das dennoch bravourös gelingt.

Schon in ihren Romanen «In Berlin» und «Die freien Frauen» (2004) war ein Vater aufgetaucht, eine prägende Hintergrund-Gestalt, die die Spurensuche der weiblichen Hauptfigur nach ihrer eigenen Herkunft und Zugehörigkeit ohne größeres Zutun zu lenken schien: ein fast Hundertjähriger in einem Berliner Pflegeheim, der beinah schon nicht mehr lebte, aber auch nicht sterben konnte. Nach der Lektüre des jüngsten Buches wird man Irina Liebmanns Roman-Vater nun aufgrund verschiede­ner identischer Lebensstationen als dem realen Rudolf Herrnstadt mindestens nah verwandt erkennen, obwohl dieser schon 1966 im Alter von nur 63 Jahren starb: als einen Mann, der Teil eines osteuropäischen Spionagenetzes war, und dessen Berliner Geliebte im Jahr 1942 als Mitglied der «Roten Kapelle» in Berlin-Plötzensee enthauptet wurde. War der eigenwillig und geschickt mit verschie­denen phantastischen Ebenen jonglierende Roman aus dem Jahr 2004 also eine fiktionale Vorübung für die knochenharte Faktenarbeit des folgenden Projekts?


«So was ist doch nicht so easy!»

Irina Liebmann lacht. «Mein letzter Roman», sagt sie, «ist mir gewissermaßen aus der Hand gerutscht. Ich wollte über emanzipierte Frauen schreiben, deren Kinder erwachsen sind, die Männer weg – was soll nun werden? Aber dann, wie von selbst, hat sich der Vater als Thema durchgesetzt, ich konnte das nicht steuern.» Daran, dass der Vater die Tochter im Roman fragt, wann sie denn endlich über ihn schreiben werde, habe sie übrigens später ein Freund erinnern müssen: «Das war mir überhaupt nicht mehr bewusst.»

Warum aber dies umwegige, von ihr selbst fast unbemerkte Heranpirschen an den, wie die Lebens-Geschichte nun zeigt, für ihr eigenes Dasein zentralen Menschen, den Dreh- und Angelpunkt ihrer eigenen Entwicklung? Die Frage provoziert offenbar. «Das ist schwer umkämpftes Gebiet, historisch wie politisch!», ruft Irina Liebmann geradezu empört. «Mein Vater ist verleumdet und verschwiegen worden, jeder hat ihn für seine eigenen Angelegenheiten benutzt wie einen Steinbruch – das war so, solange die Mauer stand, und nach dem Mauerfall ging es genauso weiter. Heute ein großes, freundliches Portrait eines Kandidaten des Politbüros der SED zu veröffentlichen, so was ist doch nicht so easy!»

Und alles andere als «easy» war die Rekons­truktion der Lebensverläufe dieses hochrangigen Partei-Mannes auch für die Autorin selbst. «All diese Kommunisten sind mir ein Rätsel», resümiert sie, die selbst nie ein Mitgliedsbuch der Partei ihres Vaters besaß. «So viele selbstlose Menschen mit so hohen ethischen Zielen, die derart blind waren für das, was sie taten! Die Mitgliedschaft in einer Partei, in der letztlich der Zweck die Mittel heiligt, und für die sie ohne zu zögern ihr Leben gegeben hätten – das alles ist mir ein Problem. Das sind Menschen einer Zeit, die wir heute nicht mehr begreifen. Und ich musste versuchen, sie zu verstehen.» Ein tragikomisches Aufseufzen: «Dabei möchte ich so gern eine freie Schriftstellerin sein, frei von der deutschen Geschichte! Ich hatte gedacht, nach diesem Buch würde es so weit sein. Aber ich stehe wieder am Anfang und habe mehr Fragen als vorher.»

Fragen über Fragen hat sie auch in ihrer Biografie über Rudolf Herrnstadt gestellt, kein Zweifel, kein Widerspruch, keine Distanzierung wird verschwiegen. «Ich verstehe es nicht», heißt es da einmal resümierend, «aber das ist auch nicht meine Welt.» Und ist es natür­lich doch. Schließlich war der Mann ihr Vater.


Visionär – Propagandist – Märtyrer

Selbst nach Erlass der NS-Rassegesetze hatte der kommunistische Jude Rudolf Herrnstadt noch bis 1936 als Korrespondent und Leitartikler des «Berliner Tageblatts» in Warschau tätig sein können – die Tochter schlägt sich mit dem verwirrenden Faktum herum, forscht nach. Wie konnte das sein? Woher die Sonderrolle? War der Geheimdienstmann, der die Position bei der hoch renommierten Zeitung als Tarnung für seine illegalen Aktivitäten nutzen konnte, faule Kompromisse eingegangen? Aber was konnte das Deutsche Reich davon haben? Und was das «Berliner Tageblatt»? Oder wer sonst?

In den vierziger Jahren unterstützte Herrnstadt in Moskau den Aufbau des «Nationalkomitees Freies Deutschland», einer Vereinigung kriegsgefangener deutscher Soldaten und Offiziere, und betreute deren Zeitung «Freies Deutschland». Selbst eine patriotisch-pathetische Wendung wie «Wir trauern um Deutsch­land» konnte hier erscheinen – Anzeichen oder Anschein demokratischer Liberalität? In der Sowjetisch Besetzten Zone und späteren DDR schließlich wurde Herrnstadt zum Staats-Journalisten, begründete das Zeitungswesen, stieg zum Chefredakteur des Zentralorgans «Neues Deutschland» auf und galt bei alledem auch immer als «Mann der Russen». Unzweifelhaft verfügte er über spezielle Kontakte und gewiss über noch andere als die Gruppe um Ulbricht, die zwischen Angst, Verrat und so genannter Säuberung das Exil im Moskauer Hotel «Lux» überstanden hatte.

War Rudolf Herrnstadt, dessen Familie 1941 aus Prag verschleppt und ausgelöscht worden war, im Grunde womöglich ein Traumtänzer? Ein Phantast, den die Realität immer wieder glückhaft auffing, ja, lange sogar in seinen Träumereien von einer real besseren Welt zu bestätigen schien? Viele seiner Aktionen scheinen dafür zu sprechen. Von einem Besuch im Nachkriegs-Warschau kehrte er voller Emphase für die dortigen Konzepte neuen Bauens und Wohnens zurück, nahm Einfluss auf die Planung der Berliner Stalinallee und mobilisierte die Bürger mithilfe seiner Zeitun­gen zu freiwilligen Aufbau-Einsätzen; auch sein Engagement für die bis zum Fall der Mauer populäre «Friedensfahrt» als osteuropäisches Gegenstück zur Tour de France war von Warschauer Begegnungen Anfang der fünfziger Jahre inspiriert.

Vordenker und maßgeblicher Akteur bei der Gründung sozialistischer Printmedien, stieg Genosse Herrnstadt ins Politbüro auf, ließ sich von einem Chauffeur im BMW umherfahren und wohnte mit seiner Familie zuletzt da, wo die Privilegierten wohnten, im Pankower Funktionärs-«Städtchen» – Rudi, ein Virtuose des sozialistischen Aufbaus! Durch seine Anzüge wie durch seine Ansprüche fiel er aus dem Rahmen, aber während des Arbeiter-Aufstands im Juni 1953 war wiederum er der einzige hohe Funktionär, der die Protestierenden in einem Berliner Industriewerk für die Sache des Sozialismus wieder einnehmen konnte (und als Ulbricht Herrnstadt wenig später als Verschwörer in die Wüste schickte, bot die Belegschaft an, für ihn in Streik zu treten). Ein intellektueller Romantiker also, der lange Jahre die Realität auf seiner Seite hatte?

«Ein Mann, der sein Leben ernst nahm», sagt Irina Liebmann schlicht. «Er glaubte wirklich, an einer Zeitenwende zu leben. Er wollte die Grundlagen für etwas Neues legen, und dafür nahm er alles in Kauf.» Einen «Visionär» nennt sie ihren Vater, einen «Propagandisten», der am Ende zur «Märtyrerfigur» wurde. Und sie sagt auch: «Ich glaube, ein Mensch, der so dachte wie Herrnstadt, ist persönlich enteignet: Es herrschte das ‹Eiserne Wir›.»
 

«Ich wusste, wo ich lebte»

«An einem Spätsommertag des Jahres 1953 fährt ein schwarzer BMW aus Berlin in Richtung Süden. Neben dem Chauffeur sitzt ein Mann im hellen Trenchcoat, hinten eine junge Frau und zwei kleine Mädchen.» So beginnt das Buch, dessen Titel übrigens die Schlagzeile gerade des Leitartikels ihres Vaters wiedergibt, in dem dieser zum ersten Mal seine Ideen für die spätere Stalinallee proklamierte. Dies alles aber ist nun vorbei, endgültig: Der Arbeiteraufstand, der von der Stalinallee seinen Ausgang nahm, hatte nicht etwa Walter Ulbricht, sondern dessen Spin Doctor zu Fall gebracht. Rudolf Herrnstadt, gemeinsam mit Wilhelm Zaisser, dem Minister für Staatssicherheit, der Verschwörung gegen Ulbricht angeklagt, fährt in die Verbannung. Wegen einer Tuberkulose aus Kriegszeiten hat er nur noch eine Lunge, also schickt man ihn mitten ins Chemiegebiet der DDR – in Ermangelung eines sächsischen Sibirien wenigstens dorthin, wo die Luft am giftigsten ist. Merseburg heißt der Ort.

Der Mann ist jetzt fünfzig Jahre alt. Er hat drei Leben geführt, seine einstigen Gefährten sind allesamt aus seinem Gesichtskreis entschwunden, die meisten von ihnen ermordet, von den Nazis die einen, von den Kommu­nisten die anderen. Die Anschuldigungen gegen ihn sind haltlos, alle wissen das oder könnten es doch: Eine Herrnstadt-Zaisser-Gruppe hat es nie gegeben, ebenso wenig eine Verschwörung. Was es tatsächlich gab, war eine starke Bewegung gegen Ulbricht in Politbüro und ZK – die Absetzung des Mannes, der zur Feier seines Geburtstages eine drastische Erhöhung der Arbeitsnormen für angemessen gehalten hatte, war bereits beschlossene Sache gewesen. Doch dann hatte sich in den sowjetischen Machtwirren nach Stalins Tod das Blatt noch einmal gewendet, die Seite, der Herrnstadt politisch nahestand, unterlag. Und Ulbricht machte den Chef der Parteizeitung zum Sündenbock.

Der wird seine letzten Arbeitsjahre in einem Archiv zubringen, wird Bücher schreiben und einige von ihnen sogar veröffentlichen können, natürlich ohne öffentliche Resonanz. Er wird mit Aufzeichnungen über sein Leben beginnen, wird mit der Straßenbahn fahren, spazieren gehen und endlich ungefiltert erfahren, was die so genannten Massen denken. Seiner 1943 in Moskau geborenen Tochter, bei der Abreise aus Berlin ein 10-jähriges Schulkind, ist das schon bekannt: «Als mir meine Mitschüler die Fotoalben ihrer Eltern zeigten – Uniformen, Hakenkreuze, Menschen am Galgen –, war das für mich der Absturz», stellt sie fest. «Ich wusste, wo ich lebte. Und er sagte, der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten …»


Die Coolness der Chinesen

Es ist finster geworden, das Lokal hat sich gefüllt; noch einmal Wasser und Kaffee, um die Kellner zu beruhigen, die im alten Admirals­palast auch nicht versessener auf Umsatz und Trinkgeld gewesen sein können. Was wird aus so einer Tochter, die vom Alltag zwangsläufig mehr weiß als der Vater und allein daher seine Hoffnungen nicht teilen kann? Die ihn als Autor nicht kennt und jedenfalls alles anders machen will?

Schreiben will sie und sonst gar nichts; also doch nicht alles anders machen. Aber wozu da erst noch studieren? «Mein Vater saß verzweifelt da», Irina Liebmann kichert. «Der Kampf, den ich wegen des Schreibens mit ihm hatte, war im Grunde derselbe, den er mit seinem Vater geführt hatte.» Und wie damals endet es Anfang der sechziger Jahre auch bei ihr: Man einigt sich aufs Studium. Allerdings, etwas Banales durfte es nicht sein. Sinologie! «‹Gut›, sagte mein Vater, ‹China ist die Macht der Zukunft.› Da hatte er die Russen schon aufgegeben.» Der Tochter ist’s egal. Sie hat das Chinesische aus ästhetischen Gründen und Spaß am Exotismus gewählt und führt, während um uns herum geschmolzene Kalbshaxen und Baby-Calamari verzehrt werden, mal eben den «Arrrr»-Laut des Peking-Dialekts vor. «Arrr», macht sie mit zurückgelegtem Kopf und gleich nochmal: «Arrrr! Das ist wahre Coolness!» Sie lacht – und meint es ernst, wie immer.

Die coolen Chinesen! Den Weg von der diplomierten Sino­login zur heutigen Schriftstellerin Liebmann machten sie allerdings nicht kürzer, sie stehen eher für einen schönen Umweg. Noch zehn Jahre wird es nach Abschluss ihres Studiums dauern, bis sie überhaupt zu schreiben beginnt – ihre achtjährige Tätigkeit als Redak­teurin bei der Zeitschrift «Deutsche Außenpolitik», «eine pupslangweilige Sache», hatte mit Journalismus nichts zu tun: «Man ging kurz mal in die Redaktion und setzte irgendwelche Satzzeichen in die Artikel, wir schrieben ja nicht.» Ein Druckposten. Und von Literatur nicht die geringste Spur.


«Ich kenne ja das Leben gar nicht»

«Ich war dreißig Jahre alt und hatte immer noch keine Zeile geschrieben. Dabei war ich fest überzeugt, ich schriebe wunderbar! Aber ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte. Es musste doch etwas Wichtiges sein, nicht irgendwelche Befindlichkeiten. Und ich dachte, ich kenne ja das Leben gar nicht.» Und das von der Tochter Rudolf Herrnstadts, der die Welt hatte verbessern wollen und vom «Leben» jedenfalls mehr als genug mitbekommen hatte. Doch schon das Kind Irina, das vom Anstehen in Warteschlangen wuss­­te, welche Gedanken die «guten Massen» wirklich hegten, hatte von ihrem Vater gedacht: «Er weiß nicht»; der Mutter, einer aus Sibirien stammenden Germanistin, kommt im Buch der Ehrentitel einer «Realistin an König Wahnsinns Hof» zu. Und die Tochter?

Will ernsthaft lernen, was und wie «das Leben» ist: Betriebe, Brigaden, Kraftwerke, alles auf eigene Faust und aufgrund eigener Neugier erkundet, anfangs mit einem Auftrag zur Materialsammlung für die Filmstudios in Babels­berg, dann auf Recherche unterwegs für Portraits in der «Wochenpost». Es ist das Jahr 1975, und das freie Schreiben fängt an. Das «Berliner Mietshaus», 1981 im Mitteldeutschen Verlag erschienen, ist aus solchen Alltagsbefragungen hervorgegangen und wird ihre erste Buchveröffentlichung. Danach, endlich, kommt die Fiktion.


Ein ganz normaler Feierabend in Berlin

Und nun, 26 Jahre und etliche Bücher später, ist Irina Liebmann zur Welt der harten Fakten zurückgekehrt und liefert mit dem Vater-Buch ihr Meisterstück: eine Verbindung von Allerpersönlichstem und Welthistorischem, immer hart an den Tatsachen und klar in deren Bewertung. Irina Liebmanns Erzählweise ist überwiegend distanziert, wie es sich für ein Geschichtsbuch gehört, doch fahren dahinein dann knappe ironische Kommentare, unauflösbare Fragen oder, wenn es wirklich nicht anders geht, auch mal eine emotionale Aufwallung – ein Kraftakt das ganze Buch, das leichthändig wirkt und dem Leser wegen der Wucht des Erzählten nicht selten den Atem stocken lässt.

Vier Jahre hat die Autorin daran gearbeitet, hat eine erste Fassung verworfen und noch einmal neu angefangen – «dass ich es fertig kriegen würde, hätte ich nie gedacht», sagt sie nun. Und hat bei der Arbeit eine Ähnlichkeit zwischen sich und ihrem Vater entdeckt, die sie beschäftigt: «Er gibt nicht nach, und er gibt nicht auf. Lebensgefährlich. Aber so lebe ich auch.»

Da stehen wir schon draußen auf dem Pflaster, die Musical-Vorstellung im Admiralspalast ist offenbar beendet. Die Zuschauer ziehen ihre Mäntel fester um sich und eilen über den Hof, hinter der Glasscheibe im ehemaligen «Presse-Café» wird weiter getafelt, ein paar Fetzen Musik wehen herüber, Leute kommen aus dem U-Bahn-Ausgang, und das Regenwasser spritzt von der Fried­richstraße hoch, wenn die Autos durch die Pfützen fahren. Alles ganz normal, ein Freitagabend wie tausend andere in Berlin.

Nur wir haben zugleich eine Geschichte im Kopf, von der es am Ende des Prologs in Irina Liebmanns Buch hieß: «Dieser Mann im Sommermantel damals, schweigend und sich nicht umwendend, war mein Vater Rudolf Herrnstadt. Es war nicht nur seine Fahrt, nicht nur seine Niederlage. Es war unser Leben. Damals. Und ist im­mer noch unser Leben.» Und da es sich so verhält, fühlt sich die muntere Feierabendbetriebsamkeit an dieser Ecke für einen Augenblick so unwirtlich wie unwirklich an. Mehr kann man von einem Stück Literatur wohl nicht verlangen, als dass, nachdem man es gelesen hat, in der eigenen Gegenwart immer noch etwas anderes anwesend ist als das, was man mit Händen greifen kann. 

 

Irina Liebmann
Wäre es schön? Es wäre schön!
Berlin Verlag, Berlin 2008. 420 S., 19,90 €

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