
- Wie wir Sexisten zu Feministen wurden
Mit Sexismus setzen sich die meisten Männer kaum auseinander. Dabei verursachen sie ihn häufig selbst. Mit einer einfachen Frage war es unseren Gastautoren möglich, einen Perspektivwechsel einzuleiten. Etwas, das jeder Mann tun kann.
Die meisten Männer halten sich nicht für Sexisten, sie sind sie es aber. Hier ein sexistischer Witz, da die Kollegin im Meeting übertönen, oder die Erwartung, dass andere auf der Straße Platz machen. Wer sich als Mann im Alltag bewegt, merkt oft gar nicht, wie sehr die eigenen Verhaltensweisen anderen, besonders aber Frauen, die Luft zum Atmen nehmen können. Auch wir haben uns lange so verhalten, bis wir anfingen das zu hinterfragen, was wir oftmals unreflektiert und automatisch tun.
Gerade beim Thema Sexismus ist es ein großer Unterschied, ob man das Problem in der Theorie kennt oder ob es einem hautnah im eigenen Leben begegnet. Die meisten werden theoretisch anerkennen, dass echter Hunger furchtbar ist, dennoch haben die wenigsten Menschen, die diesen Artikel lesen, echten Hunger jemals erlebt. Genauso verhält es sich auch mit Männern und der Erfahrung von Alltagssexismus. Viele Männer mögen eingestehen, dass es das Problem im Allgemeinen gibt. Doch wie es sich konkret anfühlt, was es systemisch bedeutet und dass sie gar selbst Teil des Problems sind – diese Aspekte bleiben für viele Männer im Dunkeln. Wir wissen das, denn genauso ging es uns.
Ein Raum, zwei Lebenswelten
Seit drei Jahren unterstützen wir UN Women Deutschland als zwei von mittlerweile sechs „HeforShe-Botschaftern“. Die UN-„HeForShe-Kampagne“, gestartet 2014 in New York, hat das Ziel, möglichst viele Männer für den Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit und gegen Sexismus zu sensibilisieren. In unserer Vortrags- und Beratungsarbeit über die letzten Jahre konnten wir wichtige Lektionen lernen, allen voran aber etwas, das sich das Zwei-Welten-Modell nennen ließe.
Männer und Frauen mögen im selben physischen, politischen oder ökonomischen Raum leben, sind aber mit sehr unterschiedlichen Lebenswelten und -realitäten konfrontiert. Das abendliche Fahren in der U-Bahn, die Kleidungswahl für das Büro am Morgen oder das Lesen von Kommentaren unter Social-Media-Posts kann je nach Geschlecht eine sehr unterschiedliche Erfahrung sein.
Männern ist ihr Privileg nicht bewusst
Wir wollen und können nicht alle Männer und Frauen (und alle außerhalb des binären Spektrums) über einen Kamm scheren, aber in der Tendenz erleben die meisten Frauen täglich Formen von Sexismus, Diskriminierung und Einschränkung – und ihnen ist diese Tatsache meist bewusst. Männer hingegen erleben in der Mehrheit keinen oder nur einen sehr subtilen Sexismus – ihnen ist dieses Privileg hingegen oft nicht bewusst.
In unserer Beobachtung gehen vielen Männer in der Folge davon aus, dass Sexismus (und bei weißen cis-Männern generell jegliche Formen von Diskriminierung) nur äußerst selten vorkommt, sich auf andere soziale oder kulturelle Bereiche als die ihren beschränkt, generell überbewertet wird oder sie nichts damit zu tun haben. Frauen hingegen wissen, dass Diskriminierung Alltagssache ist, und können kaum verstehen, wie viele Männer diesen omnipräsenten gesellschaftlichen Missstand übersehen können. Wenn nun Umfragen zeigen, dass eine weite Mehrheit von 61 Prozent der deutschen Männer glaubt, die Gleichberechtigung sei weitestgehend schon erreicht, hingegen 59 Prozent der Frauen zur Einschätzung kommen, sie sei noch weit entfernt, zeigt dies deutlich, wo das Problem liegt. Wie können wir diesen Unterschied in der Wahrnehmung überwinden und Männer zu Verbündeten statt zu Blockierern von Gleichberechtigung machen?
Eine Frage, die alles verändert hat
Wir sind überzeugt: Es braucht einen Perspektivwechsel – und wir Männer können und müssen ihn mit einleiten. Auf unserem Weg hat dabei eine einfache Frage eine zentrale Rolle gespielt: „Was sind deine Erfahrungen mit Sexismus?“ Diese Frage haben wir Frauen in unserem Umfeld gestellt und dann einfach zugehört. Was wir zu hören bekommen haben, hat uns bewegt und verändert, oft auch schockiert.
So erwähnte Vincents Frau bei einem dieser Gespräche, dass sie nachts auf der Straße ab und zu ihren Schlüssel zwischen den Fingern hält – für alle Fälle. Für Vincent kam das als echte Überraschung. Ein Schlüssel war ihm als potenzielle Waffe der Selbstverteidigung noch nicht in den Sinn gekommen. Ein paar Wochen später waren wir an der Leuphana-Universität eingeladen für eine Podiumsdiskussion zu Feminismus. Auf die Frage an das gemischte Publikum, wer den Schlüsseltrick kennen würde, meldeten sich unverzüglich fast alle Frauen im Raum. Kaum einer der Männer wusste von dieser Methode. Nächtliche Straßen sind für Männer und Frauen derselbe geografische Raum, die Erfahrungswelt ist aber eine gänzlich andere.
Erst nach dieser Schilderung konnte Vincent beginnen, seine eigene Präsenz im öffentlichen Raum zu überdenken, und erkannte, dass auch er nachts immer mal wieder unreflektiert hinter einer Frau die Straße runterlief oder nichts unternahm, als ein Mann in der U-Bahn lautstark und minutenlang das Aussehen einer jungen Frau kommentierte. Der Perspektivwechsel hat ihn verändert und gezeigt, dass schon kleine Gesten und Verhaltensweisen zu viel Unbehagen oder umgekehrt zur Verbesserung führen können.
Ratschläge und Wertungen statt Zuhören
Martin erfuhr in Gesprächen mit seiner Ziehschwester davon, wie unangenehm es für sie ist, dass er bei Äußerungen von ihr, nicht einfach zuhört, sondern gleich mit Ratschlägen oder Wertungen um die Ecke kommt. Nach diesen und weiteren Gesprächen wurde ihm erst bewusst, wie oft er Frauen in Besprechungen oder Gespräche unterbrochen oder sogar verbessert hatte. Er betrieb Mansplaing und nahm oft ungefragt Raum für sich ein, ohne darauf zu achten, was dies mit seinem Gegenüber tut. Heute kommt er hinter die Schilderungen seiner Schwester nicht zurück. Sie haben sein Verhalten im beruflichen und privaten Kontext nachhaltig verändert. Er hat gelernt, bewusster zuzuhören, empathievoller auf die Perspektive anderer einzugehen und weist heute andere Männer auch mal darauf hin, wenn sie eine Frau übergehen oder lautstark übertönen.
Auch außerhalb der Familie setzte sich das Muster fort. Je mehr wir fragten, desto mehr hörten wir. Von der Studentin, die im vollen Bahnhof sexuell belästigt wurde; von der Professorin, der männliche Kollegen empfahlen, doch lieber zu Hause bei den Kindern zu bleiben; von der Autorin, die fast täglich Todes- und Vergewaltigungsdrohungen per E-Mail erhält; von der Forscherin, die nur knapp einer Vergewaltigung entging; von der Beamtin, die bei anstehenden Beförderungen von ihrem männlichen Chef jahrelang außen vor gelassen wurde.
Wie der Perspektivwechsel für Fortschritt sorgen kann
Die Beispiele illustrieren, welche Unterschiede in der Erfahrungswelt zwischen vielen Männern und Frauen existieren, aber auch, dass Männer Teil der Lösung sein können, wenn wir uns auf den Perspektivwechsel einlassen. Uns war nach den Gesprächen schnell klar, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher, weil wir verstanden hatten, wie destruktiv und sogar toxisch männliches Verhalten und Unwissen sein können.
Die Gespräche haben uns geholfen, zu verstehen, dass all die Statistiken zu Sexismus und Geschlechteruntergerechtigkeit keine abstrakten Zahlen sind, sondern handfeste und hundertfach gemachte Erfahrungen von Frauen in unserem Umfeld. Das Problem wurde persönlich und damit relevant. Der Perspektivwechsel war es, der uns von unbewussten Sexisten zu Feministen gemacht hat.
Sexistisches Verhalten ist kein Naturgesetz
Auch wenn noch einiges an Arbeit vor uns liegt und es für uns noch vieles zu lernen gibt, so sind wir dennoch überzeugt, dass unsere Gesellschaft eine bessere wäre, wenn alle Männer anfangen würden, den Frauen in ihrem Umfeld die Frage nach ihren Erfahrungen mit Sexismus ernsthaft und unvoreingenommen zu stellen. Sexistisches Verhalten ist kein Naturgesetz, es ist ein Verhalten, das wir ablegen können. Dafür braucht es das bewusste Eintauchen in die Problematik und damit die Möglichkeit des Aufbauens von echtem Verständnis und echter Empathie aufseiten der Männer. Ohne diesen Perspektivwechseln werden viele Männer das Problem weiterhin verkennen und fallen damit als Verbündete aus.
Ganz klar: Ein Gespräch zwischen Männern und Frauen kann nicht alle Probleme des Sexismus auf einmal lösen und patriarchale Strukturen, die über Jahrhunderte entstanden sind und von denen Männer tagtäglich profitieren, über Nacht auflösen. Und auch erscheint es uns nicht ganz fair, dass wir wieder Frauen bitten müssen, uns das Problem zu erklären. In einer idealen Welt würden sich Männer selbstständig und pro-aktiv informieren, verstehen, wie unmittelbar und relevant das Thema ist, und selber herausfinden, wie sie Diskriminierung abbauen können. In einer solchen idealen Welt leben wir aber nicht. Noch nicht. Das Fragen und Zuhören – der Perspektivwechsel – aber ist ein Schritt in Richtung dieser besseren Welt.