Rücktritt der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus - Der Fall als Chance

Mit dem Rücktritt der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus ist die Missbrauchskrise auch im Herzen der Evangelischen Kirche angekommen. Es muss der Beginn eines grundlegenden Neuanfangs sein, auch was den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt angeht.

„Absurde und schädliche Verschiebung“: Nach ihrer Rücktrittserklärung verlässt Annette Kurschus den Saal / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

So erreichen Sie Volker Resing:

Anzeige

Die oberste Protestantin in Deutschland ist zurückgetreten. Das ist ein kluger Schritt, keineswegs ein zwangsläufiger Schritt. Die Vorwürfe gegen die westfälische Präses waren mitnichten so gravierend, als dass ein Rückzug von allen Ämtern unausweichlich erschienen wäre. Die EKD-Ratsvorsitzende hat sich in verblüffender Weise an ihrer Vorgängerin im Amt ein Beispiel genommen. Ähnlich wie Margot Käßmann 2010 gab Annette Kurschus schnell und entschlossen ihre Ämter auf, bevor ein zähes und langes mediales Ringen um Schuld, Wahrheit und Verantwortung losgebrochen wäre, das Person und Kirche gleichermaßen Schaden zugefügt hätte. Rücktritte können einem zur Ehre gereichen. Zur bekanntesten Theologin Deutschlands wurde Käßmann erst ohne Ämter. 

„Inzwischen hat die Frage nach meiner Glaubwürdigkeit eine derartige Eigendynamik entfaltet, dass eine absurde und schädliche Verschiebung eingetreten ist“, schreibt Kurschus in ihrer persönlichen Erklärung. Kurschus hat erkannt, dass bei diesem sensiblen Thema Aufklärung nicht aus der Position der Angeklagten gelingen kann, selbst wenn die Anklage sich als unbegründet herausstellen sollte. Der katholische Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hat das offenbar bis heute noch nicht wirklich verstanden. Oder es ist der Papst, der es nicht verstanden hat, der hat nämlich das formale Rücktrittsangebot des Erzbischofs bislang nicht angenommen. Der Schutz der kirchlichen Institution war falsch und verheerend, als es um die Vertuschung von Missbrauchsfällen ging. Der Schutz der Institution und ihrer Ämter ist richtig, wenn es um Leitungspersonen und Bischöfe und ihre Verantwortung geht. Da ist ein Rücktritt mehr immer besser als einer zu wenig.

Weder die katholische noch die evangelische Kirche sind „Täterorganisationen“

Mit dem Rücktritt von Annette Kurschus ist aber auch klar, dass die Missbrauchskrise im Herzen der Evangelischen Kirche angekommen ist. Im Schatten der Katholischen Kirche, der oft zu Recht, manchmal zu Unrecht, die ganze Härte der öffentlichen Aufmerksamkeit zukam, wird die christliche Schwesterkirche ihre Angelegenheiten nun nicht mehr regeln können. Dass mit Kirsten Fehrs nun ausgerechnet jene Hamburger Bischöfin kommissarisch den EKD-Vorsitz übernimmt, die seinerzeit in der Kampfabstimmung mit Kurschus um den EKD-Ratsvorsitz unterlegen ist, auch weil ihre Arbeit als Missbrauchsaufklärerin umstritten war, entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie. Vor der Evangelischen Kirche liegt nun die Aufgabe, ähnlich wie bei den katholischen Schwestern und Brüdern in Christo, eines grundlegenden Erneuerungsprozesses, der auch personell noch weitere Folgen haben wird. 

 

Mehr zum Thema Kirche:  

 

Weder die katholische noch die evangelische Kirche sind „Täterorganisationen“. Diese Selbstbezichtigung, die manchmal die Runde macht, ist fatal, selbstzerstörerisch und verkennt die dramatische allgemeine Lage. Wer seine Kinder in die kirchliche Jugendgruppe schickt, setzt den Nachwuchs nicht einer größeren Gefahr aus als auf dem Sportplatz oder in der Musikschule. Missbrauch und sexuelle Gewalt sind ein gesellschaftlicher Skandal. Wer meint, mit der Konzentration bei diesem Thema auf die (katholische) Kirche könnte man von der eskalierenden Situation in Familien, aber auch in Vereinen und Schulen, ablenken, hat sich getäuscht. Die Kirchen müssen sich natürlich um den jeweils eigenen Laden kümmern, müssen mit ihrer Aufklärungs- und Präventionsarbeit zu Vorbildern werden – und sind es teilweise sogar schon. Aber die allgemeine öffentliche Wahrnehmung muss sich korrigieren, auch dafür kann dieser Rücktritt von Annette Kurschus ein Signal sein.

Rücktritte sind auf die Person bezogen nicht immer gerecht. Im Fall Kurschus müssen die Details sicher noch analysiert werden. Sie selbst erklärt, dass sie sich keiner Schuld bewusst ist. „In der Sache bin ich mit mir im Reinen“, schreibt sie. „Ich habe zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.“ Tatsächlich geht es um einen Fall, der Jahrzehnte zurückliegt. Der Beschuldigte gehörte zu ihrem Freundeskreis, bislang ist nicht bekannt, dass sie dienstlich mit ihm zu tun gehabt hätte. Doch in beeindruckend offener Weise lässt uns Kurschus an ihren privaten Rückblick teilhaben, der dann doch zum Kern des gesellschaftlichen Problems führt.

Selbstverzwergung aus Angst vor der Wahrheit

„Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden.“ Und sie fügt noch einen Satz an, den auszusprechen durchaus mutig ist. „Ich habe allein die Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen.“ Viele Facetten des kirchlichen und gesellschaftlichen Missbrauchsskandals lassen sich an diesen Sätzen ablesen. Es fehlte vielen die Sensibilisierung, es fehlte der Blick auf die Opfer und es fehlte ein geschulter Umgang mit Tabus. Kurschus kann also mit ihrem Rücktritt, wenn sie und ihre Kirche entsprechend handeln, nun manches Positive bewirken. Ähnliche klare und deutliche Zeichen braucht es auch weiterhin in der katholischen Kirche. 

Annette Kurschus stand in ihrer zweijährigen Amtszeit auch für die Fortsetzung des stark politisierten Kurses ihres Vorgängers Heinrich Bedford-Strohm. Zuletzt hatte sie noch in einem Interview mit der FAZ erklärt, Deutschland habe keineswegs genug Migranten, von einer Überlastung könne auf das ganze Land gesehen nicht die Rede sein. Auf der zurückliegenden Synode in Ulm gab es seit langem endlich mal wieder Streit und eine lebhafte Debatte statt des üblichen lähmenden allgemeinen Konsenses. Umstritten ist vor allem auch das Ansinnen der EKD, in Fragen des Lebensschutzes auf die Linie der Ampel einzuschwenken. 

Vergangene Woche hatte sich die EKD auch noch in einer von ihr beauftragten Umfrage bescheinigen lassen, dass die Christen in Deutschland weniger Gottesdienste, dafür mehr politische Äußerungen wollten. Der bisherige Kurs sei also richtig, trotz der auch bei den Protestanten dramatischen Mitgliederverluste. Findet da nicht eine Selbstverzwergung aus Angst vor der Wahrheit statt? Durch den Rücktritt von Kurschus könnte auch ein grundlegender Selbstbestimmungsprozess in Gang kommen. Wo will die Kirche hin? Will sie Glaubensgemeinschaft bleiben oder gut organisierte NGO werden? Einen Neuanfang muss es jetzt in jedem Fall geben.

Anzeige