Osten und Westen - Der Bullshit-Detektor

Mehr als 30 Jahre nach der Wende scheinen der Osten und der Westen Deutschlands wieder auseinanderzudriften. Dafür gibt es Gründe – und Lösungen. Es braucht keine Belehrungen, sondern einen historischen Kompromiss.

Bei einer Tauschaktion von West- gegen Ost-Zigaretten auf dem Kurfürstendamm in Berlin, Dezember 1989 / Hans Peter Steibing
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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„Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört“, sagte Altkanzler Willy Brandt am 10. November 1989 in Berlin anlässlich des Mauerfalls auf die Frage eines Journalisten, was denn nun in ihm vorginge. Das Land war damals von einer tiefen Sehnsucht nach Freiheit in Einigkeit erfasst. Für ein paar Jahre noch sollte zwar allerorten von „Ossis“ und „Wessis“ die Rede sein. Aber allseits herrschte Zuversicht vor, dass alles nur eine Frage der Zeit sei. 

Doch der Wille zur Einigkeit scheint inzwischen aufgezehrt. Fast wirkt es, als hätte es die vergangenen drei Dekaden gar nicht gegeben. Am deutlichsten wird dies an den Umfragewerten der AfD: Im Westen erreicht die Rechtspartei um die 10 Prozent, manchmal liegen sie auch etwas darüber. Im Osten dagegen ist sie auf dem Weg zur bestimmenden Volkspartei. Egal wohin man blickt: Sie kommt laut Umfragen auf ungefähr 30 Prozent, manchmal sogar mehr. Und in den meisten ostdeutschen Ländern liegt sie damit auf Platz eins. 

Vergessene Wendepersönlichkeiten

Auch eine aktuelle Erhebung des Else-Frenkel-­Brunswik-Instituts der Universität Leipzig zeigt ein gespaltenes Land. Während sich mehr als 90 Prozent der Ostdeutschen zur Idee der Demokratie bekennen, sind mit ihrer Praxis nur knapp 40 Prozent zufrieden. Fast 80 Prozent leben in dem Gefühl, keinen Einfluss auf die Politik zu haben. Was eigentlich zusammenwachsen sollte, strebt mit Macht wieder auseinander.

Um ein Gefühl für das Unbehagen gebürtiger Ostdeutscher mit den Verhältnissen im 33. Jahr nach der Wiedervereinigung zu bekommen, empfiehlt sich ein Treffen mit einem der damaligen Protagonisten. Etwa mit Markus Meckel: Der Theologe war schon in den 1970er Jahren in der DDR-Opposition aktiv, im Herbst 1989 zählte er zu den Mitbegründern der Ost-SPD, für die er später mit am legendären „Runden Tisch“ saß, wo über die Zukunft des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaats verhandelt wurde. Meckel hat eine gewisse historische Berühmtheit erlangt als „letzter Außenminister der DDR“, dem Bundestag gehörte der heute 70-Jährige von 1990 bis 2009 als Gestalter der DDR-Aufarbeitung an.

 

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Es sind Menschen wie er, die den Stein damals ins Rollen gebracht haben. Und es ist durchaus bezeichnend, dass sie in der offiziellen Erinnerungskultur kaum eine Rolle spielen. Im Gegensatz zu anderen Wende-Persönlichkeiten – vornehmlich solche aus dem Westen – wird man auch Meckel bei Einheitsfeierlichkeiten vergeblich suchen; dass er dorthin gar nicht erst eingeladen wird, nimmt er gelassen. Es gehe ihm nicht um seine Person, sagt er bei einem Treffen im Westberliner Bezirk Schöneberg, wohl aber um den grundsätzlichen Respekt gegenüber seinen Landsleuten und Mitstreitern aus dem Osten. Bei öffentlichen Debatten über das innerdeutsche Verhältnis würden stets 80 Prozent der Bevölkerung über die restlichen 20 Prozent der Menschen im Osten des Landes reden: „Da tut sich also ein gewaltiges Missverhältnis in puncto politischer Repräsentanz in der Öffentlichkeit auf.“

Die 4 Monate des Runden Tisches

Markus Meckels Vollbart ist nicht mehr so wallend wie vor drei Jahrzehnten, Sandalen trägt er allerdings immer noch. Wenn er auf die Wendezeit zurückblickt und Revue passieren lässt, was seither geschah, wirkt er kein bisschen verbittert – da entspricht er ganz dem Bild des optimistischen evangelischen Christenmenschen.

Gleichwohl will er die Erzählung zur deutschen Wiedervereinigung, wie sie sich inzwischen schulbuchtauglich durchgesetzt hat, so nicht stehen lassen. Demnach haben die mutigen Menschen auf den Straßen der DDR die Mauer zwar zu Fall gebracht – um hinterher aber gewissermaßen wieder in der Anonymität zu verschwinden. „Und dann kam Helmut Kohl und hat die deutsche Einheit bewerkstelligt – das ist die übliche Wende-Geschichte, um die herum noch ein paar Leute wie Gorbatschow oder der damalige US-Präsident George Bush gelobt werden.“

Helmut Kohl spricht auf dem Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) in Leipzig, 14. März 1990 /Claudio Hils/Agentur Focus 

Fast vergessen ist heute, dass es nach dem 9. November 1989 noch vier Monate lang eben jenen Runden Tisch gab, an dem er und andere Vertreter einer demokratisch gewählten Regierung der DDR auf der einen und Politiker aus der Bundesrepublik auf der anderen Seite den Einigungsvertrag ausgehandelt haben – strukturell also auf Augenhöhe. Meckels Fazit: „Der aufrechte Gang, mit dem wir damals selbstbestimmt in die deutsche Einheit gegangen sind, spielt in der offiziellen Erinnerungskultur so gut wie keine Rolle mehr.“

Das Handeln der Treuhand

Ein ähnliches Phänomen lässt sich rückblickend für eine andere Ebene konstatieren, nämlich die ökonomische. Meckel erwähnt die Treuhandanstalt, und „ich will überhaupt nicht bestreiten, dass es diese Einrichtung brauchte, um die volkseigenen Betriebe der DDR zu privatisieren“. Aber die Treuhandanstalt war ja tatsächlich eine bereits nach der ersten freien Volkskammerwahl vom demokratisch legitimierten Parlament in Ostdeutschland gegründete Institution – die damals dem Amt des Ministerpräsidenten der DDR zugeordnet war.

„Nach der Einheit wurde sie dann dem Bundesfinanzministerium unterstellt, weil man durch die Privatisierungserlöse vor allem die Kosten der deutschen Einheit decken wollte.“ Die ursprünglich volkswirtschaftlich-strukturpolitische Dimension der Treuhandanstalt sei dann rein betriebswirtschaftlichen Kriterien gewichen; „nur selten wurde saniert, was an verschiedenen Stellen durchaus sinnvoll gewesen wäre“, sagt Meckel.

Später dann, nach den großen Privatisierungen, kamen andere Enttäuschungen dazu. Meckels früherer Wahlkreis etwa war in der Uckermark, wo auch die Stadt Schwedt liegt – bereits zu DDR-Zeiten ein bedeutendes Zentrum der petrochemischen Industrie. „Nach der Wende wurden dort Milliardensummen investiert, aber die Steuern haben die Firmen weiterhin an ihrem Unternehmenssitz gezahlt, nämlich im Westen.“

Der „Ausverkauf“ der Heimat

Die Gemeinden vor Ort seien also praktisch leer ausgegangen. Stattdessen hätte man festlegen sollen: Der Standort der Investition ist auch der Ort, an dem die Steuern fällig werden. „Hier ging es letztlich um klare finanzielle und strukturpolitische Eigeninteressen der alten Bundesrepublik“, konstatiert Meckel.

Und noch etwas dürfte hinzukommen. Dass der Westen der Republik Milliarden und Abermilliarden aufbrachte, um den Brüdern und Schwestern im Osten unter die Arme zu greifen, führte im Osten nicht nur zu Begeisterung. Was im Westen vielfach als mangelnde Dankbarkeit interpretiert wird, hat dabei einen verständlichen Grund: Dem Einkommenstransfer an der Oberfläche stand ein Eigentumstransfer in den Tiefen der Gesellschaft mit umgekehrter Fließrichtung gegenüber.

DDR-Außenminister Markus Meckel und 
Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher im Mai
1990 / dpa

Auch den organisierte die Treuhandanstalt. Schon bald gehörten zahlreiche ostdeutsche Immobilien in Bestlage und sonstige Ländereien westdeutschen Unternehmen oder Rechtsanwälten und Ärzten. Vielen Ostdeutschen erschien das wie der „Ausverkauf“ ihrer Heimat. Über die nötigen finanziellen Mittel, um beim großen Reibach mitzumachen, verfügten sie nicht. Der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann hat mit seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ genau auf diese Tatsache aufmerksam gemacht: „In Leipzig gehören 90 Prozent des Wohneigentums Menschen aus dem Westen. Da finde ich es nicht abwegig, den Vergleich zur Kolonisierung zu ziehen.“

Die PDS als ,therapeutische Partei‘

Markus Meckel nimmt bis heute regen Anteil am politischen Geschehen, aktiv setzt er sich unter anderem für die deutsch-polnische Verständigung ein. Aber natürlich blickt er auch mit Sorge auf die rapide steigenden Zustimmungswerte für die AfD in ganz Deutschland – und besonders im Osten. Parteien hätten dort bis heute einen schlechten Ruf, was zum einen an den damaligen Erfahrungen mit der SED liege. Aber eben nicht nur.

„Zu DDR-Zeiten war die CDU im Osten ja eine Blockpartei, aber kaum war die Mauer gefallen, wurden an der Spitze der DDR-CDU ein paar Leute ausgewechselt – und schon war eine ,demokratische‘ Partei daraus geworden.“ Viele Male habe er im Bundestag erlebt, dass frühere Mitglieder der alten Block-CDU, vormals Funktionäre an der Seite der SED, die Abgeordneten der PDS wegen ihrer Vergangenheit beschimpften – die teilweise sogar aus dem Westen kamen, mitunter schwierige Positionen vertraten, aber eben nicht selbst SED-Mitglieder waren, erinnert sich Meckel: „Ich habe die PDS deshalb immer eine ,therapeutische Partei‘ genannt, denn sie hat denjenigen, die sich mit der parlamentarischen Demokratie schwertaten, in ebendieser Demokratie einen legitimierten Ort gegeben – und sie daran gewöhnt.“

Inzwischen würden sich die Protestwähler, die ihre Stimme einst der PDS gaben, eher bei der AfD wiederfinden – „obwohl sie nicht darauf reduziert werden sollten“. Man stelle sich vor, die ostdeutschen Bundesländer wären heute ein eigenständiger Staat: „Dann wäre die Lage vermutlich ähnlich wie im Ungarn von Viktor Orbán oder wie in Polen mit der PiS-Partei.“ Kurzum: eine komplexe Gemengelage, für die es keine einfachen, keine eindimensionalen Erklärungen und erst recht keine einfachen Lösungen gibt.

Die fundamentalen Ost-West-Unterschiede

Wahrscheinlich hat man es daher auch gar nicht bloß mit einem Problem Ostdeutschlands zu tun. Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev etwa schreibt sich schon seit Jahren vergeblich die Finger wund, um dem europäischen Westen das Problem zu erklären. Die osteuropäischen Staaten unterscheiden sich Krastev zufolge von den westlichen insbesondere auch dadurch, dass sie in den 1960er und 1970er Jahren keine tiefgreifende Liberalisierung ihrer Gesellschaften erlebt haben. Das Jahr 1968 macht einen erheblichen mentalitätsgeschichtlichen Unterschied – mit langfristigen Folgen.

Es gab im Osten keine Studentenproteste, keine großen Friedensdemonstrationen, keine sexuelle Revolution, nicht die Gründung einer grünen Partei und auch keine Protestmärsche gegen die Stationierung von Langstreckenwaffen. Der Westen Europas hingegen erlebte unter hegemonialer Führung der USA seit dem Zweiten Weltkrieg Schritt für Schritt die Wiederherstellung der Globalisierung.

Die Wirtschaft wuchs, die Wohlfahrtsstaaten wurden ausgebaut. Die Arbeitsmigration gewann als Instrument der Wohlstandssicherung einen immer größeren Stellenwert – und damit einhergehend auch die Integration ausländischer Fachkräfte. Auslandsurlaube häuften sich, der Begriff der Nation verlor in einem zusammenwachsenden Europa immer mehr an Bedeutung. Spätestens mit dem Jahr 1986 trat die alte Bundesrepublik mit dem „Historikerstreit“ in ein Stadium „postkonventioneller Identität“ (Jürgen Habermas) ein.

Die Revolutionserfahrung

Schritt für Schritt veränderte die Bundesrepublik so ihr Gesicht. Immer in kleinen, für alle erträglichen Dosen. Als dann der Ostblock zusammenbrach, war der Westen Deutschlands kulturell bestens auf eine neue Stufe der Globalisierung vorbereitet. Es sollte ja nur intensiviert werden, was ohnehin schon alle irgendwie kannten. Also noch mehr wirtschaftliche Verflechtung, noch mehr europäische Integration. Noch mehr Weltoffenheit und noch mehr Liberalismus. Das galt zumindest in den städtischen Metropolen. Dort, wo die Entscheider sitzen.

Von all dem wusste der Osten zum Zeitpunkt der Wende nichts, er war eine durch und durch konventionelle Gesellschaft. Nicht Weltoffenheit, sondern Sicherheit, Ordnung und Überschaubarkeit waren die Devisen – und sind es im Grunde bis heute. Zumindest aus der Perspektive westdeutscher Eliten leidet Ostdeutschland daher unter einem kulturellen Modernisierungsrückstand. Wenn die Differenzierung zwischen weltoffenen Liberalen und traditionalen Konservativen überhaupt einen analytischen Wert hat, dann zur Beschreibung dieser innerdeutschen Mentalitätsunterschiede. Im Grunde verläuft die Grenze zwischen Ost- und Westeuropa zumindest in dieser Hinsicht mitten durch Deutschland.

Kundgebung mit dem westdeutschen Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden, Dezember 1989 / Jens Rötzsch/OSTKREUZ

Es sind also nicht wirtschaftliche Probleme, die das politische Auseinanderdriften von Ost und West erklären. Es gibt keine Massenarbeitslosigkeit mehr. Die Löhne steigen, die Ostrenten sind an die des Westens angeglichen. Aber gerade weil das Fressen vor der Moral kommt (Bertolt Brecht) und das Fressen längst gesichert ist, rücken zunehmend wieder Fragen der Moral und der politischen Identität in den Vordergrund. Denn es gibt etwas Zweites, das den Osten vom Westen unterscheidet: die Erfahrung einer politischen Revolution, das Bewusstsein über die selbst erkämpfte Freiheit. Man kann dieses tief verankerte Gefühl kaum überschätzen. 

Feinfühlige Freiheits-Antennen

Der Westen der Republik hingegen kannte nur die militärische Niederlage und den Wiederaufbau unter den strengen Augen der Alliierten. Er wurde behutsam hineinsozialisiert in die Demokratie. Im Osten war das anders. Auf eine jahrzehntelange Einschränkung der Meinungs- und politischen Freiheit folgte in ganz Osteuropa die Selbstermächtigung zum politischen Bürger im besten Sinne des Wortes. Die „Wende“ wird dort nicht nur als der Neubeginn der Demokratie, sondern vor allem als die Wiederherstellung von Freiheit und Selbstbestimmung verstanden.

Gerade deshalb reagieren Ossis so sensibel und gereizt auf Versuche, die Grenzen des Sagbaren enger zu ziehen, auf staatliche Erziehungsversuche und medial vermittelte Meinungskorridore. Während Euro- und Flüchtlingskrise ostdeutsche Erwartungen an staatlich organisierte Sicherheit und Ordnung enttäuschten, führte die Corona-­Pandemie zu Freiheitseinschränkungen, von denen nicht einmal Walter Ulbricht und Erich Honecker zu träumen wagten.

Jener Staat, der sich über Jahre hinweg als unfähig erwies, gesellschaftliche Probleme zu lösen, langte in Sachen Unfreiheit bei seinen eigenen Bürgern umso entschlossener hin. Parallel dazu formierte sich der mediale Sektor nicht selten zu einer gleichförmigen Erziehungsmaschine. Wer dieser im öffentlichen Raum entgegentrat, hatte mit sozialen Konsequenzen zu rechnen. Daran werkelte auch die Regierung selbst kräftig mit.

Die „Sächsische Längsschnittstudie“

In einem geheimen Papier des Bundesinnenministeriums vom April 2020 stand ausdrücklich geschrieben, man wolle durch Horrorerzählungen die „Urangst“ der Bevölkerung aktivieren und so eine „Schockwirkung“ erzielen. Für viele ehemalige DDR-Bürger küsste das alles düsterste Erinnerungen an längst vergangene Zeiten wach.

Wie also hat sich die Einstellung der Menschen, die in der DDR geboren wurden und die den Fall der Mauer bewusst erlebt haben, über die Jahrzehnte eigentlich verändert? Blicken sie mit Nostalgie auf ihre einstige Heimat zurück? Fühlen sie sich immer noch als „DDR-Bürger“ – oder mehr als „Gesamtdeutsche“? Sehen sie in der Wiedervereinigung einen Glücksfall der Geschichte – oder trauern sie dem Sozialismus hinterher? Dass es auf diese Fragen valide Antworten gibt, verdankt sich der Arbeit des Leipziger Sozialwissenschaftlers Peter Förster, der von 1966 bis 1990 am Zentral­institut für Jugendforschung der DDR tätig war und noch vor der Wende eine umfangreiche Erhebung initiierte, die bis heute von seinen Nachfolgern am Laufen gehalten wird: die „Sächsische Längsschnittstudie“.

1987 wurden dafür erstmals mehr als 1400 Schülerinnen und Schüler der achten Klasse an 41 Schulen in Leipzig und Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) beispielsweise zur Identifikation mit dem politischen System der DDR oder zu ihrem Interesse an Politik befragt. Dieselbe Gruppe – also allesamt Menschen, die im Alter von etwa 16 Jahren die Wende aus östlicher Perspektive erlebten und die heute um die 50 sind – ist später in regelmäßigen Abständen immer wieder gebeten worden, Auskunft über ihre Befindlichkeit zu erteilen (zum vorerst letzten Mal im Jahr 2022).

Die Sozialismus-Nostalgie

Wobei die Ergebnisse äußerst bemerkenswert sind, weil sie ein teilweise sehr widersprüchliches Bild abgeben. So antworteten beispielsweise im Jahr 1990 bereits 73 Prozent der Befragten auf die Frage, wie sie „zur Vereinigung von DDR und BRD“ stünden, mit Zustimmung. 2020 war dieser Wert („sehr dafür“ und „eher dafür“) sogar auf 93 Prozent gestiegen. Eine überwältigende Mehrheit steht also hinter der Wiedervereinigung; Tendenz während der ersten drei Jahrzehnte deutscher Einheit (von ein paar zwischenzeitlichen Dellen abgesehen): stetig steigend.

Seltsam allerdings, dass etwa ein Fünftel der Befragten im Verlauf der Jahrzehnte der DDR gewissermaßen die Treue gehalten hat: Im Jahr 2000 antworteten 19,1 Prozent, sie wären „eher nicht“ froh, dass es die DDR nicht mehr gebe; 20 Jahre später lag dieser Anteil praktisch unverändert bei 19,2 Prozent.

Auch interessant sind folgende Zahlen: Im Jahr 2004 gab eine Mehrheit von 70 Prozent der Befragten an, dass sie den Sozialismus als eine „gute Idee“ ansähen; bei der jüngsten Befragungswelle war der Anteil zwar auf 48 Prozent zurückgegangen – womit aber immer noch fast die Hälfte aller Befragten dem Sozialismus grundsätzlich eher positiv gegenübersteht. „Hier zeigt sich ein vertrautes Muster“, sagt Hendrik Berth, der die „Sächsische Längsschnittstudie“ heute an der Technischen Universität Dresden federführend betreut: „Man erinnert sich an das Gute, man erinnert sich an seine Jugend – und daran, dass das Leben eben auch unter DDR-Bedingungen durchaus seine schönen Seiten hatte.“ Und wenn man speziell nach dem Sozialismus frage, „denken viele Leute auch an die positiven Sachen, die sie damit verknüpfen“, so der habilitierte Psychologe.

Die ostdeutsche Doppelidentität

Tatsächlich lassen die Studienergebnisse auf eine Doppelidentität der Befragten schließen: Seit 1990 fühlt sich ein ganz überwiegender Anteil (im Wesentlichen zwischen 80 und 90 Prozent schwankend) sowohl als ehemalige DDR-Bürger wie auch als Bürger der Bundesrepublik. Allerneuesten Zahlen zufolge, die aus einer Erhebung vom Ende des vergangenen Jahres stammen, sieht sich zudem jeder vierte Ossi von Wessis immer noch als „Deutscher zweiter Klasse“ behandelt; ein weiteres Drittel ist bei dieser Frage unentschieden.

„Eine nachvollziehbare Annahme, dass kurz nach der Wiedervereinigung die Identität als DDR-BürgerIn überwiegt und die staatsbürgerliche Identifikation mit der Bundesrepublik erst im Laufe der Jahre heranwächst, kann empirisch nicht bestätigt werden“, heißt es in der Studie wörtlich. Und weiter: „Ebenso erstaunlich ist, dass die Selbstwahrnehmung als BürgerIn der ehemaligen DDR im Zeitverlauf mit zunehmendem Abstand zur Wiedervereinigung nicht abnimmt“, sondern diese bei 91 Prozent noch vorhanden sei.

Fazit: Eine Doppelidentität sei der „Normalzu­stand“. Hendrik Berth geht sogar davon aus, dass die „DDR-Identität“ von einer Generation an die nächste weitergegeben wird – also auch an diejenige Alterskohorte, die bereits im wiedervereinigten Deutschland geboren wurde: „Es ist ja so, dass das zu DDR-Zeiten Erlebte in den Familien besprochen wird und auf diese Weise weiterlebt.“

Der demografische Aderlass

In gewisser Hinsicht ist der Osten also noch immer nicht im Westen angekommen. Dabei wird er an einer nachholenden, auch kulturellen Modernisierung kaum vorbeikommen. Andernfalls droht sein wirtschaftlicher Absturz. Während die Chancen für die junge Generation heute größer sind als jemals zuvor, könnte es in Ostdeutschland zur wirtschaftlichen Schrumpfung kommen – als Echoeffekt der einbrechenden Geburtenzahlen nach der Wende.

Jahr für Jahr werden zu wenige Menschen auf den Arbeitsmarkt nachrücken, Jahr für Jahr wird die Fachkräftelücke weiter anschwellen – und zwar in weit größerem Umfang als in Westdeutschland. Diejenigen, die im Wendeschock nicht geboren wurden, stehen heute als junge Fachkräfte auch nicht zur Verfügung. Damals reduzierte sich die Geburtenzahl praktisch von einem Tag auf den anderen um mehr als 50 Prozent.

Der demografische Aderlass war sogar größer als durch den Zweiten Weltkrieg. In den ersten Jahrzehnten nach der Wende war der ökonomische Hemmschuh zu wenig Kapital, jetzt sind es zu wenige Menschen. Lösen lässt sich das Problem nicht durch weitere Almosen des Westens. Erforderlich wäre vielmehr eine Modernisierungsstrategie, die sich mit Macht auf die Stabilisierung der Fachkräftesituation stürzt.

Eine geistige Neugründung der Republik

Und ohne gezielte Zuwanderung wird sich das kaum bewerkstelligen lassen. Die Ossis werden sich also entscheiden müssen: Wollen sie unter sich bleiben, wird dies mit der Gefahr des wirtschaftlichen Rückschritts verbunden sein. Wollen sie wirtschaftlich weiter zum Westen aufschließen oder zumindest nicht zurückfallen, müssen sie sich für die Welt öffnen. Die junge Generation Ostdeutschlands bringt die dafür erforderlichen mentalen Voraussetzungen eigentlich bereits mit. Aber auch die könnten wieder versiegen, wenn man der Bevölkerung eine ungesteuerte Flucht- und Armutsmigration weiterhin als Anhebung des Fachkräftepotenzials verkauft. Die Leute sind ja nicht blöd.

Die bloße Übertragung des westlichen Way of Life auf den Osten ist dabei nicht sonderlich erfolgversprechend. Das hat schon seit der Wende nicht richtig funktioniert. Hinzu kommt, dass sich auch zunehmende Teile Westdeutschlands unter Liberalität und Weltoffenheit etwas anderes vorstellen als die Unfähigkeit des Staates zur politischen Steuerung. Auch dort sind immerhin 40 Prozent unzufrieden damit, wie unsere Demokratie derzeit funktioniert. Nicht nur der Osten entfernt sich also vom Leitbild des Westens, auch große Teile des Westens selbst tun es. Da passt es ins Bild, dass die Führungskräfte der AfD überwiegend aus dem Westen stammen – und nicht aus dem Osten.

Eigentlich bräuchte es daher einen historischen Kompromiss, eine geistige Neugründung der Republik, um die in alle Himmelsrichtungen auseinanderstrebenden Teile beisammenzuhalten. Von allein jedenfalls werden die politischen und kulturellen Spaltungen der Gesellschaft nicht verschwinden. Eine Kombination der schon allein aus wirtschaftlichen Gründen erforderlichen Liberalität und Weltoffenheit mit klaren Ordnungsvorstellungen, die vom Staat garantiert werden, könnte die Grundlage dafür sein. Damit würde sich der Osten nicht einfach bloß in den Westen integrieren, sondern der Westen sich auch auf den Osten zubewegen. Nötig wären dafür allerdings die Bereitschaft zum Kompromiss und freie Diskursräume als echte Aushandlungsstätten der Demokratie.

Der Stolz auf die Montagsdemonstration

Die Wende? „Das war damals so ein überwältigendes Gefühl von Freiheit!“ Wolfram Ackner – inzwischen Anfang 50 und Familienvater – erinnert sich gern an damals. Wir sitzen im Garten seines Reihenhauses in einem Leipziger Randbezirk, Ackner hat draußen Gulasch auf einem selbst gebauten Ofen zubereitet. Für ihn als Schweißer ist Ofenbau die leichteste Übung. Kürzlich hat er einen stählernen Mikrofonständer für eine Metal-Band angefertigt, das Ding erinnert ein bisschen an ein urzeitliches Reptil.

Er ist selbst eingefleischter Heavy-Metal-Fan und bezeichnet sich leicht ironisch als „Proll“, weil er auf dem Bau arbeitet. Tatsächlich entspricht Ackner aber mehr dem Typ des Arbeiter-Intellektuellen: Auf Facebook kommentiert er das politische Geschehen regelmäßig mit triefender Ironie, gelegentlich veröffentlicht er auch Beiträge im Internet.

1989 war er bei den Leipziger Montagsdemonstrationen dabei, „da haben uns die Polizisten durch die ganze Stadt gejagt mit den Knüppeln“. Ackner war damals 19 Jahre alt, hin- und hergerissen zwischen Mut, Draufgängertum und Angst, „und als wir in der Innenstadt auf dem Augustplatz ankamen, habe ich noch nie in meinem Leben solche Menschenmassen gesehen“. Es sei ein überwältigendes Gefühl von Stolz und Erleichterung gewesen, „weil du wusstest, wir sind einfach viel zu viele, als dass die wirklich was gegen uns machen können“.

Bei der Politik endet der Spaß

Und dann die Wochen und Monate nach den großen Demos, als der Dirigent Kurt Masur ins Gewandhaus zu politischen Diskussionen einlud: Da waren Leute aus der DDR-Nomenklatur, die sich das erste Mal ernsthaft Diskussionen stellen mussten, genauso vertreten wie einfache Bürger. „Alle gingen hin und wollten diskutieren, die ganzen Verkrustungen waren über Nacht aufgebrochen, es herrschte fast eine Art Anarchie.“

Wolfram Ackner hat seine neu gewonnene Freiheit in den Jahren nach der Wende in vollen Zügen genutzt: Mit Freunden fuhr er im Zug durch Europa, verbrachte etliche Monate in Südafrika – um danach den Kontostand durch Überstunden-Maloche auf dem Bau wieder aufzufüllen. Noch immer steht er morgens um halb fünf auf, trotz mieser Konjunktur geht die Arbeit nicht aus. Mit dem Geld kommt er einigermaßen über die Runden, auch wenn bei drei schulpflichtigen Töchtern und einem einfachen Gehalt am Ende des Monats nicht viel übrig bleibt.

Aber Jammern ist sein Ding nicht, er blickt grundsätzlich mit einem gesunden sächsischen Humor auf die Welt.
Nur wenn es um Politik geht, schwillt ihm mitunter der Kamm. Begonnen habe das damals mit der Pleite von Lehman Brothers und der großen Finanzkrise im Jahr 2008, als etliche Banken mit Steuergeld gerettet werden mussten und später dann auch noch der griechische Staatshaushalt. „Da fing das bei mir an mit der Unzufriedenheit, weil ich immer mehr das Gefühl hatte, von der Politik nicht ernst genommen zu werden.“

In die AfD und wieder raus

Anstatt den Menschen zu sagen, was Sache ist, sei die Notlage permanent heruntergespielt worden: „Für mich wäre es kein Problem gewesen, wenn die Bundesregierung klar verkündet hätte, dass es nur die Wahl zwischen mehreren schlechten Optionen gibt.“ Stattdessen aber seien die Bürger mit hohlen Phrasen traktiert worden – wie später in der Flüchtlingskrise auch. „Und als jemand, der in der DDR aufgewachsen ist, habe ich einfach einen besseren Bullshit-Detektor als die Leute im Westen.“

Ackner wurde Mitglied der neu gegründeten AfD, als diese noch eine „Professoren-Partei“ war, „weil ich es toll fand, dass da eben nicht alles als alternativlos hingestellt wurde“. Lange blieb er nicht dabei, weil zunehmend Leute dazukamen, die „dumpfes, rechtes Gebrabbel“ von sich gegeben hätten: „Nichts Dramatisches, aber einfach unappetitliches, dummes Zeug.“ Trotzdem kommt er bis heute nicht damit klar, wie die meisten Medien und die etablierten Parteien mit der AfD umgehen.

Ähnliche Mechanismen wie in der DDR

Zum Beispiel gerade erst nach der Landratswahl im thüringischen Sonneberg, bei der ein AfD-Kandidat das Rennen machte: „Wenn daraufhin der thüringische Verfassungsschutzchef verkündet, jeder fünfte Deutsche gehöre zum ,braunen Bodensatz‘, dann ist das einfach nur noch lächerlich.“ Bei ihm auf dem Bau würden sicherlich die meisten Kollegen die AfD wählen, „das sind doch keine Nazis“. Oder die Leipziger Anti-Islam-Demos vor ein paar Jahren, bei denen er zwar nicht aktiv dabei war. Aber selbst miterlebte, wie auch friedliche Teilnehmer von angereisten Gegendemonstranten bespuckt wurden. „Das war wie ein Spießrutenlaufen.“

AfD-Party nach der gewonnenen Landratswahl im
 thüringischen Sonneberg am 25. Juni 2023 / Agentur Focus

Wolfram Ackner ist weit davon entfernt, die politische Situation im wiedervereinigten Deutschland von heute mit den Verhältnissen in der DDR gleichzusetzen. Aber manche Mechanismen würden ihn durchaus an damalige Zeiten erinnern. Gerade in der Nachwendezeit habe er sich nie als Ostdeutscher definiert, sondern immer als Deutscher. Heute sagt er: „Diesen positiven Patriotismus, den ich mal hatte, den haben sie mir gründlich ausgetrieben.“

Was der Westen vom Osten lernen kann

Wer heute allerdings auf die Idee kommt, die Bundesrepublik mit der DDR auch nur zu vergleichen, gilt dem Verfassungsschutz schnell als „Delegitimierer“ des Staates, also als Verfassungsfeind. Ausgedacht hat sich der Inlandsgeheimdienst diese neue Kategorie ausgerechnet während der Corona-­Pandemie. Als Tausende Bürger gegen die rigiden Freiheitseinschränkungen der Regierung auf die Straße gingen, schrillten bei den Verfassungsschützern die Alarmglocken. Denn eines sei inakzeptabel: wenn „demokratisch gewählte Repräsentanten des Staates verächtlich“ gemacht würden.

Aber was ist das eigentlich, eine „Verächtlichmachung“? Und wann genau wird sie erreicht? Bei jedem gelernten DDR-Bürger werden bei derartigen Vokabeln schlechte Erinnerungen wach. Nach dem Strafgesetzbuch der DDR in der Fassung vom 12. Januar 1968 galt als „Staatsverleumder“, wer öffentlich „die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen (…) verächtlich macht oder verleumdet“. Die Entfremdung so manches Ostdeutschen von der politischen Kultur der Bundesrepublik findet auch in diesen Parallelen ihren Grund. Die Liberalität des Westens scheint dort ihre Grenze zu finden, wo nicht alle auf gewünschte Weise mit den Wölfen heulen. Ossis verfügen mitunter aber nicht nur über einen sensiblen Bullshit-, sondern auch einen hoch sensitiven Unfreiheitsdetektor. 

Die politische Integration des Ostens setzt auch im Westen die Bereitschaft zur Selbstbewegung voraus. Nur dann kann wirklich zusammenwachsen, was zusammengehört. Der Osten könnte dabei vom Westen lernen, dass eine globalisierte Welt nicht ohne ein vernünftiges Maß an Weltoffenheit auskommt. Und der Westen vom Osten, dass wahre Liberalität ohne einen eingriffsfähigen und -willigen Staat ebenso wenig denkbar ist wie ohne die Freiheit des Denkens.

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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