Migrationsdruck nach Deutschland - Das Prinzip Feuermelder 

Nachrichten über überfüllte Asylunterkünfte häufen sich, mancherorts werden bereits Zelte aufgestellt. Länder und Kommunen schlagen Alarm, jüngst auch Berlin. Dabei war längst klar, dass Deutschland angesichts des gestiegenen Migrationsdrucks der vergangenen Monate wieder einmal an seine Kapazitätsgrenzen gelangt. Doch statt frühzeitig zu agieren, hat die Bundesregierung abgewartet - und das Thema entweder schleifen lassen oder unter den Teppich gekehrt.

Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in Berlin-Spandau / dpa
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Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Seit dem russischen Überfall sind über eine Million Kriegsvertriebene aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Aber auch der Migrationsdruck aus den Maghreb-Staaten und dem Nahen Osten hat zuletzt nicht etwa ab-, sondern im Gegenteil sogar zugenommen. Die Flüchtlingszahlen aus Afghanistan etwa haben sich wegen der Machtergreifung der Taliban gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Obendrein steht Serbien im Verdacht, Flüchtlinge gezielt nach Westen zu lotsen, um die Europäische Union im Sinne des Kreml zu destabilisieren. Doch wo sollen all diese Leute untergebracht werden? 

„Gerade wir Stadtstaaten und besonders Berlin als Hauptanziehungspunkt haben unsere Kapazitäten (...) mittlerweile nahezu ausgeschöpft“, warnte jüngst Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) im Interview mit der Bild am Sonntag. In der Hauptstadt wird es also eng angesichts der Flüchtlingsströme aus verschiedenen Richtungen. Aber, und darüber sollte Giffeys Stadtstaaten-Aussage nicht hinwegtäuschen: Nicht nur in den Großstädten fühlt man sich zunehmend an die Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 erinnert, sondern überall im Land, wo derzeit eifrig nach neuen Unterbringungsmöglichkeiten gesucht wird. Das geht so weit, dass mancherorts bereits Zelte aufgestellt werden, damit die Ankommenden wenigstens im Trockenen sitzen. 

Täglich zwischen 1000 und 1200 Neuankömmlinge

Um das Ausmaß des derzeitigen Migrationsdrucks zu verstehen, reicht ein Blick auf die Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das jeden Fall einzeln prüfen muss. Obwohl Ukrainer keinen Asylantrag stellen müssen und seit Juni direkt Leistungen nach dem SGB2 beziehen, wurden zwischen Januar und September dieses Jahres bereits rund 135.000 Erstanträge auf Asyl gestellt, eine Steigerung von gut 35 Prozent zum Vorjahr. Nach Schätzungen waren es dieses Jahr zwischen 1,4 und 1,6 Millionen Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind. 
 

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Es stehen – anders als bei der Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 – derzeit zwar nicht Tausende Flüchtlinge aus dem Süden gleichzeitig an der Grenze und bitten um Einlass. Entsprechende Bilder gibt es (noch) nicht. Aber tagtäglich kommen nach Cicero-Informationen dennoch zwischen 1000 und 1200 Menschen in den Erstaufnahmereinrichtungen der Bundesrepublik an. Und genau hier zeigt sich denn auch das große Versäumnis der Bundesregierung: Man hätte kommen sehen können, ja, eigentlich müssen, dass Deutschland bald an seine Kapazitätsgrenzen gelangt, wenn die Flüchtlingszahlen nicht abreißen.

Doch beispielsweise Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) war in den vergangenen Monaten vor allem mit ihrem „Kampf gegen rechts“ beschäftigt – respektive mit dem, was sie darunter versteht: das prophylaktische Diskreditieren von Menschen etwa, die von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen könnten, weil sie ärgert, dass sich Deutschland zunehmend als Corona-Geisterfahrer der westlichen Hemisphäre entpuppt oder die EU-Sanktionen gegen Russland auch hierzulande spürbar sind, während Wladimir Putin gar nicht daran denkt, deshalb seine Invasion zu beenden. 

Vorne staut es sich seit längerem

Man muss sich das einmal vergegenwärtigen: Jeder Politiker, selbstverständlich auch im Kabinett Olaf Scholz I, weiß längst, dass Deutschland das liebste Ziel vieler Flüchtlinge ist. Auch deshalb, weil hier im Prinzip jeder bleiben kann, sobald er einmal Fuß auf bundesrepublikanischen Boden gesetzt hat. Abschiebungen sind selten, im Gegenzug finden anerkannte Asylbewerber aber keine Wohnung und müssen in den Unterkünften verbleiben. Heißt: Während hinten immer mehr Menschen nachkommen, staut es sich vorne bereits seit längerem.

Trotz dieses Wissens, trotz dieser offensichtlichen Gemengelange gilt im Herbst 2022 – während die Kapazitätsgrenzen zeitnah wohl endgültig erreicht sind – erneut das Prinzip Feuermelder. Statt frühzeitig agiert zu haben, hat man das Thema – je nach Interpretation – schleifen lassen oder sogar unter den Teppich gekehrt. Nur jetzt, da es endgültig brennt, ist das eben nicht mehr möglich. Dabei sind sieben Jahre wirklich Zeit genug, um das nächste Migrationsproblem zu verhindern. Auch, wenn man in Deutschland gerne die Schuld auf andere europäische Länder abwälzt, weil die sich etwa einem gesamteuropäischen Verteilungsschlüssel verweigern. 

Die Bundesrepublik aber steuert sehenden Auges nun auf die nächste Flüchtlingskrise zu. Falls wir nicht schon mittendrin stecken. Davon ist nämlich Heiko Teggatz, Chef der Bundespolizeigewerkschaft, überzeugt. Er sagte jüngst im Interview mit Cicero außerdem: „Und zu allem Überfluss sendet die jetzige Bundesregierung mit ihrer Novelle des Zuwanderungsgesetzes auch noch Signale in die Welt, wonach die Leute nur herkommen und fünf Jahre durchhalten müssen, auch, wenn sie geduldet sind, und dann ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen.“ 

Kopfzerbrechen bei den Sicherheitsbehörden

Für die Titelgeschichte unserer November-Ausgabe (erscheint demnächst) hat sich Cicero daher umgehört. In Sicherheitskreisen, bei Migrationsforschern, Lokalpolitikern und Ausländerbehörden, die im Kleinen schon wieder vielfach ausbügeln müssen, was im Großen erneut versäumt wurde: Die politischen und juristischen Weichen zu stellen, damit sich – wie in den vergangenen Jahren immer wieder versprochen – „2015 nicht wiederholt“. Die Befragten sind sich einig: Während die Bundesregierung noch schwieg, erlebten sie bereits ein Déjà-vu. 

Kopfzerbrechen bereiten insbesondere den Sicherheitsbehörden aber nicht nur die Kapazitätsgrenzen bei der Unterbringung von Flüchtlingen. Anders als während der Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 erleben wir angesichts von Ukraine-Krieg, Energiekrise und Inflation ja bereits eine nervöse Republik, inklusive einem möglichen „heißen Herbst“ auf den Straßen, vor dem bereits vielfach gewarnt wird. Sollten die jüngsten – dann doch endlich – angekündigten Maßnahmen des Bundesinnenministeriums, den Migrationsdruck zu mindern, nicht greifen, wird es aber ganz sicher nicht beim Déjà-vu bleiben.

Neue Migrationsströme brauen sich währenddessen bereits zusammen: In Afrika aus Angst vor Hungersnöten wegen des Ukraine-Kriegs, aber auch in Italien. Unsere südlichen Nachbaren haben vor wenigen Wochen eine rechtsnationale Regierung gewählt. Eine restriktivere Asylpolitik gilt als ausgemacht. In der Folge könnten sich zahlreiche Migranten, die in Italien leben, auf den Weg nach Norden machen, um einer möglichen Abschiebung zu entgehen. Mögliches Ziel: Deutschland. 

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