
- Selbstmord abgewendet, mehr nicht
Das Ergebnis beim SPD-Mitgliederentscheid steht fest: Mit deutlicher Mehrheit stimmen die SPD-Mitglieder für den Koalitionsvertrag mit der Union. Deutschland bekommt eine neue Regierung. Doch die Partei ist gespalten. Der Überlebenskampf der Sozialdemokraten geht weiter
Das war deutlicher als erwartet. Mit 66,02 Prozent der Stimmen haben sich die SPD-Mitglieder für den Koalitionsvertrag mit CDU und CSU ausgesprochen. 239.604 Mitglieder stimmten mit „Ja“, 123.329 Mitglieder mit „Nein“. 78,39 Prozent der 463.722 SPD-Mitglieder hatten sich an der Abstimmung beteiligt. Auch die nächste schwarz-rote Bundesregierung kann also kommen. Am 14. März und damit fast ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl am 24. September soll nun die Kanzlerinnenwahl stattfinden. Der Weg für Schwarz-Rot und Angela Merkels vierte Amtszeit scheint frei. Die Existenzkrise der SPD jedoch wird auch nach dem positiven Mitgliedervotum weiter schwelen.
Die Erleichterung war dem kommissarischen SPD-Vorsitzenden Olaf Scholz am Sonntagmorgen anzusehen, als um 9.35 Uhr in der Berliner Parteizentrale das Ergebnis des Mitgliedervotums verkündet wurde. Der voraussichtliche Finanzminister der neuen Regierung zeigte sich anschließend in einer knappen Erklärung überzeugt davon, dass die Partei in der Diskussion über eine Regierungsbeteiligung „weiter zusammengewachsen“ sei, der Ausgang des Mitgliedervotums gebe der Partei „Kraft für den Prozess der Erneuerung“. Zuvor hatte schon die designierte Parteivorsitzende Andrea Nahles angekündigt, es gehe darum, in der SPD jetzt „Raum für Zukunftsdebatten“ zu schaffen.
Von Erneuerung ist nichts zu sehen
Einfach wird dies allerdings nicht werden. Keines der Probleme der SPD wird gelöst, wenn die Partei jetzt in die Regierung eintritt und als Juniorpartner der Union die Kanzlerschaft von Angela Merkel um weitere vier Jahre verlängert. Nicht die programmatische Orientierungslosigkeit, nicht die Vertrauenskrise der SPD-Führung und auch nicht die fehlende sozialdemokratische Machtperspektive.
Auch der Koalitionsvertrag, den die SPD mit CDU und CSU verhandelt hat, gibt keine Anhaltspunkte dafür, wie die Erneuerung der SPD aussehen könnte oder wie die SPD vor allem jene traditionellen Wähler zurückgewinnen will, die sie an die AfD verloren hat. Stattdessen ist der Koalitionsvertrag ein Sammelsurium beliebiger politischer Ideen, kein Signal des Aufbruchs, sondern der Stagnation.
Die quälenden innerparteilichen Debatten der vergangenen Monate und das eklatante Führungsversagen des zurückgetretenen Parteivorsitzenden Martin Schulz haben die SPD zusätzlich stark geschwächt. Die neue Parteiführung um Andrea Nahles ist angeschlagen, bevor sie überhaupt im Amt ist. Die SPD ist tief gespalten und seit der Bundestagswahl, bei der die Partei mit 20,5 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erreicht hatte, haben sich noch mehr Wähler von der Partei abgewandt. Nicht einmal jeder fünfte Wähler in Deutschland würde derzeit SPD wählen. Und vermutlich hat die Krise der SPD die Talsohle noch nicht einmal erreicht.
Randthemen statt echte Problemlösungen
Schon in den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass die SPD, angetrieben von einer ideologisch bornierten Funktionärskaste, eher politische Randthemen diskutiert, wie etwa die Vorratsdatenspeicherung, das Freihandelsabkommen Ceta oder den Familiennachzug für subsidiär schutzberechtigte Flüchtlinge. Für alle Kritiker der Regierungsbeteiligung als Juniorpartner der Union wurde ein rot-rot-grünes Bündnis in den vergangenen vier Jahren zum Sehnsuchtsort, obwohl die gesellschaftliche Akzeptanz für ein solches gegen Null tendiert.
Gleichzeitig hat sie SPD keine Antwort auf die zentralen Zukunftsfragen der Gesellschaft gefunden. Wie zum Beispiel lässt sich in einer globalisierten Welt die Migration steuern und begrenzen? Wie muss Deutschland im Inland und im Ausland der Herausforderung des islamistischen Terrorismus begegnen? Wie lautet die sozialdemokratische Antwort auf die Digitalisierung der Arbeitswelt? Was heißt soziale Gerechtigkeit in einer individualisierten Wohlstandsgesellschaft?
Die Sozialdemokraten werden den Mut brauchen, ausgetretene programmatische Wege zu verlassen, wollen sie ihre inhaltliche Leere wieder mit in der Gesellschaft mehrheitsfähigen Antworten füllen und sie werden eine völlig andere innerparteiliche Diskussionskultur brauchen. Solange jede ungewöhnliche Idee in der SPD wahlweise als neoliberal oder linkspopulistisch denunziert wird, als Neuauflage der Agenda-Politik oder als Anbiederung an AfD-Wähler, als utopisch oder unfinanzierbar, solange wird die Erneuerung keine Chance haben.
Eine linke Sammlungsbewegung bleibt ein Traum
Als erstes wird die SPD jetzt also die Frage beantworten müssen, ob Mitglieder, Funktionäre und Spitzenpolitiker der Partei bereit sein werden, beides aufzubringen, programmatischen Mut und einen anderen Umgang miteinander. Alle Debatten über ein Linksbündnis wird die SPD zugleich zurückstellen müssen, auch wenn die Sehnsucht nach Rot-Rot-Grün beziehungsweise nach einer linken Sammlungsbewegung unter den Genossen mit dem erneuten Eintritt in eine Merkel-Regierung stark anwachsen wird. Vordergründige machtstrategische Debatten werden die programmatischen Debatten, die notwendige Öffnung für neue und ungewöhnliche Ideen jedoch eher erschweren als ermöglichen.
Zweifel, ob die SPD zur Erneuerung fähig ist, sind also angebracht. Denn noch etwas hat die Mitgliederbefragung offenbart: Die SPD hat sich mit dieser in die Geiselhaft ihrer Basis begeben. Sie ist abhängig von innerparteilichen Stimmungen, von den mittleren Funktionären und von innerparteilichen Kampagnen. Politische Führung hingegen ist in der SPD mittlerweile verpönt, Zukunftsdebatten werden auch deshalb nicht einfacher.
Nein zur Groko wäre politischer Selbstmord gewesen
Große Hoffnung, dass sich dies nun schnell ändert, darf man nicht haben. Und schon nach zwei Jahren, so hat es die SPD ihren Mitgliedern versprochen, soll eine innerparteiliche Bilanz der Arbeit der Koalition erfolgen. Ein erneutes Mitgliedervotum scheint dann nicht ausgeschlossen. Auch das wird das Regieren für die SPD und die politisch-strategische Neuaufstellung nicht erleichtern.
Trotzdem ist es richtig, dass die SPD jetzt in die Regierung eintritt. Ein „Nein“ zur Koalition mit CDU und CSU wäre einem politischen Selbstmord gleichgekommen. Die Partei wäre implodiert, die gesamte Parteiführung desavouiert worden, auch die letzten treuen SPD-Wähler hätten sich mit Grauen abgewendet. Schnelle Neuwahlen hätten wohl zum endgültigen Absturz geführt. Immerhin gewinnt die SPD stattdessen jetzt etwas Zeit. Oder anders gesagt: Der Überlebenskampf der SPD hat an diesem Sonntag gerade erst begonnen.