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Flüchtlingspolitik - Die Genfer Konvention muss reformiert werden

Die meisten anerkannten Flüchtlinge in Deutschland erhalten ihren Status aufgrund der Genfer Konvention. Doch es ist fraglich, wie weit sich diese Schutzpflicht auf die Gegenwartsprobleme übertragen lässt. Von Ex-BND-Vize Rudolf Adam

Autoreninfo

Rudolf Adam war von 2001 bis 2004 Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes. Von 2004 bis 2008 leitete er als Präsident die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Er ist Senior Advisor bei Berlin Global Advisors. Foto: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

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Die Flüchtlingsdebatte spaltet Deutschland: Willkommenskultur wird als naive Träumerei von Gutmenschen abgetan, wer auf Probleme eines unkontrollierten Zuzugs hinweist, gilt als xenophober Neonazi. Einige sehen eine Sehnsucht nach gesellschaftlicher Vielfalt, andere deutsche Identität bedroht . Die einen erhoffen sich von Flüchtlingen die Verjüngung einer gerontisch-sklerotischen Gesellschaft, die anderen befürchten den Untergangs des Abendlandes. Holzschnittartige Floskeln, emphatische Bekenntnisse oder demonstrative Emotionen erschweren einen sachlichen Diskurs.

Großbritannien und Frankreich haben längere Erfahrung mit Zuwanderern aus nicht-europäischen Kulturkreisen. In Bradford, Rochdale oder den Banlieues von Paris zeigen sich neben erfolgreicher Integration gewaltige Problembereiche. Türkische Namen verbinden sich in Deutschland mit beeindruckenden Leistungsträgern, aber auch mit auffällig-aggressivem Verhalten von Jugendlichen. Serdar Somuncu repräsentiert das Erste und kann authentisch das Zweite nachahmen. Der jetzige Zustrom wird beides hervorbringen: Erfolgsgeschichten und Problemfälle.

Die Flüchtlingsdebatte dreht sich zu sehr ums Geld


Es gibt eine Anfälligkeit für religiöse Radikalisierung unter einigen Jugendlichen der zweiten und dritten Einwanderergeneration. Die Wahrscheinlichkeit, dass unter einer Million Zuwanderern nach zwei Generationen eine beträchtliche Zahl von radikalen, gegen Fundamentalismus anfälligen Jugendlichen sein wird, ist nicht geringer als die, dass darunter erfolgreiche Ärzte, Ingenieure oder Politiker sein werden.

Zu sehr dreht sich die Flüchtlingsdebatte um Geld: Kosten diese Neuankömmlinge uns etwas oder bringen sie schließlich Geld? Das Bundesverfassungsgericht leitet ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ aus Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes GG in Verbindung mit Artikel 20, Absatz 1 ab (Entscheidung vom 18. Juli 2012).

Nach seiner Auslegung handelt es sich um ein unverfügbares Grundrecht, das durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden muss; als universales Menschenrecht steht dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Damit sind sehr konkrete unbestreitbare Ansprüche auf staatliche Leistungen gegeben; wie weit ihnen später Beiträge an die öffentlichen Kassen gegenüberstehen, lässt sich bestenfalls grob abschätzen und hängt von den Qualifikationen und der Motivation der Zuwanderer, aber ebenso stark von ihrer Bleibeperspektive ab: Solange der Flüchtlingsstatus ungeklärt bleibt und die Neuankömmlinge vom Arbeitsmarkt ferngehalten und staatlich versorgt werden, wird eine passive Empfängerhaltung gefördert.

Nur wenige vertrauen dem Rechtsstaat


Dass hier Menschen aus anderen Kulturkreisen mit fremden Mentalitäten und Sozialisierungen kommen, wird mit der Forderung quittiert, das Grundgesetz (und wohl auch das Strafgesetz) stünde nicht zur Disposition. Gesellschaftliche Normen werden durch langjährige Sozialisierung in Familie, Schule und praktisches Erpoben im Jugendalter verinnerlicht. Sie werden nicht befolgt, weil sie in Gesetzen stehen, sondern sie stehen in Gesetzen, weil sie als verbindlich und gerecht empfunden werden. Grundrechte müssen in der Unmündigkeit eingeübt werden, bevor sie mündig ausgeübt werden. Diese Sozialisierung findet in den ersten 15 bis 20 Lebensjahren statt. Nahezu alle Flüchtlinge sind älter. Wer Polizisten als willkürlich, Richter als bestechlich erlebt hat, wird schwer Vertrauen zum Rechtsstaat fassen. Wer Solidarität primär in der Familie, im Clan oder in vorgegebenen Klientel- und Patronage-Netzwerken erlebt hat, wird im Konfliktfall eher auf Familienbande als auf den Schutz der Gesetze setzen. Wem als Kind eingeprägt worden ist, dass Gott unmittelbar Lebensregeln offenbart hat, der wird sich mit Toleranz schwer tun. Wir sollten nicht vergessen, welche Kämpfe und wie lange es unsere eigene Gesellschaft gekostet hat, liberal, skeptisch und tolerant zu werden. Wir können den Wandel, der sich bei uns in vielen Generationen vollzogen hat, nicht von Zuzüglern in wenigen Wochen einfordern.

Wenn Deutschland tatsächlich Zuwanderung braucht, dann sollte Deutschland diesen Prozess nach dem normalen Aufenthaltsgesetz steuern – so, wie dies alle klassischen Einwanderungsstaaten tun. Dann sollten wir nicht die Sonderregelungen für Flüchtlinge zugrunde legen und vorgeben, eine ungesteuerte Flut sei die gezielte Bewässerung, die wir schon lange ersehnt haben.

Jeder Vergleich mit den 12 Millionen Flüchtlingen, die die Bundesrepublik Deutschland nach 1945 aufgenommen hat, geht am Kern der Sache vorbei: Damals kamen Menschen, die noch wenige Monate zuvor im selben Staat gelebt hatten. Flüchtlinge aus der DDR waren Angehörige desselben Volkes. Ebenso schief ist der Vergleich mit Flüchtlingszahlen in der Türkei oder Jordanien: Dort leben Flüchtlinge eben nicht in Aufnahmezentren, erleben keine Willkommenskultur und Integrationsangebote, sondern leben in Notunterkünften: strikt abgetrennten Zeltstädten ohne Perspektiven, ohne Arbeits- oder Fortbildungsmöglichkeiten.

Der größte Skandal ist die Unterfinanzierung der UN-Programme


Der größte Skandal der gegenwärtigen Flüchtlingskrise liegt darin, dass Westeuropa von Flüchtlingen überrannt wird, während UNHCR und World Food Programm in den Flüchtlingscamps wegen Mittelknappheit nicht einmal eine Mindestversorgung in der Region leisten können. Für 2016 benötigt UNHCR 7 Milliarden US-Dollar; dieses Geld sollte unverzüglich bereitgestellt werden, notfalls allein von Deutschland, denn alternativ hierzu werden deutlich höhere finanzielle und politische Kosten in Deutschland selbst anfallen.

Niemand kennt die genaue Zahl der Flüchtlinge, die seit Jahresbeginn nach Deutschland gekommen sind. Was wir dringend benötigen, sind nicht nur Statistiken über Zahlen und Herkunftsländer; wir brauchen konkrete Angaben zu Motiven und Erwartungen, beruflichen Qualifikationen und Sprachkenntnissen unter den Flüchtlingen. Was erwarten sie von Deutschland, kommen sie direkt aus einem Kriegsgebiet, aus UNHCR-Lagern oder aus Drittländern? Wie groß ist das Potenzial von Flüchtlingen, mit denen wir noch rechnen müssen? Wir brauchen ein nüchternes, detailliertes Lagebild mit zuverlässigen Abschätzungen über künftige Fluchtbewegungen. Nur so können wir aus passiver Reaktion zu einer vorausschauenden, pro-aktiven Politik finden.

Bislang gibt es hauptsächlich zufällige Bilder und sporadische Interviews; oft sind diese darauf angelegt, Emotionen zu erzeugen. Das Bild einer angespülten kindlichen Leiche hat mehr politische Energie mobilisiert als alle übrigen Flüchtlingsbilder zusammen. Wo bleiben verlässliche Analysen über künftiges Migrationspotenzial, repräsentative Fallstudien über Motive, Wege, Schleusernetze und Tarife? Eine Aufklärung der Kommunikation der Flüchtlinge mit ihren Herkunftsländern würde ein Bild mit hoher Tiefenschärfe liefern. Weshalb verfügen wir hier nicht einmal über elementare belastbare Fakten?

Die Hauptaufgabe liegt darin, den Flüchtlingszuzug langfristig steuerbar und kontrollierbar zu machen. Wir brauchen eine Politik, die nachhaltig ist und die wir langfristig durchhalten können.

Schon die Entscheidung, das eigene Land zu verlassen und sich auf den Weg nach Deutschland zu machen, sollten wir beeinflussen können. Aufklärungskampagnen können hier helfen. Letztlich werden sich Fluchtbereite nicht von Worten oder Absichtserklärungen beeindrucken lassen. Was zählt, sind Fakten und Bilder, die der Willkommenskultur die ebenso notwendige Abschiebe- und Abgrenzungskultur entgegensetzen.

Das Potenzial ist gigantisch. Syrien hatte 25 Millionen Einwohner; davon leben 5 Millionen in UNHCR-Lagern, 8 Millionen sind Binnenflüchtlinge. Afghanistan hat 35 Millionen Einwohner, darunter 5 Millionen junge Männer zwischen 12 und 25; für 75 Prozent von ihnen ist die Suche nach Arbeit und damit Lebensgrundlage die Hauptsorge; 98 Prozent halten es für geboten, dass Frauen sich verschleiern. Pakistan hat fast 200 Millionen Einwohner, der Irak, 36 Millionen, der Iran 80 Millionen. Ägypten mit seinen 100 Millionen Einwohnern hat wachsende Probleme mit der Lebensmittelversorgung und der öffentlichen Sicherheit. Bürgerkriege toben im Jemen (40 Millionen), im Südsudan (12 Millionen), in Somalia (12 Millionen), in Libyen (6 Millionen), in Mali (16 Millionen), in Nigeria (180 Millionen); Regionalexperten bezeichnen die Konflikte im und um den Kongo als die tödlichsten in ganz Afrika. Wenn Menschen aus diesen Ländern zu uns gelangen, werden sie keine Rückführung zu befürchten haben. In diesen Ländern wird aufmerksam beobachtet, wie leicht man über die Balkanroute als Flüchtling Aufnahme in Deutschland findet – einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen bis 100 mal so hoch ist wie in diesen Ländern. Wie viele werden versuchen, auf diesem Weg eine bessere Zukunft zu finden?

Präventive Flüchtlingspolitik sollte sich vom Subsidiaritätsprinzip leiten lassen: Geografische Subsidiarität (Flüchtlinge sollten zunächst innerhalb ihrer Region aufgenommen und versorgt werden), Subsidiarität der Bedürftigkeit (Schwachen, Kranken, Verwundeten muss vorrangig geholfen werden), Subsidiarität bei den Fluchtursachen (wer aus unmittelbarem Kriegsgebiet flüchtet, sollte Vorrang haben vor denjenigen, die bereits in vorläufiger Sicherheit sind), und Subsidiarität bei der Finalität (Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat sollte Vorrang haben vor einer dauerhaften Umsiedlung bzw. Integration).

Großzügiger Flüchtlingsschutz


Die Absurdität des gegenwärtigen Verfahrens liegt darin, dass Deutschland Flüchtlinge anzieht, sie unterbringt und Erwartungen auf ein Bleiberecht weckt, nur um dann absehbar einen Großteil von ihnen wieder zur Ausreise aufzufordern bzw. zu zwingen. Die Erfolgschancen erzwungener Rückführungen liegen bei etwa 20 Prozent. Selbst ohne geringste Aussicht auf Anerkennung als Asybewerber oder Flüchtling lohnt es sich, zunächst auf deutsches Territorium zu gelangen. Bis ein vollzugsreifer Abschiebungsbeschluss vorliegt, können Jahre vergehen. Sind Flüchtlinge erst einmal hier, sind sie gegen ihren Willen kaum wieder außer Landes zu bringen. Notfalls steht der Weg in die Illegalität und auf den Schwarzmarkt offen. Denjenigen, die faktisch bleiben, winken Lebensbedingungen, die im Vergleich zu ihren Herkunftsländern paradiesisch erscheinen müssen. Für Menschen, die von weniger als 20 Dollar im Monat haben leben müssen, ist das „menschenwürdige Existenzminimum“ Deutschlands das Paradies.

Die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 gibt den rechtlichen Rahmen für Flüchtlinge vor. Sie entstand unter dem Eindruck der gewaltigen Bevölkerungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie war rückblickend angelegt und beschränkte sich auf Vorgänge vor 1951 in Europa. Das VN-Protokoll zur Rechtsstellung von Flüchtlingen vom 31. Januar 1967 hat die zeitlichen und räumlichen Beschränkungen dieser Konvention aufgehoben und sie damit universalisiert, ohne den ursprünglichen Wortlaut zu verändern.

Der Flüchtlingsschutz der Konvention reicht weit: Artikel 33 verbietet es, Flüchtlinge an den Grenzen zurückzuweisen; allerdings gilt dieses Verbot nur, soweit ein Flüchtling damit auf Gebiete zurückverwiesen wird, auf denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde – und damit nicht für Flüchtlinge, die über Drittstaaten zu uns kommen.

Artikel 34 verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, Flüchtlinge so weit wie möglich einzugliedern und einzubürgern. Dies ist das stärkste Gebot; es reflektiert die Absicht von 1951, den Menschen im Nachkriegseuropa nach Flucht und Vertreibung an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort eine dauerhafte Bleibeperspektive zu schaffen. Es ist fraglich, wie weit sich diese Schutzpflicht auf die Gegenwartsprobleme übertragen lässt.

Die Lücken der Genfer Flüchtlingskonvention


Die größte Schwäche der Konvention liegt in ihrer einschränkenden Definition eines Flüchtlings: Artikel 1 definiert, dass als Flüchtling nur gilt, wer begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung nachweisen kann. Damit fallen Menschen, die aufgrund von Kriegsereignissen flüchten, nicht unter diese Gruppe - am wenigsten die Opfer von unterschiedslosen Massenvernichtungswaffen wie Giftgas, biologischen oder nuklearen Waffen, aber auch Fassbomben. Der Flüchtlingsstatus der Konvention setzt Diskriminierung voraus. Wo unterschiedslos getötet wird, greift die Konvention nicht. Hierfür gibt es in der EU den subsidiären Schutz.

Die zweite, implizite Schwäche der Konvention entspringt ihrer Entstehungszeit: Sie war auf das Nachkriegseuropa zugeschnitten. Moderne transkontinentale Massenverkehrsmittel gab es damals nicht; es gab sie nicht einmal 1967. Ebenso wenig war damals vorstellbar, dass Flüchtlinge Meere und mehrere Grenzen überqueren würden, um in ein Aufnahmeland ihrer Wahl zu gelangen. Damals zogen Flüchtlingstrecks mit Plan- und Bollerwagen durch verwüstete Landstriche und waren dankbar, sobald sie jenseits der nächsten politischen Grenze Sicherheit fanden. Die Konvention geht in ihrer ursprünglichen Beschränkung auf Europa implizit von Fluchtbewegungen innerhalb einer Region aus. Insofern reflektiert sie eine Welt, in der Flüchtlinge mittellos und weitgehend zu Fuß im jeweiligen Nachbarland Zuflucht suchen mussten.

Die Angewiesenheit auf Schutz macht das Wesen eines Flüchtlings und seine unmittelbare Hilfsbedürftigkeit aus. Sobald keine Gefahr mehr für Leib und Leben besteht, entfällt die Hauptvoraussetzung, einen Menschen als Flüchtling zu betrachten. Er ist dann zwar obdach- und mittellos; er hat Anspruch auf Unterkunft, Nahrung, Kleidung, und auf medizinische Grundversorgung. In diesem Anspruch unterscheidet er sich aber nicht mehr von allen anderen Obdach- oder Mittellosen – auch denen, die keine Flucht hinter sich haben.

Die Schutzgebote der Genfer Konvention reflektieren eine vergangene Welt. Ihre Gebote gehen teilweise über das hinaus, was in einer globalisierten Welt zu leisten ist, teilweise bleiben sie blind für einige der schlimmsten Fluchtursachen, weil sie Massenvernichtungswaffen und Terror noch nicht kannte. Es ist Zeit, die Konvention zu überarbeiten.

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Christiane Bohm | Sa., 1. Juli 2017 - 22:02

Natürlich muss die Konvention dringend überarbeitet werden. Wenn ich 4 bis 6 sichere Länder durchreist habe, bin ich dann im 7. noch ein Kriegsflüchtling?
Bei der Einforderung nationaler Rechts-und Sittengepflogenheiten bin ich strikt anderer Ansicht als der Autor. Gerade wegen der Verschiedenheit der Gepflogenheiten in den Herkunftsländern ist es erforderlich, hiesige Gesetze und Gebräuche unbedingt einzufordern. Wie anders soll es sonst gehen? Und natürlich zeigen andere Länder, dass es funktioniert. Gerade in den übertoleranten Ländern, siehe Schweden, läuft es völlig aus dem Ruder. Eine katastrophale Situation, besonders für die Frauen, da die meisten Einreisenden Männer sind.