Vogel, Zaun, Vollmond
Wer kann sich heute schon noch Schattenseiten leisten? / dpa

En passant - Die Finsternis des Herzens

Auf jeden guten Gedanken kommen hundert schlechte. Und manch einer sagt im Privaten Dinge, die er öffentlich niemals äußern würde. Das ist menschlich. Die Empörungskultur lässt schlechte und dunkle Seiten jedoch nicht mehr zu. Schade, findet unsere Kolumnistin Sophie Dannenberg.

Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

So erreichen Sie Sophie Dannenberg:

Manchmal denke ich an Peter Schlemihl. Es ist schon eine Weile her, dass sich Chamisso jenen unglücklichen Tropf ausdachte, der seinen Schatten verkauft und daraufhin der Cancel Culture des aufkeimenden 19. Jahrhunderts zum Opfer fällt. Die Leute fürchten oder verspotten ihn, er kriegt keinen Boden mehr unter die Füße. 

Diese Figur hat ganze Generationen von Psychoanalytikern und Literaturwissenschaftlern in helle Aufregung versetzt, weil kaum eine andere die Idee, ein Mensch ohne dunkle Wesensanteile sei nicht nur nicht komplett, sondern paradoxerweise unheimlich, so malerisch zum Ausdruck bringt wie Peter Schlemihl. 

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Ingofrank | Fr., 14. Januar 2022 - 10:45

dunkle Seiten nicht mehr zu.
Dieser Satz ist falsch. Richtig müßte er heißen:
„Die Empörungskultur läßt keine A N D E R E
Meinung mehr zu.“
Es geht doch den Dauerempörten doch darum sich eben nicht der Diskussion zu stellen. Denen geht es nicht um gut oder böse, sondern um ihr Privileg, die ihrer Meinung nach richtige Moral auf ihrer Seite zu verorten. Und das, wiederspruchslos! Das Verbot einer ergebnisoffenen Diskussion ,ist der Kerninhalt der Empörten. Der Beginn der Extreme ob Links oder Rechts ist gemacht. Aber Links Extreme/ Empörte darf es nicht geben, also gibt es sie nicht. Nur die Rechtsextremen, die gibt es.
Mit freundlichen Grüßen aus der Erfurter Republik

Christa Wallau | Fr., 14. Januar 2022 - 11:57

über das von Ihnen angesprochene Thema gründlicher nachzudenken.
Dahinter steckt nämlich die Frage nach dem
Menschenbild, das jemand hat.
Unsere "Empörungskultur" jedenfalls geht von einer Vorstellung aus, die nicht realistisch ist.
Das erzwungene Unterdrücken großer Teile der
menschlichen Psyche, zu der Gutes und Böses gleichermaßen gehören, kann nur dann halbwegs gutgehen, wenn Menschen sich abwenden von dieser Welt und sich voll auf eine andere konzentrieren, wie es z. B. Möche oder Einsiedler tun.
"Normale" Menschen brauchen dagegen Möglichkeiten, ihre Schattenseiten ab und zu zeigen zu dürfen, ohne dafür gleich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.
"Cancel culture" ist daher in höchtstem Maße inhuman. Sie führt nur zu Heuchelei!
Und das, was "gecancelt" werden sollte, sucht sich andere Wege und bricht sich irgendwo (oft auf schreckliche Weise) Bahn.

Joachim Kopic | Fr., 14. Januar 2022 - 15:07

... sowas gibt es doch sicherlich nur auf der "rechten" Seite und da v.a. bei der AfD ;) :)

Sabine Lehmann | Fr., 14. Januar 2022 - 15:52

So jedenfalls ist der deutsche „Trend“. Die „Anderen“ können das in der Theorie zumindest auch, müssen aber das Echo aushalten können. Und da wird’s dann existentiell. Ob Demoverbote, Kündigungen, öffentliche Hetzjagden, Parteiausschlüsse, Disziplinarverfahren, vorzeitige Verrentung, „einvernehmliche“ Beendigung des Arbeitsverhältnisses, Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben, Strafverfahren, Bußgelder, Gefängnisstrafen und mitunter auch die vorübergehende Einweisung in die Psychiatrie.
Halt alles, was der „demokratische“ Instrumentenkasten in Deutschland so hergibt.
Ja und den Linientreuen blüht ein beruflicher und gesellschaftlicher Aufstieg, der seinesgleichen sucht! Gestern noch bei „Tik-Tok“, heute schon die eigene Fernsehsendung im ÖR. Gestern noch im Labor am Mikroskop versauert, morgen schon Teil der Regierung und dick im Geschäft. Der Rubel und die Reputation rollt.
So ist das jetzt in Germany, die Blockwarts, Emporkömmlinge u. ein Volk aus Lemmingen macht’s möglich!

Bernhard Marquardt | Fr., 14. Januar 2022 - 16:02

... den Balken im eigenen Auge ...
Wo die Moral besonders dick aufgetragen wird, ist sie meistens doppelt.

gabriele bondzio | Fr., 14. Januar 2022 - 19:28

Narzissmus, Machiavellismus und subklinische Psychopathie, stecken (zu einem gewissen Teilen) in jedem Menschen. Quasi...stehen sie für Merkmale, wie überzogenes Selbstwertgefühl, manipulatives Verhalten und Empathielosigkeit.

Für manche Tätigkeiten sogar gesuchte Eigenschaften.

Auch wenn die Empörungskultur schlechte und dunkle Seiten nicht mehr zulassen möchte, sind sie da.
Werden auch immer da sein, so lange sich die Welt dreht. Sehe eher, in den teils so aggressiven Diskussionen, eine mentale Verschlechterung der Zwischenmenschlichkeit.

Und oft sind die, welche am lautesten, unerbittlichsten, ohne jeden Kompromiss auf andere einschlagen.
Diejenigen welche einen hohen Anteil der dunklen Seite in sich tragen.