Türkei nach den Wahlen - Der Brain Drain nimmt kein Ende

Mit dem erneuten Sieg Erdogans zogen erstmals islamistische Parteien in das türkische Parlament ein. Während sich die Opposition neu formiert und den Kampf gegen die autoritäre Regierung fortsetzen will, möchte ein Großteil der türkischen Jugend das Land schnellstmöglich verlassen.  

Ein Operationssaal in Ankara: Der Exodus türkischer Ärzte hält seit einigen Jahren an / dpa
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Nur wenige Tage nach den Stichwahlen trat der gesamte Vorstand der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP zurück. Forderungen nach einem Rücktritt des Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu werden parteiintern lauter, nicht wenige wünschen sich den jüngeren und charismatischen Oberbürgermeister Istanbuls, Ekrem Imamoglu, an die Spitze der Partei. Auch bei der säkular-nationalistischen İYİ-Partei mehren sich die Stimmen, die einen Rücktritt der Vorsitzenden Meral Aksener fordern. Der ultranationalistische Flügel der Partei lastet dem Bündnis mit der CHP den Verlust zahlreicher Wähler an.

Der selbst bei türkischen Linken und bei linken Kemalisten beliebte kurdische Politiker Selahattin Demirtas wiederum rechnete nach den Wahlen mit seiner Partei, der HDP, ab. Sein Wunsch nach einer Kandidatur sei abgelehnt worden, daher habe die Partei schlechte Wahlergebnisse erzielt, so Demirtas. Demirtas Kritik folgte sein Rückzug aus der Parteipolitik. Bei Erdogans Siegesrede im Anschluss an seinen Sieg hatten seine Anhänger in Sprechchören die Todesstrafe für Demirtas gefordert. Ob der beliebte und charismatische Politiker nach dem erneuten Sieg Erdogans auf eine Entlassung aus dem Gefängnis hoffen kann, steht – wie bei Tausenden anderen politischen Häftlingen auch – in den Sternen. 

Kein Ende der Wirtschaftskrise in Sicht 

Der weltweit bekannte Ökonom Daron Acemoglu vom Institute of Technology in Massachusetts geht von einer dauerhaften Schwächung der türkischen Wirtschaft aus und sieht keine Zeichen für eine Erholung. Nur einen Tag nach den Wahlen fanden massive Preiserhöhungen statt. Von türkischen Ökonomen wird die Teuerungsrate bei Lebensmitteln auf mehr als 30% sowie die Gesamtinflationsrate auf über 80% geschätzt.

Die sinkende Kaufkraft und die hohe Inflation treiben auch vermehrt säkulare Familien aus der Mittelschicht ins Ausland und nähren die Ressentiments gegenüber Flüchtlingen aus arabischen Ländern sowie Afghanistan. Gerade in säkularen und westlichen Kreisen der Türkei ist die Angst vor einer Islamisierung durch Einwanderer aus diesen Ländern groß, ferner führen viele von ihnen Erdogans Sieg auf die Stimmen der muslimischen Einwanderer zurück.  

Erstes Projekt der Regierung: Einschränkung der Frauenrechte 

Die Türkei weist eine der weltweit höchsten Femizidraten der Welt auf. Schon vor den Wahlen kündigten islamistische Parteien innerhalb Erdogans Regierungsbündnis die Einschränkung von Frauenrechten an. Nun forderte Fatih Erbakan von der Yeni Refah Partisi mit seinem Einzug ins Parlament, flankiert von der kurdisch-islamistischen Partei HÜDA-PAR, die Streichung des Paragrafen 6284 aus dem Gesetz. Der Paragraf regelt den Schutz von Frauen vor jeglicher Form von Gewalt und gilt für Islamisten als unvereinbar mit der Scharia.  

 

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Türkische Ärzte haben ein Ziel: Raus aus der Türkei 

Der Exodus türkischer Ärzte hält seit einigen Jahren unverändert an. Das gesellschaftliche Klima wurde in den letzten Jahren rauer, Gewaltausbrüche im öffentlichen Leben häuften sich. Gerade auch türkische Ärzte waren zunehmend Gewalt von Patienten oder ihren Angehörigen ausgesetzt.  Die Ärztekammer meldete neben der Zunahme von Gewalt gegenüber ihren Mitgliedern auch mehrere Todesfälle. Von der Politik werden die Gewalttaten nicht ausreichend verurteilt oder sogar verharmlost.

Aktuell meldete die türkische Ärztekammer, dass sich nach dem ersten Wahlgang am 14. Mai und den Stichwahlen am 28. Mai 931 Ärzte zur Auswanderung entschlossen. Auch in den Jahren zuvor wanderten Tausende Ärzte nach Europa oder in die Vereinigten Staaten aus. Wenn sich die Abwanderung von medizinischem Fachpersonal in dieser Quantität fortsetzt, droht dem Land in den nächsten Jahren eine Verknappung der medizinischen Versorgung.  

Jugendstudie der Konrad-Adenauer-Stiftung: Lieber Almanya als Erdogan 

Die Jugendstudie der Konrad-Adenauer-Stiftung befragte 2140 junge Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahren aus 16 Städten der Türkei. Die am 1. Juni präsentierten Ergebnisse zeigen die Hoffnungslosigkeit der Jugend im Land. Nur noch 17,3% geben an, dass sie glücklich seien, allerdings geben 63% offen zu, dass sie das Land verlassen möchten. Während 61,3% der Befragten über finanzielle Probleme klagen, sind es bereits 55,4%, die auf gewohnte Lebensmittel verzichten müssen. 70,4% beklagen den Regierungsstil. 98,4% der Befragten beanstanden die fehlende Gerechtigkeit, eine hohe Arbeitslosigkeit, Korruption und Vetternwirtschaft. 74,3% der Jugendlichen wünschen sich eine Rückkehr zum parlamentarischen System, und 86,2% stellen fest, dass die wirtschaftliche Situation im Land sehr schlecht ist.

Das primäre Ziel der Jugendlichen, die das Land verlassen möchten, ist Deutschland. An zweiter Stelle folgen die USA. Zwar verkündete Erdogan polemisch, dass ihn die Abwanderung der Jugend und des Fachpersonals nicht interessiere und er ausländische Fachkräfte ins Land locken werde, doch ob dies bei der wirtschaftlichen und politischen Situation machbar ist, ist fragwürdig. 

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