
- Kommt jetzt der Siegeszug islamistischer Militanz?
Viele Nachbarländer Afghanistans und darüber hinaus fürchten wegen des Siegeszugs der Taliban auch bei sich ein Aufflammen religiöser Gewalt. Der Terrorangriff auf den Flughafen von Kabul könnte ein erstes Anzeichen gewesen sein. Doch von den Taliban selbst droht eher keine Gefahr.
In der arabischen Welt sind die Reaktionen auf den Rückzug der Vereinigten Staaten aus Afghanistan reichlich gemischt. Der Großscheich von Oman etwa beglückwünschte das afghanische Volk zu dem, was er als spektakulären Sieg über die Aggressoren bezeichnete. Radikale Bewegungen, insbesondere in Syrien und Gaza, betrachteten die Rückkehr der Taliban nach Kabul als eine Niederlage des Westens im Krieg gegen den Islam. Die in Syrien ansässige Hayat Tahrir al-Sham, die sich als Schwesterbewegung der Taliban betrachtet, sah in den jüngsten Entwicklungen den Triumph des Dschihadismus in muslimischen Ländern.
Die herrschende Elite, vor allem in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, hat jedoch große Bedenken wegen der Rückkehr der Taliban an die Macht. Die Saudis forderten die Taliban dazu auf, eine umfassende politische Vereinbarung zu treffen, die alle Teile der afghanischen Gesellschaft einbezieht. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate äußerten sich besorgt über die Sicherheitslage und ermahnten die Taliban, sich auf die Schaffung von Frieden und Stabilität zu konzentrieren.
Sowohl die Besorgnis als auch der Jubel scheinen jedoch an der Tatsache vorbeizugehen, dass die Taliban keine ernsthafte Bedrohung für muslimische Länder außerhalb Afghanistans darstellen.
Die Entstehung der Taliban
Die Taliban sind eine einheimische Bewegung mit Wurzeln in der konservativen afghanischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu al-Qaida und dem Islamischen Staat (IS) haben sie keine Ambitionen außerhalb ihres Heimatlandes; ihr Fokus liegt allein auf Afghanistan und ihren paschtunischen Landsleuten in Pakistan.
Die Gruppe wurde 1994 von Mullah Mohammed Omar in Kandahar, einer afghanischen Stadt nahe der pakistanischen Grenze, gegründet. Sein Projekt wurde zum Teil mit saudischem Geld unterstützt, das für religiöse Schulen bestimmt war. Mullah Omar hatte sein rechtes Auge in einem Kampf gegen die Sowjets verloren, die sich 1989 aus Afghanistan zurückzogen. Entsetzt über die grassierende Korruption in Afghanistan versammelte er zahlreiche Schüler religiöser Schulen, die ihm bei der Errichtung eines puritanischen islamischen Staates helfen sollten. Unter dem Namen „Taliban“ übernahmen sie 1996 die Kontrolle über das gesamte Land mit Ausnahme der Provinz Badachschan im Nordosten, die von der Nordallianz kontrolliert wurde.
Nach der US-Invasion im Jahr 2001 wurden die Taliban aus Kabul vertrieben, verfolgten aber weiterhin ein nationales Projekt zur Beendigung der Besatzung und zur Wiederherstellung eines islamischen politischen Gesellschaftssystems. Während der Friedensgespräche in Katar im Jahr 2020, die zum Abkommen über die Beendigung des Krieges führten, versicherten die Taliban den USA, dass sie Al-Qaida-Kämpfern keinen Unterschlupf gewähren und die schwachen Bevölkerungsgruppen Afghanistans in Gespräche über politische und soziale Integration einbeziehen würden.
Doch in Anbetracht der Geschichte der Gruppe nahmen viele Araber ihre Versprechen nicht ernst. Die Taliban hatten den USA nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im Jahr 1998 erklärt, dass sie Osama bin Laden daran hindern würden, von Afghanistan aus Anschläge auf amerikanische Einrichtungen zu verüben – allerdings behaupteten sie auch, die USA hätten keine Beweise dafür, dass bin Laden in die beiden Anschläge verwickelt gewesen ist.
Nach dem 11. September weigerten sich die Taliban, bin Laden und andere Al-Qaida-Mitarbeiter auszuliefern, da sie sie als Verbündete betrachteten, die zur Befreiung Afghanistans von den sowjetischen Invasoren beigetragen hatten. Nur drei Länder erkannten die Taliban als Regierung von Afghanistan an: Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Als Mohammad bin Zayed 2004 Kronprinz von Abu Dhabi wurde, stellten die VAE ihre Unterstützung islamischer politischer Bewegungen allerdings ein.
Al-Qaida und der internationale Terror
Die Taliban wurden gegründet, um zivile Werte zu fördern, die mit den Lehren des Islam vereinbar sind. Al-Qaida hingegen konzentrierte sich auf die Bekämpfung von Christen und Juden, die sie – neben selbstsüchtigen nationalen Regierungen – für die Misere der Muslime verantwortlich machte. 1988 wurde al-Qaida von Osama bin Laden und anderen arabischen Mudschaheddin in der pakistanischen Stadt Peschawar als dezentrale, transnationale Bewegung ins Leben gerufen. Die meisten Kämpfer dieser Gruppe verließen schließlich Afghanistan und kehrten in ihre Herkunftsländer zurück, um unpopuläre Regime in der gesamten arabischen Welt zu stürzen. Im Gefolge des Zweiten Golfkriegs verübten sie 1993 auch den ersten Anschlag von al-Qaida auf die USA, als sie eine Bombe im World Trade Center in New York zündeten.
Al-Qaida und die ihr angeschlossenen Organisationen sind in vielen Teilen Asiens und Afrikas präsent, unter anderem auf der arabischen Halbinsel, im Irak, in Syrien, im Kaukasus, in Indien, auf dem ägyptischen Sinai, in Somalia, Nordafrika und in den Sahel-Ländern. Es ist ihnen jedoch nicht gelungen, eine bestehende Regierung zu stürzen – vor allem, weil US-Luftangriffe und lokale Sicherheitskräfte sie in Schach gehalten haben. Die US-Invasion in Afghanistan und gezielte Luftangriffe, insbesondere im Jemen und in Somalia, haben die Schlagkraft von al-Qaida dezimiert. Die Gruppe wurde geschwächt und zersplitterte, was den Weg für den Aufstieg des Islamischen Staates ebnete.
Im Gegensatz zu al-Qaida, deren Anschläge sich in erster Linie gegen den Westen und Israel richteten, fokussierte sich der Islamische Staat auf den inneren Feind, also den Nationalstaat. Die Geschichte des IS reicht bis in die 1970er Jahre zurück, als sich die Muslimbruderschaft nach dem Sechstagekrieg von 1967 aufspaltete, was zur Entstehung zahlreicher islamischer Bewegungen führte, die sich dem Sturz der säkularen ägyptischen Regierung und der Errichtung eines islamischen Staates widmeten.
Der Islamische Staat im Irak und in der Levante entstand im Irak nach der US-Invasion im Jahr 2003 und gewann unter entfremdeten sunnitischen Arabern in der Provinz Anbar an Einfluss. Im Jahr 2014 eroberte der Islamische Staat Mosul, die zweitgrößte Stadt des Irak, mit einer Truppe von nur 1.500 Mann gegen mehr als 45.000 irakische Soldaten. US-Luftangriffe und Bodentruppen stoppten ihre Expansion in Richtung Bagdad. Unter Beteiligung der Peschmerga und der vom Iran unterstützten Volksmobilisierungskräfte gelang es einer US-geführten Koalition, den IS 2017 im Irak und einige Jahre später auch in Syrien zu besiegen.
Der Islamische Staat-Khorasan (IS-K), also jene Gruppe, die für den Angriff auf den Flughafen von Kabul in der vergangenen Woche verantwortlich ist, entstand in der Provinz Nangarhar im Osten Afghanistans. Khorasan ist eine historische Landschaft in Zentralasien, in der die Gruppe zu operieren versucht. Neben Afghanistan umfasst die Region Pakistan, Indien, Kaschmir, den Osten Irans und die chinesische Provinz Xinjiang, die hauptsächlich von muslimischen Uiguren bewohnt wird.
Die Mitglieder des IS-K sind multinational und umfassen Araber, Kurden, Turkmenen, Tschetschenen, Uiguren, Tadschiken, Usbeken und Kasachen. IS-K hat etwa 1.500 aktive Mitglieder und findet in der afghanischen Bevölkerung keinen großen Anklang. Im Jahr 2018 haben die Taliban die Gruppe in der Schlacht von Darzab entscheidend besiegt. Obwohl der IS-K bewiesen hat, dass er in der Lage ist, ausgeklügelte, blutige Operationen durchzuführen, verfügt er nicht über die militärischen Fähigkeiten zur Eroberung von Gebieten – auch wenn die Nachbarländer Afghanistans, insbesondere China, befürchten, dass er junge Rekruten aus ihren unruhigen Bevölkerungen anziehen könnte.
Der Niedergang des politischen Islam
Im Zuge der arabischen Aufstände entstanden in einer Reihe von arabischen Ländern islamische politische Parteien, deren Popularität jedoch seither stetig abgenommen hat. Im Jahr 2012 gewann Mohammed Morsi, ein Kandidat der Muslimbruderschaft, bei den einzigen demokratischen Wahlen in Ägypten seit dem Militärputsch von 1952 die Präsidentschaft. Ein Jahr später setzte die Armee ihn ab, verbot die Bruderschaft und verhängte harte Gefängnisstrafen gegen deren führende Vertreter und Aktivisten.
In Tunesien, das von politischen Beobachtern als Ausnahmefall unter den von Unruhen betroffenen arabischen Staaten bezeichnet wurde, setzte Präsident Kais Saied im Juli vorigen Jahres das Parlament außer Kraft und konzentrierte die meisten staatlichen Befugnisse in seinen Händen. Die Popularität der islamistischen Ennahda-Partei erreichte ihren Höhepunkt bei den Parlamentswahlen 2011, bei denen sie 37 Prozent der Stimmen erhielt. Im Jahr 2014 bekam sie 28 Prozent, die 2019 auf 20 Prozent zurückgingen. Vorwürfe der Korruption und Misswirtschaft haben den Zuspruch der Partei immer weiter verringert.
In Marokko beschwichtigte König Mohammad VI. die Forderungen der Demonstranten nach politischen Reformen, indem er einen Premierminister von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung ernannte, die 2011 bei den Wahlen 23 Prozent der Stimmen und die meisten Sitze erhalten hatte. Im Jahr 2016 gewann die Partei 27 Prozent der Stimmen und behielt das Amt des Premierministers. Das Gesetz verhindert, dass eine einzelne Partei in Marokko die absolute Mehrheit erringt, wo noch immer der König regiert und der Erfolg der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung sich nicht in tatsächlicher politischer Macht niederschlug.
Im Jemen hat die Islah-Partei, die bei den letzten Parlamentswahlen 2003 hinter der Regierungspartei Allgemeiner Volkskongress den zweiten Platz belegte, seit dem Aufstand von 2011 viel von ihrem Einfluss verloren. Der Vormarsch der Houthi-Rebellen und ihre Eroberung der meisten Islah-Hochburgen sowie die Feindseligkeit der VAE gegenüber dem sunnitischen politischen Islam machten sie irrelevant.
Die arabischen Aufstände
Die arabischen Aufstände und das Aufkommen militanter islamischer Bewegungen haben andere islamische Bewegungen in der Region, die sich auf die Politik konzentrieren und Gewalt ablehnen, in den Schatten gestellt. Die Befürchtung der Araber, dass die Übernahme Afghanistans durch die Taliban Afghanistan zu einem Zufluchtsort für islamische Bewegungen, zu einer Basis für die Ausbildung von Kämpfern und zu einem Ausgangspunkt für subversive Aktivitäten machen wird, ist nicht zuletzt deshalb unbegründet.
Die Taliban sind keine transnationale Gruppe, und islamische Bewegungen in der arabischen Region sollten nicht damit rechnen, von ihnen unterstützt zu werden. Der IS-K wiederum konzentriert sich auf Zentralasien, nicht auf die arabische Welt, aber es ist immer noch zweifelhaft, ob er die Fähigkeit entwickeln kann, ernsthafte Angriffe auf die Nachbarländer Afghanistans zu verüben. Weder die Taliban noch die zentralasiatischen Staaten werden zulassen, dass die Gruppe zu einer echten Bedrohung wird.
Afghanen (welcher politischen Couleur auch immer) sind zumeist selbstgenügsame Menschen mit einer partikularen Weltsicht. Die Ereignisse des vergangenen Jahrzehnts zeigen, dass der militante Islam in Afghanistan eher keine großen Chancen hat.
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