US-Fallschirmjäger Kabul
Zwei US-Fallschirmjäger während der Evakuierungsoperation am Kabuler Flughafen / picture alliance

Wie geht es weiter in Afghanistan? - Wer jetzt seinen Vorteil am Hindukusch sucht

Die USA verlassen das Land nach 20 Jahren als Verlierer – und hinterlassen ein Machtvakuum. Insbesondere die Türkei, China, Russland und Iran versuchen, diese Lücke zu füllen. Jeder dieser Staaten verfolgt seine eigenen Interessen. Für die Zukunft Afghanistans verheißt das nichts Gutes.

Autoreninfo

Hilal Khashan ist Professor für Politische Wissenschaften an der American University in Beirut und Autor bei Geopolitical Futures.

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Afghanistan ist kein Land, das mit der bloßen Anwendung von Gewalt beherrscht werden kann. Sein zerklüftetes, gebirgiges Terrain macht es für ein ausländisches Militär, egal wie mächtig, unmöglich, das Staatsgebiet zu erobern und zu besetzen. Nach 20 Jahren Krieg haben es sogar die Vereinigten Staaten nicht geschafft, dort dauerhafte Veränderungen zu bewirken. 

Kleinere Staaten, die historische, kulturelle und religiöse Werte mit den Afghanen teilen, sind jedoch besser in der Lage, dort ihre Ziele zu erreichen als kulturell anders geprägte Nationen – unabhängig davon, wie viele Ressourcen sie aufwenden. So werden der Iran und die Türkei nach dem Rückzug der Vereinigten Staaten um den Einfluss in Afghanistan konkurrieren, mit dem beide Länder historische und kulturelle Bindungen teilen. Die instabile politische und sicherheitspolitische Lage in Afghanistan nach dem Abzug der USA wird für den Iran eine Herausforderung und für die Türkei eine Chance darstellen. Aber Stabilität oder auch nur der Anschein von Frieden werden schwer zu erreichen sein.

Die Ziele Teherans

Die Beziehungen zwischen Iran und Afghanistan sind seit 1722, als die Afghanen in Persien einfielen und Isfahan, die Hauptstadt des Safawiden-Reichs, besetzten, wechselhaft. Auch nach der Niederlage der Afghanen im Jahr 1730 belasteten Wasserprobleme die Beziehungen zwischen den beiden Ländern, bis sie schließlich 1921 den Freundschaftsvertrag unterzeichneten. Heute scheinen der Iran und sein neuer Hardliner-Präsident Ebrahim Raisi entschlossen, den regionalen Einfluss Teherans auf Afghanistan sowie auf Zentralasien, den Kaukasus, das östliche Mittelmeer und den Persischen Golf auszudehnen.

Teheran ist bestrebt, Afghanistans wichtigster wirtschaftlicher Partner zu werden, und hofft, mit den Taliban eine Beziehung aufzubauen, die dem Verhältnis der Türkei zu Nordzypern ähnelt. Doch die unvereinbare religiöse Ideologie und die iranische Mitwirkung an der amerikanischen Invasion von 2001 stellen erhebliche Hindernisse dar.

Der Iran erlaubte es den Taliban, in mehreren iranischen Städten Büros zu eröffnen, und stellte den Familien vieler Taliban-Führer Wohnraum zur Verfügung. Die Afghanen betrachten das Verhalten des Iran jedoch mit Misstrauen. Vor einigen Jahren versuchte der Iran, die schiitischen Hazaras gegen die Taliban auszuspielen, um die Intervention des Korps der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC) in Afghanistan zu rechtfertigen. IRGC-Kräfte gaben sich als Mitglieder einer afghanischen schiitischen Miliz namens Fatemiyoun-Division aus und versuchten, die Kämpfer zur Gründung eines schiitischen Staates in Afghanistan zu zwingen – was letztlich scheiterte.

Die Iraner sind zutiefst besorgt über das Wiedererstarken der Taliban, obwohl sie öffentlich behaupten, über den Abzug der USA froh zu sein. Der Iran wünscht sich ein schwaches, von den Taliban kontrolliertes Afghanistan, um die türkischen Interventionspläne zu durchkreuzen und mehr Wasser aus dem Helmand-Fluss für seine wasserarmen Grenzgebiete zu sichern. Ohnehin glaubt Teheran nicht daran, dass die Taliban das Land fest im Griff haben werden, und plant den Aufbau einer Teheran-treuen Miliz, ähnlich den Volksmobilisierungskräften im Irak.

Iran hat es vermieden, die Taliban öffentlich zu kritisieren, weil man darauf hofft, in Afghanistan eine friedensstiftende Rolle zu spielen. Teheran hat die lokalen Medien sogar ermutigt, die Taliban dafür zu loben, dass sie die US-Truppen aus dem Land vertrieben haben. Die iranische Regierung stellt sich als Partner Afghanistans dar und versorgt das Land mit dringend benötigter Energie, um dort den wirtschaftlichen Niedergang abzumildern. 

Es gibt jedoch mindestens einen Gegner hinsichtlich Teherans offizieller Haltung gegenüber den Taliban: Im vergangenen Monat erklärte der ehemalige iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad, das iranische Volk unterstütze die Afghanistan-Politik Teherans nicht und sei der Meinung, dass die dünnen Ressourcen des Landes besser für die eigene wirtschaftliche Entwicklung genutzt werden sollten.

Ankaras Hoffnungen

Im Gegensatz zu Iran, der eine 900 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan teilt, ist die Türkei geografisch weit von dem vom Krieg zerrissenen Land entfernt. Dennoch sieht sie eine Chance, den Ausgang des Krieges zu beeinflussen. Obwohl die Taliban die Türkei davor gewarnt haben, ihr 500 Mann starkes Militärkontingent über Ende August hinaus in Kabul zu belassen, glaubt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dass er über Katar, das enge Beziehungen zu den Taliban unterhält, eine Einigung mit der Gruppe erzielen kann. 

Und tatsächlich haben die Taliban versprochen, freundschaftliche Beziehungen zu ihren nahen und fernen Nachbarn zu unterhalten – mit Ausnahme Indiens (wegen seiner Menschenrechtsbilanz in Bezug auf seine muslimische Minderheit). Was Indien betrifft, so haben die Türkei und die Taliban einen gemeinsamen Ansatz. Die Taliban unterstützen den islamistischen Aufstand im indisch kontrollierten Kaschmir, und die Türkei unterhält enge Beziehungen zur Indischen Volksfront, einer militanten islamistischen Bewegung, sowie zur aufständischen Jamaat-e-Islami in Kaschmir.

Das Engagement der Türkei in Afghanistan ist auch Teil der Strategie Ankaras, seine angespannten Beziehungen zu Washington zu verbessern. Die Türkei beteiligt sich an der von der Nato geführten Internationalen Sicherheitsbeistandstruppe in Afghanistan seit deren Aufstellung im Jahr 2001. Es könnte auch dazu beitragen, zwischen den Taliban und Washington zu vermitteln. Letzte Woche fror die Regierung Biden die Reserven der afghanischen Zentralbank in den USA in Höhe von insgesamt zehn Milliarden Dollar ein. Sie überzeugte auch den Internationalen Währungsfonds davon, Kabul den Zugang zu 440 Millionen Dollar zu verweigern, bis das Land bestimmte Bedingungen erfüllt hat. Angesichts des dringenden Geldbedarfs der Taliban werden sie wahrscheinlich für einen Dialog mit einem Vermittler wie Ankara offen sein.

Für die USA und ihre westlichen Verbündeten ist die Eindämmung des russischen und chinesischen Einflusses in Afghanistan eines der wichtigsten Ziele. Washington möchte Chinas wirtschaftlichen Aufstieg bremsen und Russland daran hindern, seinen verlorenen Einfluss in Zentralasien wiederherzustellen. Die Vereinigten Staaten betrachten die russisch-chinesischen Aktivitäten in Süd- und Zentralasien als die größte Bedrohung für ihre nationale Sicherheit. In dem Maße, wie sich die Rivalität zwischen diesen Großmächten verschärft, wird die Bedeutung Afghanistans als kritischer Knotenpunkt zwischen China, Russland, Indien, Pakistan und Iran zunehmen.

Chinas Interessen

Im Jahr 2015 besuchte der chinesische Präsident Xi Jinping Pakistans Hauptstadt Islamabad und gab den Startschuss für den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor, der Teil von Pekings groß angelegter „Belt and Road“-Initiative ist – was in Pakistan auf gemischte Reaktionen stieß. Angesichts der Skepsis der Pakistaner gegenüber der „Neuen Seidenstraße“ kann die Türkei ihre Freundschaft mit Pakistan nutzen, um ihre Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu verbessern. Die USA sehen in der Kontroverse über den „China-Pakistan Economic Corridor“ eine Gelegenheit, den chinesischen Einfluss in der Region zurückzudrängen und Pakistan wieder an die Seite der USA zu holen, wobei die Türkei als Vermittler fungiert.

Für Moskau besteht die Hauptsorge in Afghanistan darin, dass die dortige Instabilität auf Russland – insbesondere Tschetschenien, Dagestan und Tatarstan – und seine Nachbarn in Zentralasien, insbesondere Tadschikistan und Usbekistan, übergreifen könnte. Die Aussicht auf die Errichtung islamischer Emirate in diesen Ländern und Regionen, ähnlich dem von den Taliban selbst ausgerufenen Islamischen Emirat Afghanistan, ist durchaus plausibel. Ähnliche Befürchtungen hegt Iran in seiner unruhigen, von Sunniten bevölkerten Region Belutschistan.

Die Türkei will den Druck auf die um Einfluss im Nahen Osten und in Zentralasien konkurrierenden Länder (Russland, China, Iran und Saudi-Arabien) erhöhen, indem sie die Außenpolitik der Taliban beeinflusst – in der Hoffnung, dass dies Ankara einen Vorteil verschafft. Denn die Aufrechterhaltung eines gewissen Maßes an „Soft Power“ in Afghanistan würde das Ansehen der Türkei innerhalb der Nato erhöhen und ein neues Kapitel in den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten aufschlagen. Erdogan hat versucht zu argumentieren, sein Land sei gut positioniert, um mit den Taliban zu vermitteln, und sagte kürzlich, die Türkei sei „das einzige verlässliche Land, das noch übrig ist“, welches zur Stabilisierung Afghanistans beitragen könne.

Die Türkei am Limit

Das Engagement der Türkei in den Konflikten des Nahen Ostens, Nordafrikas und Zentralasiens hat viele Türken beunruhigt, weil sie fürchten, dass die eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten dafür zu schwach sind. Ankara hat nicht nur Truppen in Libyen, Syrien und dem Irak stationiert, sondern auch Militärbasen in Katar und Somalia eingerichtet und im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan in Berg-Karabach gespielt.

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) hat Erdogans Afghanistan-Politik kritisiert und einen sofortigen Abzug der türkischen Truppen aus dem Land gefordert. Erdogans Gegner glauben, er wolle die Türkei in den afghanischen Sumpf hineinziehen und die Vereinigten Staaten als Hauptmacht im Land ablösen. Erdogan scheint sich jedoch nicht beirren zu lassen.

Es ist davon auszugehen, dass Anarchie und Bürgerkrieg nach Afghanistan zurückkehren werden. Für die meisten Afghanen ist die Zukunft ihres Landes völlig unklar. Die Zersplitterung der Bevölkerung entlang ethnischer Stämme und konfessioneller Identitäten macht es zudem schwierig, ein einheitliches kollektives Bewusstsein zu schaffen. Derzeit jedenfalls ringen viele ausländische Mächte um ihren Einfluss am Hindukusch – während die Taliban versuchen, ein unberührtes islamisches Emirat zu errichten.

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Tomas Poth | Fr., 27. August 2021 - 17:27

Eine interessante Analyse hinsichtlich der Interessenlage verschiedener Player.
Für mich ist allerdings die wichtigste Frage, wie ist die Interessenlage der jeweiligen Ethnien in Afghanistan.
Gibt es dort ein übergeordnetes Verständnis bei allen AfG wie man die Zukunft friedfertig gestalten kann? Oder muß Afghanistan in seine ethnischen Bestandteile, Stämme "zerlegt", sortiert und neue autonome Regionen geschaffen werden?
Die angeblichen Bodenschätze die dort vorhanden sein sollen könnten doch dazu beitragen Zukunft zu gestalten. Wer nimmt sie dabei an die Hand?

Rob Schuberth | Fr., 27. August 2021 - 18:54

Lasst doch endlich die Finger von AFG.

Wir sollten die letzten ehemaligen Helfer noch in Sicherheit bringen (auch zu uns holen wenn es so gewünscht wird) und dann endlich AFG den Menschen die dort leben überlassen.

Aber nein unsere Medien, das ist ja nicht nur hier so, zerbrechen sich schon wieder die Köpfe über lauter "ungelegte Eier".

Wie wäre es mit mehr kritischen Artikeln zu Brüssel?
Ein Brüssel das sich immer mehr Macht holen, und dabei die Nationalstaaten entmachten will.

Ach, ein zu heißes Eisen?
Dann traut euch doch mal an so etwas statt hier abgedroschene Themen aufzuwärmen.

dass es ohne die US-Amerikaner wahrscheinlich nicht zu einer einzigen Evakuierung gekommen wäre? Dass wir daran erinnert wurden, dass wir unbedingt m e h r, und nicht weniger Europa brauchen, um auch ohne Hilfe anderer in Krisensituationen reagieren zu können?

Sie möchten nichts mehr dazu lesen, sondern lieber zu den Lieblingsthemen der AfD zurückkehren - zu denen u.a. die Ablehnung, bei manchen der spürbare Hass auf die EU gehört? Es ist ja schließlich Wahlkampf!

Es gibt zahlreiche Themen, zu denen sich die Cicero-Redaktion kritisch äußern kann, da muss man sich nicht bei den offensichtlichen AfD-Freunden in diesem Forum anbiedern. Die - so denke ich - auch nicht unbedingt den typischen Cicero-Leser repräsentieren.

Gegenvorschläge wären der schwelende Machtkampf in der AfD, deren Spendenaffären, oder die Verbindung der Querdenker ins rechtsextreme Lager.

Aber dann würden die üblich Empörten sofort den Cicero lautstark als Lakaien des Mainsteams "identifizieren"!

...werter Herr Lenz.

Brüssel hatte ich - beispielhaft - erwähnt da aktuell die EU ihre Unfähigkeit zu wirksamem Handeln gezeigt hat.
Aber Brüssel eben einfach so weitermachen will zu noch mehr 1-EU-Staat.

Artikel die sich genauer mit den Parteien (nur bitte nicht auf eine einzige begrenzen) befassen, würde ich sehr gerne hier lesen.

Jochen Rollwagen | Fr., 27. August 2021 - 20:23

1. Denkfehler: Es ist natürlich nachvollziehbar, daß ein Autor von " Geopolitical futures" nach wie vor der Meinung ist, Hinz und Kunz wären daran interessiert, die "Beziehungen zu den USA" zu verbessern. Das ist nur leider kompletter Humbug, vor allem im Fall der Türkei. Nach dem Komplett-Desaster in Afghanistan hat wirklich jeder gesehen, was man von "Guten Beziehungen" zu den im Niedergang befindlichen USA hat: nix.
2. Denkfehler: Vielleicht ist es dem Autor entgangeny aber die Zentralasiatischen Staaten (Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien) sind allesamt ehemalige Soviet- Republiken und wissen genau, an wen sie sich wenden müssen, um Stabilität zu bekommen: Rußland, das ja auch beste Beziehungen zum Iran unterhält. Da spielt die Musik. Nicht mehr in Washington. Der Drobs ist gelutscht.

Christoph Kuhlmann | Sa., 28. August 2021 - 04:31

gibt, mit der man verhandeln kann und die Glaubwürdig ist. Der ständige Bürgerkrieg ist wohl das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn ich da etwas von schiitischen Milizen lese (Hazara?), dann hört sich das schon wieder nach Jahrzehnten von Leid und Tod an. Es gibt zahlreiche wirtschaftliche Interessen von Staaten der Region. Projekte, die das geschundene Land zu etwas Wohlstand kommen lassen können. Hoffen wir, dass es da voran geht. Egal ob mit China oder Russland. In der Region herrscht seit einem Jahr Dürre. Die Nahrungsmittellager der NGOs sind leer. Die Taliban brauchen Geld. Möglicherweise kann man da etwas tun um die Lage der Frauen zu verbessern. Der erste Schritt wäre allerdings dafür zu sorgen, dass ihnen nicht die Kinder verhungern. Außerdem gibt es gemeinsame strategische Interessen mit dem Westen was IS-K. betrifft.

Ernst-Günther Konrad | Sa., 28. August 2021 - 08:51

Aus meiner Sicht wird dort keine Ruhe einkehren und so etwas wie eine stabile Regierung nicht entstehen. Die unterschiedlichsten Stämme und islamistischen Interessengruppen werden sich dort versuchen, ein Gebiet, eine Stadt zu sichern und ihr eigenes Ding versuchen. Taliban, ISIS-Anhänger, Stammesfürsten, eine vielleicht nach außen hin durch wen auch immer aufgebaute "Scheinregierung", fragwürdige NGOS werden dort jeweils eigene Interessen versuchen durchzusetzen und im Handel mit dem Westen, Menschen gegen Geld tauschen, darunter auch viele "Schläfer", die im Westen so dann als Terroristen ihr Werk vollenden. Solange es die Afghanen selbst nicht hinbekommen, die Kriegstreiber in den eigenen Reihen aus dem Land zu werfen und was Neues anzufangen, wird das ein Krisenherd bleiben, aus dem heraus Anschläge überall iniziert werden. China und Russland, Türkei und Iran, sie werden ihre wirtschaftlichen Interessen einkaufen in dem instabilen Zentrum -Discounter- islamistischer Terrorgruppen.