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Psychogramm Frankreichs - Zwischen Stolz und Selbstkritik

Frankreichs Präsident ist unbeliebt, der internationale Einfluss perdu und der Citroën DS von den Straßen verschwunden. Aber die Depression wurzelt tiefer

Autoreninfo

Jacques Pilet ist Journalist und Leiter der Medienentwicklung der Schweizer Ringier AG. Er gründete das Informationsmagazin L‘Hebdo und die Zeitung Le Nouveau Quotidien (heute Le Temps).

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Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (Juni). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen.

 
 
 
 
Ich liebe mein Frankreich, ich liebe die Franzosen“, hatte François Hollande bei seinem Amtsantritt vollmundig erklärt. Seine öffentliche Liebeserklärung ist nach einem anfänglichen Strohfeuer unerwidert geblieben. Die Franzosen wenden sich desillusioniert ab von ihrem Präsidenten. Ihn machen sie für die höchste Arbeitslosenquote, die es je gab, verantwortlich, für die stagnierende Wirtschaft, die wachsenden Staatsschulden und für das schwindende politische Gewicht des Landes. Ist das fair, ist Hollande an allem schuld? Oder liegen die Ursachen des Niedergangs womöglich viel tiefer?
Mögen die Franzosen in vielem ins Hintertreffen geraten sein, in einem sind sie unübertroffen: im Pessimismus. 70 Prozent malen die Zukunft der französischen Gesellschaft schwarz. Die Nation wirkt als werde sie von Depressionen heimgesucht.
 
Der ungarische Denker István Bibó (1911 – 1979) konstatierte bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, wie „Seelenzustände, die mit Neurosen und Hysterien beim Menschen verwandt sind, im Leben ganzer Nationen auftauchten und deren Politik entscheidend mitbestimmten“. Damals bezog er sich auf das Deutschland und die osteuropäischen Länder der zwanziger Jahre. Heute lesen sich seine Zeilen wie eine Analyse des heutigen Frankreich.
 
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Die Ursachen von Depressionen sind vielschichtig. Viele Menschen haben eine Menge Ärger und bleiben dennoch bei Laune. Andere sind von materiellen Sorgen weitgehend verschont und leiden unter Melancholie. Ja, Frankreich hat Probleme. Aber erklärt das allein, warum Franzosen sich als pessimistischer bezeichnen als Iren oder Belgier, Vietnamesen oder Ghanaer?
„Bei den Franzosen herrscht im Unterschied zu anderen Ländern ein Gefühl des Niedergangs“, erklärt Gaël Sliman vom Meinungsforschungsinstitut BVA, das der französischen Bevölkerung die Goldmedaille in Schwermut verliehen hat.
 
Indessen gilt es, wie in der Psychoanalyse, tief zu bohren. Den Ursprung kollektiver Hysterie sah schon István Bibó in einer „Verkennung der Wirklichkeit“, in „übersteigerter Selbsteinschätzung“ und „unrealistischen, unverhältnismäßigen Reaktionen auf Einflüsse aus der Umgebung“. Dies trifft recht gut die Gemütsverfassung der französischen Gesellschaft, ihre lustlose, reizbare, resignierte und zugleich aufgeregte Stimmung.
 
Auch auf die Last der Geschichte wies der scharfsichtige Ungar hin, auf verlorene Kriege und schicksalhafte Enttäuschungen. Frankreich leidet in der Tat an seinen Erinnerungen. Lange hat das nationale Ego dem Land Flügel verliehen. „Vaterland der Menschenrechte“, „Weltmacht“, dann „Motor Europas“. Die heutige Wirklichkeit ist weniger ruhmreich. Von der früheren Überschätzung der eigenen Rolle ist Frankreich in bittere Desillusion verfallen.
 
 
Man muss weit zurückgehen. Bis zur Niederlage von 1870 gegen Preußen. Bis zum Ersten Weltkrieg, den Frankreich zwar gewann, aber erst nach einem grauenvollen Gemetzel, das die Nation ausblutete, und letztlich dank des Eingreifens der USA, das in den französischen Geschichtsbüchern nur sehr zurückhaltend erwähnt wird. Auch die Niederlage von 1940 und die deutsche Besatzung haben schwere Traumata hinterlassen. Die Scham angesichts der Kollaboration des Staates mit den Nazis wurde zwar offen behandelt. Doch bis heute schwingt eine lange vom Gaullismus und vom Kommunismus genährte Legende in den Erinnerungen mit. Die Rolle der durchaus heroischen Résistance war in Wirklichkeit längst nicht so entscheidend für den Kriegsverlauf. Der französische Widerstand war schwächer, hilfloser als in Filmen und Dokumentationen dargestellt, in denen er bis heute verherrlicht wird.
 
Auch die Nachkriegsjahre hatten ihre dunklen Seiten, die unausgesprochen blieben. Von 1944 an verfolgte General de Gaulle neben dem Wiederaufbau des Landes wie besessen zwei weitere Ziele: die Eindämmung des angloamerikanischen Einflusses und die Rekonstruktion des französischen Kolonialreichs. Dort aber wurde der Wunsch nach Unabhängigkeit immer lauter. Demonstrationen wurden im Blut erstickt. In Setif in Algerien fanden nach dem 8. Mai 1945 Tausende Algerier den Tod. Am 29. März 1947 kam es auf Madagaskar zu Massakern. Es folgte die schwierige Rückkehr nach Indochina. Selbst in Syrien, das 1920 durch ein Völkerbundsmandat unter französische Kontrolle gelangt war, brachen Kämpfe aus. Im Mai 1945 bombardierte die französische Armee Damaskus, Homs und Hama, bevor sie unter dem Druck der Rebellen sowie der Briten und Amerikaner das Land verlassen musste. Ein völlig vergessenes Kapitel der jüngeren französischen Geschichte.
 
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Von den Unabhängigkeitskriegen ganz zu schweigen. Von der Niederlage bei Dien Bien Phu in Vietnam (1954) bis zum verlorenen Kampf um Französisch-Algerien (1954 – 1962) hat die französische Entkolonialisierung unendlich schmerzlichere Spuren hinterlassen als der Rückzug der Briten aus ihrem Empire.
Doch die nächste Phase, geprägt von der starken Persönlichkeit de Gaulles, belebte die Hoffnungen der Franzosen erneut. Auf die Wiederversöhnung mit Deutschland reagierte man erleichtert. Den Aufbau Europas verstand man als Schritt nach vorne, vielleicht sogar als Ersatz für vergangene Größe. Dann erlebte sich das Land unter de Gaulle als stolzer Besitzer der Atombombe, die der Staatschef als Zeichen der Zugehörigkeit Frankreichs zum Club der Mächtigen sah. 50 Jahre später verblasst eine weitere Illusion.
 
Die Fortsetzung ist bekannt. Deutschland wurde größer, gewann an Stärke, behauptete sich besser auf der internationalen Bühne. In Frankreich löste dies nicht Eifersucht oder Rache aus, sondern Bitterkeit. Denn gleichzeitig erstarrte die französische Gesellschaft in einem kostspieligen Modell und musste mit ansehen, wie die nationale Industrie zu bröckeln begann. Der Absturz der Concorde, jenes kühnen, prächtigen Vorzeigeobjekts der französischen Luftfahrt, nahm symbolische Dimensionen an. Selbst der legendäre, in der ganzen Welt begehrte Citroën DS ist heute verschwunden. Zum Glück haben in Sachen Prestige die Weltraumrakete Ariane und der europäische Airbus die Nachfolge angetreten. Doch wo sind die neuen Flaggschiffe?
Die Eurokrise warf ein schonungsloses Licht auf die Schwächen der Nation. Nun schwenkte Frankreich von übersteigertem Stolz zu zermürbender Selbstkritik über. Ein Auf und Ab, das Psychologen gut kennen.
 
 

So braucht es denn schon fast Mut und Nonkonformismus, um von Frankreichs Trümpfen zu sprechen. Beides hat der Essayist und Geograf Emmanuel Todd, der gemeinsam mit Hervé Le Bras ein Buch gegen den Strom geschrieben hat. „Le Mystère français“ („Rätselhaftes Frankreich“) lautet die mit Ziffern und Landkarten gespickte Studie, die ein eher positives Bild Frankreichs zeichnet. Sie hebt die beachtlichen Anstrengungen hervor, die dort in den vergangenen Jahrzehnten in der Bildung unternommen wurden (40 Prozent der Franzosen haben studiert), die Emanzipation der Frauen, die Garantie medizinischer Versorgung für alle Bürger. Zudem weist die soziologische Untersuchung die Stabilität familiärer Strukturen sowie des kulturellen und religiösen Erbes nach.

Die Leier, dass „alles den Bach heruntergeht“, hält den Fakten nicht stand. „Die Krise macht uns pessimistisch“, sagt Todd. „Dabei vergisst man, wie jenes angeblich so wunderbare Frankreich der ,Trente Glorieuses‘, der glorreichen 30 Jahre zwischen 1945 und 1975, aussah … Auch unsere Zeit hat ihre Leiden, doch sind es Leiden einer wesentlich komplizierteren Welt. So schlecht geht es Frankreich gar nicht, es könnte leicht wieder auf die Beine kommen.“
 
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Was braucht das Land, damit dies gelingt? Um das Handikap einer leidvollen Geschichte zu überwinden, wird Frankreich nichts anderes übrig bleiben, als echte Vergangenheitsbewältigung zu betreiben und sich von der Last der Mythen zu befreien. Bei seinem Algerienbesuch anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der algerischen Unabhängigkeit hat François Hollande Schritte in diese Richtung getan. Er hat die „blutige Niederschlagung“ der Demonstration für die algerische Unabhängigkeit am 17. Oktober 1961 eingestanden, bei der Dutzende von Algeriern in die Seine geworfen wurden.
 
Der Weg aus der Depression führt über die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, aber auch über Selbstachtung und einen versöhnlichen Blick auf die Welt. „Die Franzosen sehen sich als eine nur vorübergehende Glücksinsel in einer Welt voller Katastrophen. Frankreich verfügt über viele Fähigkeiten zur Bewältigung seiner Probleme, aber es sieht sie nicht“, resümiert der Generaldirektor der Welthandelsorganisation, Pascal Lamy. Dieses anspruchsvolle Volk sehne sich nach einer neuen Perspektive, wartete auf ein sich andeutendes Zukunftsprojekt. Auf eine neue Erfolgsgeschichte.
 
Doch weder Linke noch Rechte sind derzeit in der Lage, sich ein starkes, modernes Frankreich von morgen vorzustellen. Dies birgt Gefahren, da immer mehr ratlose Bürger sich den Verfechtern vergangener Ideale zuwenden, dem Front National oder der Linksfront „Front de gauche“. Beide Extreme idealisieren die Geschichte in jeweils entgegengesetzter Richtung und nutzen sie zur Beschwichtigung der Bürger. Damit aber vernebeln sie eine Zukunft, die so schlecht gar nicht aussieht.

 

 

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