Die konfrontative Rhetorik zurückgefahren: Außenministerin Baerbock stellt im Berliner China-Institut Merics die China-Strategie der Bundesregierung vor / dpa

Die Bundesregierung verschreibt sich eine „China-Strategie“ - Kein Krieg um Taiwan

In der jüngst vorgestellten China-Strategie der Bundesregierung wurde die bisher vorherrschende „Werte“-Rhetorik durch konstruktiven Realismus abgelöst. Für diesen Wandel dürften verschiedene Motive eine Rolle gespielt haben.

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Hellmut Hoffmann war von 2013 bis 2016 deutscher Botschafter in Albanien.

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China ist für Deutschland gleichzeitig „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“, heißt es leitmotivisch in der soeben veröffentlichten „China-Strategie“ der Bundesregierung. Um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen, stellt die Bundesregierung sogleich klar, dass die Qualifikation „systemischer Rivale“ keineswegs bedeute, dass eine Zusammenarbeit mit China nicht möglich wäre. Ganz im Gegenteil suche Deutschland die Zusammenarbeit – allerdings „zu fairen Bedingungen“, wie andeutungsreich nachgeschoben wird.

Für ihre grundsätzlich konstruktive Haltung hat die Bundesregierung gute Gründe. Mit dankenswertem Realismus stellt sie nämlich fest: „China übt auf sämtliche Kernfragen unserer Weltordnung einen entscheidenden Einfluss aus.“ Wichtige Motive kommen hinzu, darunter selbstredend die herausragende Bedeutung, die China seit Jahren als mit Abstand bedeutendster Handelspartner Deutschlands hat. Ein Drittel des Umsatzes der für die deutsche Wirtschaft zentralen Automobilindustrie wird in China erwirtschaftet, und die Herstellung vieler Produkte ist hierzulande auf Zulieferungen aus China angewiesen.

Die Ausgestaltung der „China-Strategie“ lässt erkennen, dass die noch vor einigen Monaten bei einigen Akteuren in Berlin zu beobachtende Neigung, die Streitfragen mit China mit dem großen „Werte“-Besteck vorwiegend rhetorisch-konfrontativ anzugehen – beispielhaft war dies bei der angespannten Pressekonferenz von Außenministerin Baerbock mit ihrem chinesischen Amtskollegen in Peking Mitte April zu beobachten – einer merklich verbindlicheren Tonlage Platz gemacht hat.

Für diesen Wandel dürften verschiedene Motive eine Rolle gespielt haben, zwei wichtige seien hervorgehoben: zum einen die Hoffnung auf eine positive Rolle Pekings bei Bemühungen um eine Beendigung des Krieges in der Ukraine, zum anderen die Sorge vor einer Eskalation bei einer Krise um Taiwan, die jenseits der Risiken schwer kontrollierbarer sicherheitspolitischer Dynamiken zu einer westlichen Sanktionspolitik nach dem Muster der Russlandsanktionen führen könnte, jedoch mit noch weit negativeren wirtschaftlichen Folgen für Deutschland und Europa.

Die gewaltfreie Lösung der Taiwan-Frage einer ferneren Zukunft überlassen

Welch weitreichende Bedeutung der Taiwan-Frage in Zukunft zukommen könnte, hatten Äußerungen von Staatspräsident Macron im Anschluss an seinen Besuch in Peking im April und deren kritisches Echo in Politik und Publizistik gezeigt. Seine Anmerkung, wonach „das Schlimmste wäre, zu denken, dass wir Europäer bei diesem Thema Mitläufer sein sollten und uns an das amerikanische Tempo und eine chinesische Überreaktion anpassen sollten“, und sein Appell, ganz im Gegenteil Europa hier als „dritten Pol“ zu positionieren, hatte in Deutschland zu überaus harscher Kritik geführt. Dabei haben die altvorderen Transatlantiker und die neuen Hyper-Transatlantiker aus dem Konvertitenmilieu ehemals maoistischer und/oder sponti-grüner Systemsprenger Macron gründlich missverstanden, indem sie so taten, als scherte er aus der gemeinsamen Front der Ablehnung einer gewaltsamen Lösung der Taiwan-Frage aus.

Dass diese Front nicht nur in der EU fest steht, sondern auch in weiten Teilen der Welt, ist überall, also auch in Peking, bestens bekannt. In Wirklichkeit war es Macron um die wichtige Frage gegangen, ob es in Europas Interesse liegen könne, sich in der heiklen Causa Taiwan in eine Eskalation hineinziehen zu lassen, die von Scharfmachern sowohl in China als auch in den USA und in Taiwan betrieben wird. Im europäischen Interesse müsse es im Gegenteil liegen, hier einer gefährlichen Eskalation entgegenzuwirken. Dies bedeutet in der Praxis, der Aufweichung des im Zuge der Kehrtwende der US-China-Politik Anfang der 70er Jahre zu Taiwan erreichten Modus Vivendi entgegenzuwirken.

 

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Voller Bewunderung für die geopolitisch denkende Führung Chinas berichtet Sicherheitsberater Kissinger, wie Mao im Gespräch mit US-Präsident Nixon ohne Umschweife zum Kernpunkt vorstieß: „Das kleine Problem ist Taiwan, das große Problem ist die Welt.“ Mit seiner Zusicherung, keine Gewalt gegenüber Taiwan anzuwenden, und seiner Bemerkung „Wir können vorläufig mit ihnen (Taiwan) leben, und das kann noch hundert Jahre dauern“, war der Weg zur Aufnahme normaler Beziehungen mit der VR China frei. Die Erreichung einer gewaltfreien Lösung der Taiwan-Frage war einer ferneren Zukunft überlassen. Dieser kluge Ansatz hat viel dazu beigetragen, in Asien über viele Jahre Frieden und Sicherheit zu wahren.

„Deutschland setzt sich für Deeskalation ein“

Der mit dem Zerfall der Sowjetunion entstandene „unipolare Moment“ (Charles Krauthammer) erschien manchen jedoch als günstige Gelegenheit, die hegemoniale Stellung der USA zu erneuern. So wie die Ukraine zu selbstbewusst-identitärem Auftreten im Verhältnis zu Russland ermutigt wurde, gab es vergleichbare, den Modus Vivendi relativierende Ansätze gegenüber Taiwan. Der angesehene Harvard-Historiker Graham T. Allison äußerte sich daher besorgt, dass „die amerikanische Politik in Richtung Anerkennung Taiwans gehen“ könne, wo doch klar sei, dass Chinas Präsident Xi „in den Krieg ziehen“ werde, wenn sich Taiwan offiziell unabhängig erkläre. Allison bezeichnet daher „schon den Besuch“ von Nancy Pelosi als Sprecherin des US-Repräsentantenhauses in Taiwan als „dumm“.

Vor diesem Hintergrund ist zu begrüßen, wenn die Bundesregierung in ihrer China-Strategie folgende Eckpunkte herausstellt:

„Bei der Bewältigung außen- und sicherheitspolitischer Herausforderungen suchen wir eine konstruktive Zusammenarbeit mit China.“

„Die Ein-China-Politik bleibt Grundlage unseres Handelns. Diplomatische Beziehungen bestehen nur mit der Volksrepublik China. Deutschland unterhält mit Taiwan in vielen Bereichen enge und gute Beziehungen und will diese ausbauen. Im Rahmen der Ein-China-Politik der EU unterstützen wir die sachbezogene Teilnahme des demokratischen Taiwan in internationalen Organisationen. Eine Veränderung des Status quo in der Straße von Taiwan darf nur friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen. Eine militärische Eskalation würde auch deutsche und europäische Interessen berühren.“

„Deutschland setzt sich für Deeskalation ein.“

Eine Spaltung des Westens in Sachen China bzw. Taiwan wäre höchst schädlich

Da die Einhegung der absehbar die nächsten Jahrzehnte prägenden amerikanisch-chinesischen Rivalität, in der der Behandlung der Taiwan-Frage eine zentrale Rolle zukommt, weltpolitisch von größter Bedeutung ist, sollte sich die EU darauf konzentrieren, wie die relevanten Akteure auf einen Pfad konstruktiver Politik (zurück)geführt werden können. Wer die enorme Aufrüstungsdynamik in Asien und das immer mehr um sich greifende Gerede über eine quasi unaufhaltsam aufziehende militärische Konfrontation zwischen den USA und China auch nur oberflächlich zur Kenntnis nimmt, weiß, welch enormes Gefahrenpotential für die internationale Sicherheit hier liegt.

Wenn Präsident Macron die Europäer nun dazu auffordert, in diesem Zusammenhang ihre eigenen Interessen zu erkennen und wahrzunehmen, dann ruft dies in Erinnerung, wie Frankreich und Deutschland eben dies taten, als sie 2003 aus Gründen, deren Triftigkeit heute selbst in den USA kaum noch bestritten wird, eine Beteiligung am US-geführten Irakkrieg ablehnten. Insofern ist es möglicherweise nicht zuletzt auch Macrons viel kritisierter Wortmeldung zu verdanken, wenn US-Außenminister Blinken und US-Finanzministerin Yellen kürzlich zu Gesprächen nach Peking gereist sind. In Washington dürfte nämlich gesehen werden, dass eine Spaltung des Westens in Sachen China bzw. Taiwan höchst schädlich wäre.

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Tomas Poth | Di., 18. Juli 2023 - 18:13

Dieser hier beschriebene Wandel ist vielleicht nur eine kurzfristige Politik, um Entspannung gegenüber China zu "signalisieren".
Der Grund dafür kann sein, daß man sich zunächst auf den Ukrainekrieg konzentriert!
Die Amerikaner ziehen nämlich ihre HAWK-Flugabwehrsysteme aus Taiwan ab, um sie an der ukrainischen Front einzusetzen!
Ein taktisches Manöver?!

Henri Lassalle | Di., 18. Juli 2023 - 19:37

konstruktiv, man lasse sich nicht in einen Konflikt mit China hineinziehen. Dazu muss ich sagen dass die französische Aussenpolitik stets weitsichtiger und luzider war und ist, als die deutsche; Deutschland macht Aussenpolitik im Schlepptau der USA, und das seit 1945 (mit Ausnahme der Ostpolitik unter Willy Brandt). Aber Aufgeben wird China Taiwan nicht, das bleibt als drohender Schatten bestehen. Ein militärischer Konflikt in Taiwan hätte katastrophale Folgen, man denke nur an die Chip-Abhängigkeit des Westens (aber auch Chinas). Aber es könnte gefährlich werden, wenn China technologisch aufgeholt hat - noch sind sie nicht soweit. Auf jeden Fall täte eine gewisse Distanz zu den USA gut. China war Deutschland gegenüber immer eher wohlgesonnen.

Karl-Heinz Weiß | Di., 18. Juli 2023 - 20:38

Bei dieser Strategie hat mit Sicherheit Olaf Scholz die Feder geführt. Nach 50 Jahren die Ein-China-Politik unreflektiert in Zweifel zu ziehen, war etwas vermessen. Aber auch im Falle des Iran wurde Außen-Annalena schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Das Thema "Glaubwürdigkeit " ist damit bis auf weiteres erledigt. Für eine Chef-Diplomatin so ziemlich die Höchststrafe.

Christoph Kuhlmann | Di., 18. Juli 2023 - 21:11

welche China verursacht hat, ist ein bisschen feministische Außenpolitik, wie ein laues Lüftchen verglichen mit einer Abrissbirne. Auch China muss lernen, Liefertermine sind einzuhalten. Alles andere ist ein Affront, zu dem Baerbock gar nicht in der Lage ist. Es sei denn, sie erklärt versehentlich den Krieg.

Ernst-Günther Konrad | Mi., 19. Juli 2023 - 07:26

Baerbock und Strategie? Zwei Gegensätze die sich gegenseitig nicht auflösen können. Nur weil die Dame mal einem anderen Land nicht den Krieg erklärt hat? Nur weil sie mit ein paar Phrasen das tut, was eigentlich Diplomatie ausmacht, eben nicht wie ein Elefant durch einen Porzellanladen zu laufen? Vielleicht auch reiner Selbstschutz. Was wollten gerade die GRÜNEN machen würde China morgen Taiwan angreifen? Wo blieben ihre ideologisch verblendeten Weltenrettungsgedanken? Wollen die dann gegen China antreten? Mit wem und mit was? Nun gut, Deutschland hätte ein Schwert in der Hand mit Grünen Politikern. Die größte Bedrohung für China wäre, das Baerbock denen mal schnell den Krieg erklärt und Taiwan alle und jede Unterstützung zusagen würde und 5000 Helme schicken läßt.
Nein, das alles ist keine Strategie was die da macht. Das ist auf Zeit spielen, weil niemand tatsächlich weiß, wie sich China verhalten wird. Vielleicht hat sie da mal auf einen Diplomaten gehört oder hat Olaf am Ende doch?

Gerhard Lenz | Mi., 19. Juli 2023 - 09:37

und kein blinder Individualismus der - wie schreibt Herr Hoffmann -

"neuen Hyper-Transatlantiker aus dem Konvertitenmilieu ehemals maoistischer und/oder sponti-grüner Systemsprenger".

Es ist erstauntlich, wie eilfertig und begeistert Autoren manchmal vom Pfad der seriösen Argumentation abkommen und ihre eigenen Beiträge diskreditieren. Solche "Begrifflichkeiten" sollen dem Text wohl etwas mehr "Pfeffer" verleihen?

Zum Thema: Macrons Versuch einer eigenständigen - aber geeinten - europäischen Politik ist LEIDER nicht mehr als eine hübsche Träumerei. Beispielhaft die Haltung der zwei bekannten EU-Quertreiber: Orban spielt mit Begeisterung Putins Pudel, den Polen kann angesichts der russischen Aggression die Anlehnung an die USA gar nicht eng genug sein.
Die EU hat es in der Vergangenheit verpennt, eine ernstzunehmende Außen-, geschweige denn Verteidigungspolitik, aufzubauen. ;Mit jedem populistischem Wahlerfolg in einem europäischen Land wird diese Chance geringer.

Armin Latell | Mi., 19. Juli 2023 - 10:37

mit seinen Atlantikern und Schwab-Jüngern in der Regierung, als einer der treuesten Vasallen der usa, wird tun, was uncle sam erwartet und verlangt, siehe Ukraine. Deutsche Interessen spielen da keinerlei Rolle. Die "Wertschätzung" der usa für die eu kann man wohl in etwa mit den Worten Victoria Nuland's beschreiben: Fuck the EU.
Herr Hoffmann hat m.M.n. in seiner Bewertung im Großen und Ganzen Recht, und ganz sicher ist auch, dass die usa mit China nicht das Spielchen so betreiben können wie mit Russland-Ukraine. Auf diese Art würden sich die amerikanischen Falken die Zähne ausbeißen, von der Gefahr für den Rest der Welt ganz abgesehen. Die wirkliche Gefahr für uns, den (eu)Westen, sehe ich in China und die intrigante, ungehemmte Politik der usa.

Klaus Funke | Mi., 19. Juli 2023 - 13:14

Unseren Regierenden geht der Arsch auf Grundeis, sie haben begriffen, dass sie sich nicht mit China und Russland gleichzeitig anlegen können. Mit China vor allem, weil wenn der rote Drache böse wird, können wir alle Lichter ausknipsen, dann geht nix mehr. Außerdem - und auch hier wird dem Herrchen aus Übersee brav gefolgt und über sein Stöckchen gesprungen - will man noch ein bisschen "Divide et Impera" spielen. Wiewohl das sowieso nicht verfängt. Nein, die neue China-Strategie der Bundesregierung ist eine halbherzige und von Feigheit diktierte, gläserne Sache, gläsern, weil jeder sie sofort durchschaut. In Peking wie im ganzen Land des Lächelns wird man darüber geschmunzelt haben. Man sieht der ganzen Angelegenheit die deutsche Schwäche an, man riecht sie geradezu. Mein Gott, was ist aus diesem Land nach 16 Jahren Merkel und zwei Jahren Ampel geworden. Ein Wickelkind mit Schnuller und vielen Windeln. Fremdschämen ist angesagt.