
- Als Europa sich aufzulösen begann
Wofür wird das Jahr 2017 einst in den Geschichtsbüchern stehen? Brexit, Katalonien, aber auch Trump in den USA, Russland und China – vieles spricht dafür, dass Europa hier begann sich aufzulösen
Manchmal hilft es, auf einen Hügel zu steigen und etwas weiter zu blicken. Zum Beispiel, wenn es um die Europäische Union und ihren Zustand geht. Denn die Geschichte eines organisierten Europa reicht viel weiter zurück als bis zu den Vätern der Montanunion und der Römischen Verträge.
Viele Jahreszahlen verbinden sich mit der Entstehungsgeschichte dieses organisierten Europa. Die Zahlen stehen als Chiffren für die Genese eines sich politisch formenden Kontinents: 732, die Schlacht von Poitiers, 800, das Jahr der Krönung Karls des Großen, 1356, die Goldene Bulle, 1492 die Reconquista, 1648, der Westfälische Friede nach dem Dreißigjährigen Krieg, 1713 der Frieden von Utrecht, 1806 das Ende des Heiligen Römischen Reiches durch Napoleon, 1814 die Neuordnung durch den Wiener Kongress. 1871 Versailles, dann Erster und Zweiter Weltkrieg, nochmals Versailles und dann Malta, Jalta, Potsdam, 1951 schließlich die Montanunion, 1957 die Römischen Verträge.
Die Zerfallserscheinungen häufen sich
Wofür das Jahr 2017 einmal stehen wird in der Rückschau, im Lichte der Jahrhunderte oder jedenfalls Jahrzehnte? Vielleicht für das Jahr, in dem das organisierte Europa namens Europäische Union begann, sich aufzulösen. Noch bevor Weihnachten und das Erinnern an Christi Geburt seine Ruhe über Europa legte, gaben die Katalanen mit einer klaren parlamentarischen Mehrheit für die Separatisten Madrid und Regierungschef Mariano Rajoy zu verstehen: Wir wollen raus aus Spanien. Vorher hatte sich schon Schottland angeschickt, sich von Großbritannien zu lösen, das sich für 40 Milliarden Euro im Zuge des Brexit aus der Europäischen Union freikauft und sein Glück im Alleingang sucht.
Der Brexit hat keinerlei Einhalt gebietende Wirkung entfaltet: Auf der französischen Mittelmeerinsel Korsika brodeln weiter separatistische Umtriebe. Der Norden Italiens ist von der Sehnsucht getrieben, sich von seinen südlichen Landsleuten loszulösen. Selbst in Bayern vertreten manche im Prinzip ernstzunehmende Diskutanten sezessionistische Ansichten, wie der frühere Chefredakteur des Bayernkurier, Wilfried Scharnagl. Während sich Großbritannien freiwillig aus der Europäischen Union zurückzieht, steht das relativ junge Mitgliedsland Polen wegen seiner Justizreform vor dem denkbaren Rauswurf, auch das wie der Brexit ein absolutes Novum und der jungen Geschichte dieser Staatengemeinschaft.
Nicht nur das Eliteprojekt ist Schuld
Wie kann das sein? Wieso diese zentripetalen Kräfte? Die beliebte Erklärung, Europa sei immer ein Elitenprojekt gewesen und nie eines der Bevölkerungen, ist richtig. Sie reicht aber nicht weit genug. Hier drei Erklärungsversuche über diese Binse hinaus.
Erstens: Europa ist immer ein Europa der Regionen gewesen, die real existierende EU so gesehen schon ein Weltwunder.
Wer sich die Landkarte des Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation) anschaut, der wird dort 296 Souveränitäten und 1475 reichsunmittelbare Herrschaften finden. Aus diesem Gewimmel von fast 2000 politischen Einheiten entstand Europa. Wer sich das vor Augen führt, wer in eine kleine deutsche Stadt wie Meiningen fährt oder auch nach Braunschweig, der erfährt (grandios im Meininger Schloss!) etwas von dieser unmittelbaren Kraft des örtlichen Herrschers - und staunt zugleich, wie weit man es vor diesem Hintergrund schon in Sachen europäische Einheit gebracht hat. Diese Herkunft aus der Kleinstaaterei wirkt aber weiter, das sollte man immer mitdenken.
Zweitens: Die Kraft des Nationalstaates ist unterschätzt, sein Ende zu früh ausgerufen worden.
Der Nationalstaat mit einhergehender Flagge und Fußballmannschaft ist uns zu so einer Gewohnheit geworden, dass gerne vergessen wird, wie jung er ist. Er hat seinen Ursprung in der Französischen Revolution und ihren Folgen, ist also gerade mal 200 Jahre alt. Die Nation ist, wie der Historiker Theodor Schieder einmal geschrieben hat, „die nächste und unmittelbarste Behausung in einer unbehausten Welt“. Und je stärker das Gefühl einer unmittelbaren Geborgenheit in einer unbehausten Welt namens Globalisierung, desto stärker werden die Sehnsüchte nach dieser nächsten und unmittelbaren Behausung. Mit diesem Befund ist ausdrücklich kein (positives) Urteil darüber getroffen, ob dieser Rückzug ins Schneckenhaus die opportune Antwort auf den Außendruck ist, der als schwer greifbar empfunden wird.
Drittens: Das „gemeinsam sind wir stark“ wird durch ein „Rette sich, wer kann“ ersetzt
Außendruck ist eine formende Kraft, nicht nur bei Kohlenstoff (Unter hohem Außendruck entstehen aus ihm Diamanten), sondern auch bei politischen Gemeinwesen auf einem Kontinent. Es gibt einen so brillant funkelnden wie streitbaren Aufsatz des belgischen Historikers Henri Pirenne, der Mohammed und die Ausbreitung des Islam auch im nördlichen Mittelmeerraum direkt in Zusammenhang setzt mit der Kaiserkrönung Karls des Großen und damit der Geburt des politischen Europa. Der Außendruck einer anderen Kultur und Religion vor allem auf die Iberische Halbinsel aber auch kurzzeitig über die Pyrenäen hinweg, so Pirennes These, habe einen gemeinsamen europäischen Herrscher erst möglich gemacht und der Kleinstaaterei Europas das erste gemeinsame Dach gegeben.
Lange Zeit sah es so aus, als könne der Hinweis, ein Wirtschaftsraum und Kulturraum der 500 Millionen bei Freihandel untereinander und einer gemeinsamen politischen Stimme in der Welt konkurrenzfähig bleiben gegen Wettbewerber wie China und andere aufstrebende Wirtschaftsmächte, die sich von Mitbestimmung und übermäßigem Umweltschutz nicht aufhalten lassen in ihrem Drang an die Weltspitze. Dieses „Size matters“ hat offenbar seiner Überzeugungskraft verloren. Das Gefühl eines „Nur gemeinsam sind wir stark“ ist einem „Rette sich, wer kann“ gewichen.
Es tobt ein Kampf zwischen allen
Das macht sich nicht zuletzt auch im Umgang mit der großen Migrationsbewegung Richtung Europäischem Kontinent fest. Es ist außerhalb jeder Reichweite, dass sich die europäischen Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Zuwanderungspolitik und eine europäische Asylregelung verständigen. Auch der Austritt Großbritanniens hat mit einiger Sicherheit damit zu tun, dass Großbritannien über diese Frage autonom und nicht mehr in der Gemeinschaft entscheiden möchte. Das Referendum trug sich in einer Zeit zu, als Deutschland mit der Flüchtlingswelle konfrontiert war und Kanzlerin Angela Merkel feststellte, man könne die Grenzen nicht sichern und es liege nicht in ihrer Macht, wie viele Menschen noch kämen.
Folglich stellt sich die Welt ausgangs des Jahres 2017 so dar: Die USA werden von einem Präsidenten regiert, der das Separatistische im großen Stil propagiert und auch vorantreibt. Das treibt den Keil auch in die Europäische Union und fördert dort Separatismus und Isolationismus. Russland befördert diesen europäischen Zerfallsprozess wo es kann und mit den modernsten Mitteln, die zu Gebote stehen, in einer Art Rache für die Siegermentalitäten des Westens in der Zeit nach dem Kalten Krieg. Und China schickt sich an, die nächste Weltmacht und der lachende Dritte zu sein. Und just in dieser Lage suchen weite Teile Europas ihr Heil im Kleinen.
Wie ein Mann wie SPD-Chef Martin Schulz in diesem Lichte völlig geschichtsvergessen von den Vereinigten Staaten von Europa bis in acht Jahren reden kann, bleibt sein ganz eigenes Geheimnis. Nie waren sie ferner als heute.