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() Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens AG Heinrich von Pierer
Ein ganz unauffälliger Mensch

Siemens-Chef Heinrich v. Pierer wird auch nach dem Wechsel an die Spitze des Aufsichtsrats einer der mächtigsten Männer der deutschen Wirtschaft bleiben – und ein wortreicher Verteidiger der letzten Reste des Rheinischen Kapitalismus.

Am eindrucksvollen Palais am Wittelsbacher Platz 2 in München weist nur ein kleiner Schriftzug darauf hin, dass sich hier die Befehlszentrale eines Weltkonzerns verbirgt: Siemens steht da – als Minimalform des Unternehmensriesens. Die Mimikry der Macht setzt sich im Inneren fort. Auf dem schmalen Flur im ersten Stock zeigen winzige Messing-lettern an, wer im bürgerlichen Palast regiert: v. Pierer. Vorname, Doktortitel und hierarchische Funktion fehlen, als sei es überflüssiges Beiwerk und lenke nur vom Wesentlichen ab – sich immer wieder durch Leistung einen Namen zu machen und nicht durch große Gesten. Diese fast lautlose Inszenierung von Macht hat Methode. Ohne viel Aufhebens ließ Dr. Heinrich v. Pierer Mitte Juli eine Personalnachricht verbreiten: Der 63-jährige Vorstandsvorsitzende der Siemens AG, an der weltweiten Mitarbeiterzahl gemessen mit Abstand die deutsche Nummer 1, wird Anfang kommenden Jahres sein Amt an den 46-jährigen Klaus Kleinfeld abgeben. Der gilt als Strahlemann und strategisch kühler Kopf. Kleinfeld genießt im Konzern einen Namen, weil er das USA-Geschäft von Siemens wieder flottgemacht hat und ist inzwischen der wichtigste Gehilfe Pierers beim Umbau des Konzerns. Der Lehrmeister selber will Ende Januar an die Spitze des Aufsichtsrates wechseln und kann damit in aller Stille weiter wichtige Entscheidungen treffen – in der Personalpolitik ebenso wie bei Investitionen, Unternehmenskäufen oder -verkäufen. Pierer lässt gern durchblicken, dass er selber eigentlich alles am besten weiß, gibt sich dabei aber demonstrativ bescheiden. Das Chefbüro ist schlicht, und wie zur Bestätigung sagt der Büroinhaber: „Ich bin ein ganz unauffälliger Mensch.“ Beim Attribut „unauffällig“ schwingt ein Anflug von Koketterie mit, beim Substantiv „Mensch“ die nicht zu überhörende Bemühtheit, ja nicht als seelenlose Führungsfigur dazustehen, als bloßer Funktionär des Kapitals, sondern vor allem auch als oberster Vorgesetzter und Verantwortlicher für weltweit 415 000 Mitarbeiter. Pierer ist mit dem Begriff Soziale Marktwirtschaft aufgewachsen. Die wird von der reinen Lehre der Ökonomie gern als Rheinischer Kapitalismus bespöttelt, als wachstumsschwächelnde ewige Konsenssuche mit einem großen Schuss christlicher Menschenliebe. Der Mann an der Konzernspitze fühlt sich zwar allen verpflichtet, will es aber nicht allen recht machen. „Wer everybodys Darling sein möchte“, so sagt er ganz ungewohnt drastisch, „ist auch schnell everybodys A…“ Die letzten Reste an Harmoniesucht sind spätestens seit diesem Frühjahr verschwunden. Da hatte Pierer nach dem Abschluss des Metalltarifvertrages laute Empörung über die Lohnerhöhungen geäußert und dann im Wirtschaftsausschuss des Unternehmens eine Reihe von deutschen Standorten definieren lassen, in denen wegen überhöhter Personalkosten Produktionsverlagerungen drohten. Pierer kündigte an, er werde „nicht tatenlos zusehen, wie ein Arbeitsplatz nach dem anderen aus Deutschland verschwindet“, und forderte, in den gefährdeten Fabriken von der 35- zur 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich zurückzukehren. Das brachte ihm den wütenden Protest der IG Metall ein und den Schmähtitel „Arbeitszeit-Rambo mit Lizenz zum Jobkillen“. Der Siemens-Chef setzte den Deal Jobgarantie gegen Mehrarbeit durch und wurde zugleich zum Vorreiter der Arbeitszeitverlängerung in der gesamten Republik. Die Analyse, Heinrich v. Pierer habe sich gleichsam über Nacht vom „Konsensfanatiker zum Kostenkiller“ gewandelt, wischt der Betriebsratsvorsitzende Ralf Heckmann indes vom Tisch: „Schon seit vielen Jahren werden Arbeitsplätze verlagert. Nur die Geschwindigkeit nimmt zu.“ Der Ton ist rauer geworden, die Konfliktbereitschaft gewachsen. Jede Geschäftssparte wird immer wieder auf den Prüfstand gestellt, ob sie genügend Wert schafft. Kaum ein Werk bleibt von Rationalisierung verschont. Pierer ist ein Konsequenz-Fanatiker. Leidensdruck tut Not, glaubt der Prediger eines selbst unter Druck geratenen Rheinischen Kapitalismus. Aber der Sinn des Leidens muss vermittelt werden. Pierer liebt geradezu Auftritte auf turbulenten Betriebsversammlungen: „Immer, wenn was Neues kommt, dann sind die Menschen beunruhigt. Ich versuche ihnen Mut zu machen.“ Eitelkeit bricht durch, wenn Pierer glaubt, „so schön“ und mühelos den Zusammenhang von internationaler Wertschöpfungskette und der Sicherung von heimischen Jobs verdeutlichen zu können. „Da gehen die Menschen raus aus der Versammlung und sagen, der hat Recht“, glaubt er zu wissen. „Wenn ich in Erlangen herumlaufe, werde ich immer noch freundlich gegrüßt.“ So sagt der Siemens-Chef gern, als gelte es, sich selbst immer wieder als Mensch emotional abzusichern und gleichzeitig ein Schlüsselerlebnis als Manager vor Augen zu führen. In Erlangen ist er geboren und aufgewachsen, hat studiert und vor 35 Jahren seine Karriere bei Siemens begonnen. Dort hat er die Tochter eines Siemens-Managers geheiratet. In Erlangen wohnt Pierer noch immer mit seiner Familie, spielt Tennis bei den Turnerbund-Senioren und Schafkopf mit den Honoratioren, feiert das lokale Jahrmarkts-Großereignis namens Bergkirchweih, genießt das heimische Bier und den Spargel mit Rostbratwürstchen. Hier in der fränkischen Provinzstadt, die geprägt ist vom reformatorisch-strengen und sparsamen Geist hugenottischer Einwanderer, hat Heinrich v. Pierer als Balljunge seine ersten Groschen verdient und später als Sportjournalist sein Jura- und Wirtschaftsstudium finanziert. Den sorgsamen Geldumgang hat er nie aufgegeben: Der Top-Manager hat so lange zur Miete gewohnt, bis ihm der Hauswirt wegen Eigenbedarf kündigte. Noch heute runzelt er die Stirn, wenn ihm die Hotelrechnung auf einer Dienstreise zu hoch erscheint. In Erlangen ist er 1996 von wütenden Demonstranten als „Pierer der Verlierer“ beschimpft worden. Da steckte der ortsansässige Bereich Medizintechnik in einer schweren Krise. Die Investmentbanker von Goldmann-Sachs empfahlen nachdrücklich, die verlustträchtige Sparte zu verkaufen. Pierer sträubte sich, organisierte um, räumte im Management auf und brachte zugleich ein lokales Bündnis für Arbeit zustande, bei dem die Belegschaft sich auf Samstagsarbeit einließ und die Stadt auf Preiszugeständnisse beim Grundstückserwerb für eine hochmoderne Fabrik. Die Medizintechnik ist zu einer Vorzeigesparte geworden. Pierer platzt noch heute vor Stolz, es damals allen gezeigt zu haben. Der Triumph von Erlangen markiert – im Nachhinein gesehen – den Dreh- und Angelpunkt im Managerleben Pierers. Aktionäre hatten ihn auf der Hauptversammlung im Krisenjahr 1998 aufgefordert, die „Brücke zu verlassen“. Die Standardfrage der Journalisten lautete: „Wann kommt Ihr Nachfolger, Herr v. Pierer?“ Pierer zeigte Kampfgeist. Den habe er schon früh auf dem Tennisplatz bewiesen, gibt der Gewinnsüchtige zu Protokoll: „Ich habe Spiele umgedreht, als ich auch schon mal 0:5 im dritten Satz zurückgelegen habe. Wenn Dinge mal schief laufen, ist das die richtige Herausforderung.“ Die Wende im Match bei Siemens schaffte er mit einem gehörigen Stück Schlitzohrigkeit. Spitzbübische Freude bricht durch, wenn Pierer berichtet, wie er im Sommer 1998 ein Zehn-Punkte-Programm zur Konzernumstrukturierung und Steigerung der Ertragskraft verfasst und präsentiert hat: „Es war eine Mischung aus Dingen, die ohnehin gemacht werden mussten oder längst schon in Gang gesetzt waren, und nur ein paar Neuigkeiten. Aber es hat eingeschlagen, weil es wie ein Urknall gewirkt hat und man so schöne Storys darüber schreiben konnte.“ In der veröffentlichten Meinung mutierte Siemens fast über Nacht vom verschlafenen Hoflieferanten und verkrusteten Beamtenladen zum dynamischen Zukunftswert, aus der „Bank mit Industrieanhang“ zum High-Tech-Unternehmen, flexibel geführt per modernstem Portfolio-Management. Zum Erfolg gehört Fortune. Das Glück basiert aber auch auf Wissen und zäher Vorarbeit. Freunde aus Erlangen erinnern sich: „Der Heini hatte ein Einser- Examen und konnte immer auf seine Klugheit bauen“. In 35 Jahren hat Pierer fast jeden Winkel des Unternehmens kennen gelernt. Besessen liest er Akten, ist fast immer bestens präpariert, kommt er doch „ganz ungern in eine Situation, in der ich selber denke, Mensch, das hättest du vorher wissen können.“ Selten sind Flops. Wie der auf einer Asienreise, als sich Pierer bei einer Rede in Singapur für die „freundliche Aufnahme hier in Indonesien“ bedankte. Was in Singapur eisiges Schweigen hervorrief, in München aber eher leichte Schadenfreude. Denn der gestrenge Herr Heinrich, der immer die wohlige Nähe des Volkes sucht, hält die Spitzenmannschaft auf gehörigem Achtungsabstand und lässt sie gern seine Überlegenheit spüren. Dabei gehört es noch zu den eher harmlosen Vorkommnissen, wenn Pierer sich über Kollegen seiner Generation lustig macht: „Manche können mit einem modernen Handy von uns gar nicht richtig umgehen.“ Es geht bei der Nichterledigung von Aufträgen über eine Körpersprache, die „einem eine Gänsehaut über den Rücken jagt“ – so ein Vertrauter – bis zur peinlichen Inquisition im Führungskreis. Zielmargen von 7 bis 15 Prozent Umsatzrendite sind den Spartenchefs vorgegeben. Köpfe sind in Krisensparten gerollt, neue, frische Gesichter aufgetaucht – nicht erst jetzt mit Kleinfeld. Der Druck wächst unaufhörlich. Bereichsvorstände und Hauptabteilungsleiter erhalten nur noch 40 Prozent ihrer Bezüge garantiert und müssen sich so immer wieder an ihrer Leistung messen lassen. Ständig wird umorganisiert, ein Programm zur Effizienzsteigerung und Innovationsbeschleunigung folgt dem nächsten. Erst hieß es „top“! für den „time optimized process“, dann lautete die Message „SMS“, was für „Siemens Management System“ steht. Jetzt soll für Umsatzsteigerung und Gewinnmehrung auf dem Zukunftsmarkt China ein Zwölf-Punkte-Programm sorgen – grad, als wollte Pierer mit einer Zauberzahl den Image-Coup von 1998 wieder heraufbeschwören. Erfolg hat sich eingestellt. Die Produktivität wächst pro Jahr zweistellig. Siemens ist Weltmeister bei Patenten. Der operative Gewinn, im vergangenen Geschäftsjahr bereits deutlich gestiegen, soll auch diesmal bis Ende September, wenn das Siemens-Jahr endet, zweistellig zugenommen haben. Der Boss ist zufrieden: „Die Qualität unseres Top-Managements hat sich in den vergangenen Jahren ganz deutlich verbessert.“ Er selbst hat sich auch deutlich verändert. Früher – so wird berichtet – habe Pierer im Führungszirkel gesagt:“ Wir sollten …“, jetzt heißt es: „Ich erwarte von Ihnen.“ Und im Konzern kursiert ein Spruch: „Über Pierer stehen nur noch der Papst und der UN-Generalsekretär.“ Mit den Großen der politischen Welt ist er in der Tat vertraut – immer auch auf geschäftsfördernde Neutralität bedacht. So gilt der Siemens-Chef als Freund von Bayern-Premier Edmund Stoiber und trägt – wenn Ehrenzeichen angesagt sind – dessen weiß-blauen Verdienstorden. Zugleich kommt der ehemalige CSU-Stadtrat Pierer blendend mit dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder zurecht und wird zu trauten Runden ins Kanzleramt gerufen. An den Wänden von Pierers Büros demonstrieren Bilder aus drei Kontinenten die Globalisierung des Unternehmens. Allerlei mehr oder weniger kunstsinnige Gastgeschenke, von der afrikanischen Holzstatue bis zur Dschunke aus Golddraht, zeugen von der Weltläufigkeit des obersten Handlungsreisenden der Firma. Der macht sich auch unentwegt um die Nation verdient. So trägt er etwa – ganz staatsmännisch – in China zehn „Business Points to invest in Germany“ vor und hat gar als erster deutscher Manager vor dem UN-Sicherheitsrat eine Rede gehalten. Kein Wunder, wenn so ein überparteilich agierender Mr. German Business als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten gehandelt worden und in den Unions-Gremien nur knapp gescheitert ist. „Er selbst hat das nie aktiv betrieben“, sagt ein Insider. Aber geschmeichelt hätte es v. Pierer, dem Spross aus österreichischem Beamtenadel, wohl schon, ins Berliner Schloß Bellevue einzuziehen. So aber bleibt er im Wittelsbacher Palais. Etliches ist noch zu tun. Die Verkehrstechnik muss wieder richtig rollen, alles auf dem Handymarkt funken und im Kraftwerksbereich möglichst der französische Alstom-Konzern seinen Widerstand gegen ein engeres Bündnis aufgegeben haben. Vor allem gilt es, endlich die Nummer eins auf dem Elektroweltmarkt einzuholen, den US-Giganten General Electric. „Beat GE“, wird Pierer seiner Mannschaft immer wieder einhämmern – denn nichts schmerzt ihn mehr, als nur die Nummer zwei zu sein, nichts hat ihn jemals mehr in seinem Managerstolz verletzt, als mit dem ehemaligen GE-Boss Jack Welch verglichen zu werden und dabei den Kürzeren zu ziehen. Kein Wunder, dass ausgerechnet Kleinfeld als Manager-Ziehsohn von Pierer dazu ausersehen wurde, seinen Wunschtraum zu erfüllen. Denn schließlich kennt der seit 1987 bei Siemens arbeitende Betriebswirt das US-Geschäft und den fast übermächtigen Konkurrenten bestens aus eigener Erfahrung. Pierer wird auch nach der Amtsübergabe kaum davon lassen, sich äußerst aktiv mit dem Geschäft zu befassen. Denn schwerlich kann man sich Heinrich v. Pierer als nur noch gelegentlich ins Büro hereinschauenden älteren Herren vorstellen, ansonsten aber lieber als Pensionär im geliebten Kärnten wandernd und Pilze sammelnd. Oder als einen, der zu Haus als Papa ante portas steht. Das Management der Großfamilie (drei Kinder, fünf Enkel) obliegt ohnehin Ehefrau Annette. Vielmehr steht zu erwarten, dass Pierer fleißig wie alle Aufsichtsratschefs zuvor weiterarbeiten und den Vorstandsvorsitzenden aufmerksam im Auge behalten wird. Das ist fast wörtlich zu nehmen. Schon die feste Raumaufteilung in der Zentrale ist sichtbares Zeichen für traditionelle Machtteilung: Das Büro des Vorstandsvorsitzenden liegt rechts neben dem Besprechungssaal, das Büro des obersten Konzernaufsehers nur zwei Türen weiter – gleich links vom Saal. Das war schon so, als hier noch ein Mitglied der Gründerfamilie saß und als „Chef des Hauses Siemens“ fungierte. Und auch wenn der Konzern sich seiner Innovationskraft rühmt und „seit nunmehr 157 Jahren fragt, wie das Neue in die Welt kommt“, so ist doch sicher, dass nicht alles Neue auch zu Siemens kommt.

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