
- Der Gesetzgeber hat den Steuerbetrug angeheizt
Bei dem Steuerskandal um Cum-Ex-Geschäfte geht es um Milliarden. Nun hat der Bundesgerichtshof bestätigt, dass es sich um strafbare Steuerhinterziehung handelt. Doch dass es so weit kam, ist auch die Schuld des Gesetzgebers.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) verwarf am Mittwoch die Revisionen gegen das Urteil des Landgerichts Bonn vom 18. März 2020, mit dem die Beteiligten wegen strafbarer Steuerhinterziehung verurteilt wurden und ein dreistelliger Millionenbetrag von der Bank M.M.Warburg als Tatertrag eingezogen wurde. Wie es zu dem durch „Cum-Ex“-Geschäfte angeblich verursachten „größten Steuerskandal Deutschlands“ überhaupt kommen konnte, mag für die Strafgerichte von untergeordneter Bedeutung sein, für ihre Einordnung in der öffentlichen Diskussion sollte es aber sehr wohl eine Rolle spielen.
Bezeichnend ist, dass es in dem Strafverfahren um die Jahre 2007 bis 2011 geht, also einen Zeitraum, in dem der Gesetzgeber „Cum-Ex“-Geschäfte – sicher unwillentlich – geradezu anheizte. Zur Erklärung bedarf es eines Blicks zurück, wie „Cum-Ex“-Geschäfte zur Gefahr für die Staatskasse werden konnten.
„Cum-Ex“ war seit 1999 eine Gefahr für die Staatskasse
Es handelt sich um Aktiengeschäfte, die kurz vor dem Dividendenstichtag mit Anspruch auf die auszuschüttende Dividende („Cum“) abgeschlossen, aber erst nach dem Dividendenstichtag mit Aktien ohne Dividendenanspruch („Ex“) erfüllt werden. Diese Art von Geschäften ist börsenüblich bei sogenannten Leerverkäufern, die bei Abschluss des Kaufvertrags noch gar nicht über das Eigentum an den verkauften Aktien verfügen.
Schon 1999 entschied hierzu der Bundesfinanzhof (BFH), dass beim Aktienkauf über die Börse aufgrund der Usancen bei Börsengeschäften als anonymen Massengeschäften bereits mit Abschluss des Kaufvertrags – auch mit einem Leerverkäufer – der Erwerb des für die steuerliche Betrachtung maßgeblichen „wirtschaftlichen“ Eigentums stattfindet. Dadurch konnte die Zahl möglicher (steuerlicher) Aktieninhaber unabhängig von der Zahl der tatsächlichen (zivilrechtlichen) Aktionäre theoretisch vervielfacht werden.
Was unternahm der Gesetzgeber?
Damit bestand schon damals die Gefahr für die Staatskasse, dass am Dividendenstichtag mehrere Aktieninhaber – also neben dem tatsächlichen (zivilrechtlichen) auch ein oder mehrere „wirtschaftliche“ Eigentümer – vorhanden sein konnten, die den Anspruch auf Anrechnung (Gutschrift bzw. Erstattung) der nur einmal von der ausschüttenden Gesellschaft einbehaltenen und an den Fiskus abgeführten Kapitalertragsteuer geltend machen konnten. Darauf hat der Bundesverband deutscher Banken (BdB) das Bundesministerium der Finanzen (BMF) bereits mit Schreiben vom 20. Dezember 2002 hingewiesen.
Es war den Banken also offenbar daran gelegen, nicht zum – unwissenden – Erfüllungsgehilfen von Leerverkäufern und mit ihnen bewusst („kollusiv“) zusammenwirkenden Beteiligten zu werden, die abgestimmt darauf abzielten, eine einmal von der ausschüttenden Gesellschaft einbehaltene Kapitalertragsteuer mehrfach geltend zu machen. Dieses „bewusst arbeitsteilige“ Hinwirken auf die Auszahlung nicht abgeführter Kapitalertragsteuer war auch Gegenstand des jetzt vom BGH entschiedenen Steuerstrafverfahrens.
Zurück zur Historie: Trotz des „Weckrufs“ des BdB von Ende 2002 geschah erst einmal Jahre lang nichts, bis endlich Ende 2006 für Aktiengeschäfte ab dem Jahr 2007 ein vermeintlicher Lückenschluss vom Gesetzgeber verabschiedet wurde. Die neuen Bestimmungen verpflichteten inländische Depotbanken zu einem zusätzlichen Kapitalertragsteuereinbehalt auf sog. Dividendenkompensationszahlungen des Leerverkäufers an den Käufer, nicht hingegen auch ausländische Depotbanken, weil dies wegen unzulässiger Exterritorialität deutschen Rechts nicht möglich gewesen wäre.
Man wählte also ein Instrument, von dem von Anfang an klar war, dass es dazu einlud, den Ausweg über ausländische Kreditinstitute zu suchen, die nicht zu dem zusätzlichen Kapitalertragsteuereinbehalt verpflichtet waren. In der Fachliteratur wurde der Gesetzgeber auch frühzeitig auf die Halbherzigkeit der Regelung aufmerksam gemacht.
Diese gesetzgeberische Fehlleistung heizte die „Cum-Ex“-Geschäfte bis einschließlich 2011 geradezu an. Die Angeklagten in dem jetzt vom BGH entschiedenen Strafverfahren wurden bezeichnenderweise für Geschäfte in den Jahren 2007 bis 2011 gerade auch deshalb verurteilt, weil sie es ausnutzten, dass Kapitalertragsteuer auf Dividendenkompensationszahlungen nicht einbehalten wurde.
Erst mit Wirkung ab 2012 wurde durch den Übergang auf ein ausschließlich durch inländische Depotbanken umzusetzendes sog. Zahlstellenprinzip den „Cum-Ex“-Geschäften mit dem Ziel mehrfacher Kapitalertragsteuer-Anrechnung wirksam ein Ende bereitet.
Waren alle „Cum-Ex“-Geschäfte bis 2011 rechtswidrig?
Nicht alle „Cum-Ex“-Geschäfte mit börsennotierten Aktien rund um den Dividendentermin sind kriminell – es ist nicht abschließend geklärt, ob und in welcher Form und für welche Beteiligten „Cum-Ex“ rechtswidrig war. Nach einer Entscheidung des BFH aus dem Jahr 2014 muss zum Beispiel der Aktienkäufer in ein „modellhaft aufgelegtes Gesamtvertragskonzept“ eingebunden sein, um nicht als zur Anrechnung berechtigter „wirtschaftlicher“ Eigentümer zu qualifizieren. Auf dieser Linie liegt auch das aktuelle BGH-Urteil, wenn es von einem „bewusst arbeitsteiligen“ Verhalten der Beteiligten ausgeht.
Ob es andernfalls bei dem Grundsatz bleibt, dass auch der Aktienkäufer als Vertragspartner eines Leerverkäufers steuerlich als „wirtschaftlicher“ Eigentümer anzusehen ist, wird demnächst der BFH zu entscheiden haben. Denn das Finanzgericht Köln musste sich von diesem Grundsatz für die Zeit vor Schließung der Gesetzeslücke ab 2012 in einem viel beachteten Urteil v. 19.07.2019 verabschieden, um dem Kläger (einem US-Pensionsfonds) Kapitalertragsteuererstattungen für in der Dividendensaison 2011 erworbene Aktien deutscher Gesellschaften vollständig versagen können.
Eine weitere Aufweichung der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Lasten der Käufer „leerverkaufter“ Aktien über deren Beteiligung an einem „modelhaften“ Zusammenwirken mit anderen hinaus, bleibt jedenfalls abzuwarten, zumal jeder brave Privatanleger einwenden wird, nicht wissen zu können, ob er an der Börse von einem Leerverkäufer erworben hat.
Da der Hamburger Privatbank M.M. Warburg jetzt vom BGH ein derartiges Zusammenwirken bescheinigt wurde, spielt diese offene Steuerrechtsfrage für die Geschäfte, die Gegenstand der BGH-Entscheidung waren, allerdings nur noch eine Rolle, wenn die Finanzgerichte von einem anderen Sachverhalt überzeugt werden könnten. Die Behauptung, der heutige Bundesfinanzminister und damalige Erste Bürgermeister Hamburgs, Olaf Scholz, hätte das schon damals antizipieren müssen, wird man wohl unter der Rubrik „Wahlkampfgetöse“ ablegen können.