Atomkraft in Deutschland - Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Debatte um eine AKW-Laufzeitverlängerung

Der kommende Winter wird hart. Deutschland rutscht in eine Energiekrise, die das Land vor Zerreißproben stellen wird. Doch die Bundesregierung hält am Atomausstieg fest. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnt eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke ab, die Grünen sowieso. Mit Argumenten, die bewusst in die Irre führen. Wir klären die wichtigsten Fragen und räumen mit dem ein oder anderen Vorurteil auf.

Anzeige

Autoreninfo

Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

So erreichen Sie Daniel Gräber:

Anzeige

Die Diskussion um eine mögliche Laufzeitverlängerung der verbliebenen deutschen Atomkraftwerke über das Jahr 2022 hinaus ist in vollem Gange. Das Problem: Insbesondere von Atomkraftgegnern werden in der öffentlichen Debatte immer wieder Argumente genannt, die irreführend sind. Cicero beantwortet deshalb die wichtigsten Fragen zum Thema Kernkraft und räumt mit dem ein oder anderen Vorurteil auf.

Welche Atomkraftwerke laufen noch in Deutschland?

Drei deutsche Atomkraftwerke sind noch am Netz: Das Kernkraftwerk Emsland in Niedersachsen gehört zum Energiekonzern RWE. In Baden-Württemberg produziert noch Block II des Kernkraftwerks Neckarwestheim Strom. Er wird von der EnBW betrieben. Das Kernkraftwerk Isar II liegt in Niederbayern, Betreiber ist die E.on-Tochtergesellschaft Preussen-Elektra.

Wann werden die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet?

Alle drei Kernkraftwerke sollen Ende des Jahres stillgelegt werden. Das sieht das 2011 beschlossene Atomausstiegsgesetz vor. Damit wäre das Kapitel Kernkraft in Deutschland endgültig abgeschlossen. Doch angesichts der sich weiter zuspitzenden Energiekrise wird derzeit über eine Laufzeitverlängerung diskutiert.

Ist eine längere Laufzeit der Atomkraftwerke möglich?

Ja. Der Branchenverband Kerntechnik Deutschland hat bereits im März einen offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gerichtet. „Kernkraftwerke können mittels eines sogenannten Streckbetriebs sowie ggf. brennstoffsparender Fahrweise in diesem Sommer dann mindestens bis nächstes Frühjahr problemlos weiterbetrieben werden“, heißt es darin. „Falls gewünscht, können sie durch Nachladung mit neuen Brennelementen auch durchaus noch weitere Jahre zur Sicherheit der deutschen sowie europäischen Stromversorgung beitragen und dabei gleichzeitig die Abhängigkeit von Einfuhren fossiler Energieträger reduzieren.“

 

Mehr zum Thema:

 

Die Fachleute des Verbandes warnten Scholz damals vor exakt jenem Szenario, das nun eintrifft: „Um in einer weiter eskalierenden Situation als Folge des Krieges um die Ukraine, die zu Lücken in der Stromversorgung durchaus noch dieses Jahr, ungünstigstenfalls im kommenden Winter 2022/2023, führen kann, gewappnet zu sein, müssen alle verfügbaren Energiequellen genutzt werden.“

Gibt es bei den Atomkraftwerken Sicherheitsprobleme?

Sicherheitstechnisch gibt es keine grundsätzlichen Schwierigkeiten. Das Argument, eine Laufzeitverlängerung wäre ein Sicherheitsrisiko, ist also nicht richtig. Schon deshalb, weil die Atomkraftwerke ohnehin regelmäßig auf ihre Sicherheit geprüft werden. Die Atomkraftexpertin und Publizistin Anna Veronika Wendland schrieb dazu bei Cicero

„Mit jeder Anfahrgenehmigung nach einer Jahresrevision mit Brennelementwechsel bescheinigt die Aufsichtsbehörde den Kernkraftwerks-Betreibern, dass ihre Anlage nach Stand von Wissenschaft und Technik die Sicherheitsanforderungen und die Voraussetzungen einer funktionierenden Notfallvorsorge erfüllt. Die Belege für diese Genehmigung erbringt die Anlage in sogenannten Wiederkehrenden Prüfungen, die je nach System in unterschiedlichen Intervallen während des Leistungsbetriebs oder während des Revisionsstillstands stattfinden. Kurz gesagt: die Anlagen sind bis zum allerletzten Betriebstag am 31. Dezember 2022 auf demselben Sicherheitsstandard wie auch in den Tagen, Monaten und Jahren davor – und natürlich ändert der Datumswechsel zum 1. Januar 2023 daran erstmal gar nichts.“          

Können neue Brennstäbe rechtzeitig beschafft werden?

Mit dem Argument, neue Brennstäbe könnten nicht mehr rechtzeitig beschafft werden, versucht Bundeskanzler Scholz, die Debatte um eine Laufzeitverlängerung zu beenden. Die Brennstäbe reichten bis Ende 2022 und bislang gebe es von Expertenseite keine Aussagen dazu, wie die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängert werden könnte, behauptete er Mitte Juni. Das ist eine bewusste Irreführung.

Denn der Streckbetrieb würde dafür sorgen, dass die vorhanden Brennstäbe zwei bis drei Monate länger genutzt werden könnten, also bis Februar oder März 2023. Damit könnten die drei deutschen Kernkraftwerke helfen, den Winter zu überbrücken. In der kalten Jahreszeit ist der Energieverbrauch besonders hoch.

Können neue Brennstäbe für das gesamte Jahr 2023 beschafft werden?

Um neue Brennstäbe für einen Weiterbetrieb über den kommenden Winter hinaus zu beschaffen, ist es jetzt tatsächlich zu spät. Die Brennelemente müssen speziell für die jeweilige Anlage hergestellt werden. Das dauert mehrere Monate. Deshalb hatte der Branchenverband Kernkraft den Kanzler bereits im März darauf hingewiesen. Hätte die Bundesregierung darauf reagiert und den Betreibern ein klares Signal für die Laufzeitverlängerung gegeben, wären die neuen Brennstäbe rechtzeitig im kommenden Frühjahr fertig gewesen. Scholz hat also bewusst auf Zeit gespielt. Dass er das Brennstoff-Argument jetzt bringt, ist eine Täuschung der Öffentlichkeit.

Können die Kraftwerksbetreiber noch neue Brennstäbe beschaffen?

Gegenüber Cicero stellte ein Sprecher des Branchenverbands Kernkraft klar, dass die Betreiber immer noch neue Brennstäbe bestellen können. „Die Anlagen könnten damit im Laufe des kommenden Jahres bestückt werden“, sagte er. „Rechtzeitig vor dem übernächsten Winter.“ Für einen nahtlosen Weiterbetrieb über das Frühjahr 2022 hinaus ist es jetzt also tatsächlich zu spät. Die Kernkraftwerke könnten dann aber pausieren und auf die neuen Brennstäbe warten. Die technischen Details erläutert Wendland in ihrem Cicero-Beitrag.

Ist Deutschland bei Uran-Lieferungen von Russland abhängig?

Diese Behauptung wurde von in die Defensive geratenen Atomkraftgegnern in Deutschland plötzlich aus dem Hut gezaubert. Sie stimmt aber nicht. Zwar haben die deutschen Kernkraftwerksbetreiber Uran aus Russland genutzt, es gibt aber noch einige andere Länder, die diesen Rohstoff liefern können: etwa Australien, Kanada oder Namibia. „Es gibt einen Weltmarkt für Uran“, betonte der Branchenverbandssprecher. Bis aus dem Uran Brennstäbe werden, sind mehrere Zwischenschritte notwendig. „Auch für diese Dienstleistungen gibt es einen Weltmarkt“, sagte er.

Wo werden die Brennelemente hergestellt?

Der letzte Produktionsschritt, die eigentliche Herstellung der Brennelemente, findet für die deutschen Kernkraftwerke traditionell in Schweden (Westinghouse) oder in Deutschland (Framatome) statt.

Ist der Beitrag der verbliebenen Kernkraftwerke nicht zu vernachlässigen?

Die drei noch laufenden Anlagen haben eine Leistung von jeweils rund 1,4 Gigawatt. Das macht zusammen etwa sechs Prozent der gesamten Stromerzeugungskapazität in Deutschland aus. Zum Vergleich: Die deutschen Windkraftanlagen kommen auf insgesamt 64 Gigawatt, also mehr als das 15-fache. Immer wieder hört man daher, der Beitrag der Kernkraftwerke sei zu vernachlässigen. Doch dem liegt ein grober Denkfehler zu Grunde.

Die installierte Leistung von Atomkraftwerken mit der von Windkraft- oder Solaranlagen zu vergleichen, ist kompletter Unsinn. Denn diese Zahlen sagen nichts darüber aus, wieviel und vor allem wie verlässlich diese Anlagen tatsächlich Energie liefern. Während die Kernkraftwerke zuverlässig und rund um die Uhr Strom erzeugen und so das Netz stabil halten, schwankt die Erzeugung aus Wind und Sonne wetterbedingt erheblich. Wenn kein Wind weht, liegt die tatsächliche Leistung der angeblich 64 Gigawatt starken Windkraft bei null. Wenn dann nicht ausreichend herkömmliche Kraftwerke einspringen, bricht das Stromnetz zusammen: Es kommt zum Blackout, mit verheerenden Folgen.

Können wir trotzdem auf Kernkraft verzichten?

Eigentlich hatte die Bundesregierung die Idee, dass neue Gaskraftwerke diese lebenswichtige Aufgabe übernehmen sollen. Damit ist seit Putins Einmarsch in die Ukraine Schluss. Was bleibt, sind Kohle- und Ölkraftwerke. Für den Klimaschutz die denkbar schlechteste Option. Kernkraft hingegen ist nahezu CO2-frei. Und da für den kommenden Winter „jede Kilowattstunde zählt“ (Robert Habeck), kann es sich Deutschland eigentlich nicht leisten, auf seine drei letzten Atomkraftwerke zu verzichten.

Und das Endlager-Problem? Wohin mit dem Atommüll? 

Deutschland hat noch keinen Standort für ein Endlager gefunden, in dem die radioaktiven Reste des Reaktorbetriebs über Jahrhunderte aufbewahrt werden können. Das liegt allerdings auch daran, dass deutsche Atomkraftgegner die Standortsuche verzögert haben, weil sie das ungelöste Endlagerproblem als politisches Druckmittel nutzen wollten. Andere Länder, in denen über die Kernenergie deutlich pragmatischer und sachlicher diskutiert wird, sind bei der Standortsuche weiter. Etwa Schweden: Dort wurde der Bau eines Atommüll-Endlagers Anfang 2022 genehmigt.

In der deutschen Debatte kramte zuletzt Manuela Schwesig (SPD) das Endlager-Argument wieder hervor. Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern sagte, kein Bundesland wolle das Endlager. „Und wenn keiner den Atommüll haben möchte, dann können wir auch nicht ernsthaft sagen, dass Atomkraftwerke weiterlaufen sollen.“ Wirklich überzeugend ist diese Argumentation allerdings nicht. Denn wir brauchen für den bislang in den deutschen Kernkraftwerken angefallenen Atommüll so oder so ein Endlager. Man wird sich auf eine Lösung einigen müssen. Ob die drei letzten Atomkraftwerke noch einige Jahre weiterlaufen oder nicht, ändert nichts daran.

Was muss politisch geschehen, damit eine Laufzeitverlängerung doch noch kommt?

Der Atomausstieg bis Ende 2022 ist gesetzlich festgelegt. Daher müsste der Deutsche Bundestag eine Gesetzesänderung beschließen. Da sich inzwischen außer der AfD auch CDU/CSU und FDP für eine Laufzeitverlängerung ausgesprochen haben, wäre rein rechnerisch schon jetzt eine Mehrheit im Bundestag vorhanden. Es ist politisch allerdings sehr unwahrscheinlich, dass sich die Liberalen einer solchen schwarz-gelb-blauen Atomallianz anschließen und damit gegen die rot-grünen Koalitionspartner stimmen.

So bleibt es Aufgabe des FDP-Chefs Christian Lindner, innerhalb der Ampelkoalition für ein Umdenken zu werben. Am Schwierigsten wird das bei den Grünen. Denn sie sind mit der Anti-Atom-Bewegung groß geworden. Dass deren Parteichef und Klimaschutzminister Robert Habeck jetzt aber alte Kohlekraftwerke reaktivieren will, um Gas für den Winter zu sparen, dürfte auch manchen Grünen ins Grübeln bringen. Denn was den CO2-Ausstoß angeht, sind Kohlekraftwerke die schlimmste Art der Stromerzeugung und Kernkraftwerke mit die beste. Ein Vergleich der CO2-Bilanz im Stromsektor zwischen dem atomkraftfreundlichen Frankreich und Deutschland zeigt das deutlich. Übrigens: Es gibt mittlerweile auch grüne Parteien außerhalb Deutschlands, die im Kampf gegen den Klimawandel für eine Nutzung von Atomkraftwerken plädieren.

Alle Cicero-Beiträge zum Thema Kernenerngie finden Sie auf unserer Themenseite.

Hören Sie zum Thema Energieversorgung auch den Cicero-Podcast mit Anna Veronika Wendland: „Bei der Energiestrategie ist Stimmungspolitik Gift“ 

Anzeige