Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
()
Gottes Werk und Amerikas Beitrag

Die USA beanspruchen seit ihrer Gründung eine privilegierte Beziehung zum christlichen Gott. Unter Präsident George W. Bush gewann dieses Credo neue Bedeutung. Madeleine Albright fordert eine Besinnung auf universale Werte, die jeder Religion zugrunde liegen.

Am 20.Januar 2005 stand Präsident George W.Bush vor der Menge, die sich im Schatten des Capitols versammelt hatte, und sprach zur Weltöffentlichkeit. Schon bei den ersten Worten war klar, dass er und seine Redenschreiber an diesem Tag hoch hinauswollten. „Die Politik der Vereinigten Staaten“, so hob er an, „zielt auf die Stärkung und das Wachstum demokratischer Bewegungen und Institutionen in jedem Land und in allen Kulturen. Unser Ziel ist der Sieg über die Tyrannei in der Welt.“ Dann fuhr er fort: „Die Gerechtigkeit hat in der Geschichte gute und schlechte Zeiten erlebt, aber die Geschichte entwickelt sich auf ein sichtbares Ziel hin, auf jene Freiheit, die der Schöpfer der Freiheit geschaffen hat.“ Der Präsident kam dann zu dem Schluss, dass „Amerika in diesem noch jungen Jahrhundert weltweit die Freiheit für alle Bewohner dieser Welt ausruft“. Erhebende Gefühle, zweifellos, aber was genau ist damit gemeint? Der Präsident sagt, die Freiheit sei ein Geschenk an alle Menschen; aber meint er wirklich auch, dass Gott Amerika dazu bestimmt hat, dieses Geschenk zu überreichen? Wenn man diese Frage stellt, zieht sie einen Rattenschwanz weiterer Fragen nach sich. Glaubt Amerika, dass es eine privilegierte Beziehung zu Gott hat? Hat das Land eine von Gott inspirierte Mission zur Verbreitung der Freiheit? Welche Bedeutung sollten religiöse Überzeugungen in den Entscheidungen der politisch Verantwortlichen in Amerika haben, wo doch die amerikanische Verfassung die strikte Trennung von Staat und Religion vorsieht? Waren wir nicht schon mal der Überzeugung, dass es ein Fehler ist, Religion und Außenpolitik zu vermischen? Ich jedenfalls habe das immer gedacht. Den Diplomaten meiner Generation brachte man bei, Ärger zu vermeiden, und es gab wohl kein tückischeres Thema als Religion. Mit diesem Verständnis diente ich unter Präsident Clinton zunächst als UN-Botschafterin und später als Außenministerin. Meine Kollegen dachten wie ich. Als Professor Samuel Huntington 1993 einen religiös begründeten „Clash of Civilizations“ nach dem Ende des Kalten Krieges prophezeite, unternahmen wir alles, um uns von dieser Theorie zu distanzieren. Wir hatten eine Zukunft vor Augen, in der die Regionen der Welt und die Nationalstaaten durch die Stärkung demokratischer Bindungen näher zusammenrücken würden. Niemand dachte an eine Welt, die von historischen Spannungslinien entlang kultureller und religiöser Differenzen durchzogen sein würde. Doch seit den Terroranschlägen vom 11.September habe ich manchmal das Gefühl, dass eher ich mich in meinem Denken an früheren Zeiten orientiert habe. Wie viele andere Experten im Bereich der Außenpolitik musste ich meine Sichtweise korrigieren, um die bereits seit längerem schwelenden Entwicklungen auf der Bühne der Weltpolitik besser zu verstehen. Die neunziger Jahre des 20.Jahrhunderts waren das Jahrzehnt der Globalisierung und des rapiden technologischen Wandels; die Revolution der Informationstechnologie veränderte unser Privatleben und die Arbeitswelt und brachte eine völlig neue Sprache hervor. Gleichzeitig aber waren andere Kräfte am Werk. Nahezu überall sprossen neue religiöse Bewegungen hervor. Präsident Bush verdient Anerkennung dafür, dass er die Rolle der Vereinigten Staaten als rhetorische Vorkämpferin der Demokratie bekräftigt hat. Er sollte Lob für seine Position finden, dass die politische Freiheit eine mögliche Quelle für weltweite Einheit darstellt. Er hat jedoch seine eigene Fähigkeit zu politischer Führung durch Fehler und Unterlassungen untergraben, die andere Länder von den Vereinigten Staaten haben abrücken lassen. Die Enge des Gesichtsfeldes und der rücksichtslose Unilateralismus seiner ersten Amtszeit dürfen sich auf keinen Fall nicht wiederholen. Und ich glaube, es gibt eine gewisse Parallele zwischen dem religiösen Fundamentalismus und dem unkritischen Chauvinismus, der die Geschichte durch eine sehr enge amerikanische Linse betrachtet. Beide Haltungen basieren auf der Suche nach Sicherheit, nach soliden Antworten, um damit ein klares und eindeutiges Weltbild abzusichern. Von vitalem Interesse ist insbesondere die Frage, wie wir Amerikaner die internationale Rolle unseres Landes definieren. Verstehen wir uns als ein Land, das denselben Regeln unterworfen ist wie andere Nationen auch? Oder verstehen wir uns so, dass wir das Recht haben, stets in der Weise zu handeln, wie wir es für angebracht halten? Tragen wir Verantwortung bei der Stärkung internationaler Institutionen und des internationalen Rechts? Oder haben wir die Pflicht, uns von derartigen Einschränkungen freizuhalten, um einem „Ruf aus einer Welt hinter den Sternen“ zu folgen? Besteht die uns angemessene Rolle darin, zu führen oder zu dominieren? Der neokonservative Publizist William Kristol hat folgende Frage gestellt: „Was ist falsch an Vorherrschaft, wenn sie im Dienste vernünftiger Prinzipien und hoher Ideale steht?“ Diese Frage stellten sich die Amerikaner auch vor einem Jahrhundert, als sie die Philippinen eroberten. Die Antwort, von der Präsident McKinley behauptete, er habe sie vom Himmel erhalten, lautete, dass die Amerikaner ein Mandat hätten, anderen ihren Willen aufzuzwingen. Unabhängig davon, ob das damals die richtige Antwort war oder nicht, ist das jedenfalls heute die falsche Reaktion. Eine Politik der Vormacht steht im Widerspruch zum Selbstbild der Vereinigten Staaten und ist ein schlechtes Mittel zum Schutz unserer Interessen. Ihre Anwendung im Dienste dessen, was unsere politische Führung für „vernünftige Prinzipien und hohe Ideale“ hielt – wie das am offensichtlichsten im Irak geschah –, hat sich als destruktive Belastung für die Ressourcen der Vereinigten Staaten, ihre militärische Macht und ihr Ansehen erwiesen. Das muss uns eine Lehre sein. Wenn wir nach vorne schauen, wären wir gut beraten, uns den Charakter der Führung in Kriegszeiten ins Gedächtnis zu rufen, wie er sich in Abraham Lincoln verkörpert. Er scheute sich nicht, für eine gerechte Sache zu kämpfen, aber beanspruchte für sich nie ein Monopol auf Tugendhaftigkeit. Er akzeptierte, dass Gottes Wille geschehen würde, ohne zu behaupten, er könnte ihn begreifen, und er wies das Ansinnen zurück, er solle Gott bitten, auf der Seite der Union zu sein. Stattdessen betete er dafür, die Union möge auf der Seite Gottes sein. Lincoln führte ein geteiltes Land. Heute müssen wir in einer geteilten Welt führen. Zu diesem Zweck sollten wir Realismus mit Idealismus verschmelzen und die Moral in der Nähe des Zentrums unserer Außenpolitik ansiedeln, während wir zugleich Debatten darüber führen, welche unterschiedlichen Bedeutungen das Wort „Moral“ haben kann. Wir sollten uns besser darauf vorbereiten, eine Welt zu verstehen, in der -religiöse Hingabe eine starke positive Kraft ist, periodisch aber auch Zerstörung mit sich bringt. Wir sollten mit Entschlossenheit und Vertrauen auf die Gefahr reagieren, die von Al Qaida und ihresgleichen ausgeht. Und wir sollten nicht nur das klar herausstellen, wogegen sich die Vereinigten Staaten wenden, sondern auch das, wofür sie stehen. Achtung vor den Rechten und dem Wohlergehen jedes Einzelnen ist der Punkt, an dem sich religiöser Glaube und das Engagement für die politische Freiheit am engsten berühren. Eine auf diesem Prinzip beruhende Philosophie besitzt das höchste Potenzial, um Menschen mit entgegengesetzten Standpunkten zusammenzuführen, weil sie niemanden ausschließt und dennoch von jedermann die volle Anerkennung der Ideen und Bedürfnisse anderer fordert. Doch hier erhebt sich die Frage: Wie können wir hoffen, die Menschen unter dem Prinzip der Achtung vor dem Individuum zu vereinigen, das in so einzigartiger Weise ein westliches Konzept ist? Die Antwort lautet natürlich, dass dem nicht so ist. Der Hinduismus fordert: „Kein Mensch darf einem anderen Menschen etwas antun, das er in Bezug auf sich selbst ablehnen würde.“ Die Thora lehrt uns: „Du sollst deinen Nächsten -lieben wie dich selbst.“ Zarathustra meinte: „Was ich für mich selbst als gut befinde, sollte ich auch allen anderen gönnen.“ Konfuzius sagte: „Was du nicht willst, das man dir antut, das tue auch niemandem andern an.“ Buddha lehrte uns, andere als unsereins anzusehen. Die Stoiker im antiken Griechenland argumentierten, in der großen Halle der Freiheit seien alle Menschen gleich. Das christliche Evangelium fordert: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.“ Der Koran verweist darauf, der wahre Gläubige müsse für seinen Bruder das lieben, was er für sich selbst liebt. Und die älteste bekannte Sammlung von Rechtssätzen der Welt nennt als ihre ausdrücklichen Ziele die Durchsetzung der Gerechtigkeit und den Schutz der Schwachen vor der Unterdrückung durch die Starken. Das ist, so sollte man meinen, die Art von Rechtssystem, die gegenwärtig die Welt dem irakischen Volk zum Geschenk machen sollte. Doch in der Tat handelt es sich hierbei um den Codex Hammurabi, ein Geschenk, das die Zivilisation vor viertausend Jahren aus dem antiken Babylon erhalten hat – heute unter dem Namen Irak bekannt. Nach einem Gedicht von William Butler Yeats gehen dann, wenn den Besten alle Überzeugungen fehlen und die Schlechtesten voller leidenschaftlicher Energie sind, die Dinge entzwei; das Zentrum kann sich nicht halten und die Anarchie breitet sich in der Welt aus. Wir leben in einer Zeit, in der die Schlechtesten in der Tat voller leidenschaftlicher Energie sind. Die Frage ist, ob wir anderen über die notwendige Zivilcourage verfügen und über die Weisheit, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Weisheit entsteht aus Lernprozessen, die ihrerseits das Ergebnis von Erziehung sind. Das Wesen der Erziehung besteht aus der Suche nach Wahrheit. Aber es gibt viele Arten von Wahrheiten. In der Mathematik und den Naturwissenschaften wächst das Wissen unaufhörlich. Neue Lehrsätze bauen auf alten Lehrsätzen auf und neue Naturgesetze auf schon bekannten Gesetzmäßigkeiten. Wir entdecken, dass die Erde eine Kugel ist, und werden nie wieder auf den Gedanken kommen, sie könnte eine Scheibe sein. Wir lernen, dass das Quadrat über der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks genau so groß ist wie die Summe der Quadrate über den beiden anderen Seiten. Durch Experimente und andere Forschungsmethoden erweitern Wissenschaftler kontinuierlich die Bestände unseres Wissens. In diesem Sinne sind wir bei weitem weiser als frühere Generationen in Bezug darauf, wie die Welt funktioniert. Auf dem Feld der Weltpolitik und bei dem Verständnis der unterschiedlichen Glaubensrichtungen füreinander bin ich mir jedoch nicht so sicher, ob wir in irgendeiner Weise klüger geworden sind, als es die Menschen in der Vergangenheit waren. Das 20.Jahrhundert war das blutigste der Menschheitsgeschichte. Zu Beginn des neuen Jahrtausends gelobten wir einen Neuanfang, doch sind wir dabei nicht gut gestartet. Wir dürfen aber dennoch für die politischen Führungen der Vereinigten Staaten und anderer Länder eine gewisse Hoffnung hegen, dass sie Dinge tun werden, die uns dazu anspornen, das Beste in uns und in anderen zu suchen. Wiederum war es Abraham Lincoln, der die perfekte Formulierung prägte, als er in den Nachwehen des Bürgerkrieges einen Appell an „die besseren Engel in unserer Natur“ richtete – und damit die uns gegebene Fähigkeit ansprach, in einer Weise füreinander Sorge zu tragen, die sich nicht vollständig auf Eigeninteressen, Logik oder Wissenschaft reduzieren lässt. Aus diesem Grund hat das Prinzip, jeder und jede Einzelne zählt, ein so großes Gewicht. Wenn wir dieses Prinzip wirklich annehmen und danach handeln, werden wir die Grundlage schaffen für Einigkeit über alle Grenzen hinweg. Wir werden diesen erhabenen Grundsatz nehmen und ihn Terroristen, Diktatoren, Tyrannen und religiösen Eiferern entgegenhalten. Wir werden Gewinn aus den Beiträgen aller Menschen ziehen, und wir werden die Freiheit verteidigen und bereichern und sie nicht bloß genießen. Wenn wir das tun, dürfen wir hoffen, im Laufe der Zeit Stück für Stück auf unserem Weg voranzukommen, aber nicht in Richtung auf eine glänzende und nur für wenige bestimmte Stadt auf einem Hügel, sondern in Richtung auf eine Welt, in der Macht und Recht Hand in Hand gehen und in der alle Menschen in Würde und Freiheit leben können. Madeleine Albright war von 1997 bis 2001 Außenministerin der Vereinigten Staaten von Amerika. Ihr Buch „Der Mächtige und der Allmächtige“ ist jetzt im Droemer Verlag erschienen

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.