Zum 250. Geburtstag von Ludwig Tieck - Der Frühbegabte

Ludwig Tieck gehört zu den beinah Vergessenen der deutschen Literatur. Allenfalls als Übersetzer Shakespeares ist er noch präsent. Das liegt auch daran, dass das Werk des Hochbegabten in vielem Fragment geblieben ist.

Zeitgenössische Darstellung des deutschen Philologen, Übersetzers und Schriftstellers („Phantasus“) Johann Ludwig Tieck / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es ist der 17. Mai 1793, der Freitag vor Pfingsten. In der kleinen Universitätsstadt Erlangen machen sich zwei junge Studenten, beide noch keine zwanzig Jahre alt, auf den Weg zu einer der berühmtesten Reisen der Kulturgeschichte. Es sind Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck.

Tieck führt in dieser Zeit ein etwas unstetes Studentenleben. Er ist der hochbegabte Sohn eines einfachen Berliner Seilermeisters. Auf dem Friedrichwerderschen Gymnasium lernt er mit neun Jahren den nur zwei Monate jüngeren Wackenroder kennen. Der ist der Sohn des Berliner Bürgermeisters und wird von seinem Vater dazu gedrängt, „etwas Vernünftiges“ zu studieren. Und das bedeutete schon damals: Jura.

Weg von den Büchern, hinein in die Natur

Vernunft allerdings ist so ziemlich das Letzte, wonach den beiden Studenten der Sinn steht. Mit Goethes „Werther“ im Kopf und vor allem im Herzen möchte man hinaus aus der Stadt, weg von den Büchern und hinein in die Natur. Zunächst fährt man nach Nürnberg. Während dieser Reisen erfinden die zwei Feuerköpfe nicht nur sich selbst und ihre Epoche, die Romantik, sondern gleich auch noch die halbe deutsche Kulturgeschichte mit Dürer-Kult und mittelalterlicher Reichstadt samt Fachwerk, Butzenscheiben, Sängerkrieg und Hans Sachs.

Die zweite ist die berühmte Pfingstreise. Sie führt die beiden Studenten dann hinein in das Fichtelgebirge, weitab der Zivilisation, wo der Tann dunkel ist, die Felsen moosbewachsen und die Bäche sprudeln. Morgens um fünf schwingen sich Tieck und Wackenroder auf ihre Pferde und reiten zum nördlichen Stadttor hinaus. In den kommenden Tagen reisen die zwei über Bayreuth nach Wunsiedel und ins Fichtelgebirge, dann über Kulmbach und Sanspareil wieder zurück. Am 29. Mai ist man wieder in Erlangen.

Für Wackenroder wird diese Reise zum Höhepunkt seines kurzen Lebens. Er stirbt im Februar 1798 an Typhus, nachdem er im Jahr zuvor mit Hilfe von Tieck den ersten Teil seiner „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ herausgegeben hatte, eine Sammlung literaturtheoretischer und musikästhetischer Aufsätze – eine Standartwerk romantischer Ästhetik.

Urahn aller Psychothriller

Tieck hingegen musste keine bürgerlichen Erwartungen erfüllen, war sich seiner Fähigkeiten bewusst und wusste sich am Beginn einer Schriftstellerkarriere. Schon als Schüler half er bei der Abfassung von Unterhaltungsromanen, die seiner Gymnasiallehrer August Ferdinand Bernhardi und Friedrich Rambach herausgaben. Auch nach seiner Rückkehr nach Berlin 1794 verfasste Tieck Erzählungen nach dem Geschmack des breiten Publikums. 1795 erschien dann Tiecks erster wirklich umfassender Roman „William Lovell“, eine unheimliche Verschwörungsgeschichte, angelehnt an – der Titel verrät es schon – die Mode englischer Schauererzählungen.
 

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In Berlin verkehrt der junge Schriftsteller in den Salons der Henriette Herz und Rahel Levin. Dort lernt er auch die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel kennen, das organisatorische und intellektuelle Epizentrum der Romantiker. 1797 erscheinen zwei revolutionäre Werke: die Komödie „Der gestiefelte Kater“, die den bekannten Stoff nutzt, um ein verschachteltes Spiel mit mehreren Bedeutungsebenen aufzuführen, und das Kunstmärchen „Der blonde Eckbert“.

Der eher biedere Titel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Tieck hier den Urahn aller Psychothriller entwickelt. Eine dunkle, unheimliche Geschichte zwischen Einbildung, Psychosen und Wahn, deren Wirkung über E.T.A. Hoffmann und Edgar Alan Poe bis in die Gegenwartsliteratur reicht.

Der Hochbegabte findet nie eine endgültige Form

Im Jahr drauf erscheint „Franz Sternbalds Wanderungen“, der erste wirklich romantische Roman. Friedrich Schlegel ist begeistert. Seine Schwägerin, die brillante Caroline Schlegel (später Schelling), urteilt hingegen lakonisch: „Alles sehr artig, aber doch leer“. Dennoch hat der „Sternbald“ enormen Einfluss auf die Kulturgeschichte – von Novalis bis zur romantischen Landschaftsmalerei.

So wird es sein Leben lang weitergehen. Der Hochbegabte findet nie eine endgültige Form, ein endgültiges Konzept, klare Inhalte. Vieles ist brillant, zukunftsweisend. Anderes bleibt unausgegoren – und hat dennoch erheblichen Einfluss auf Kunst und Literatur. Im November 1799 nimmt Tieck am berühmten Romantiker-Treffen in Jena teil. Die Brüder Schlegel sind anwesend, Novalis, Schelling, Caroline Schlegel und Dorothea Veit. Man schreibt in diesen Tagen Weltkulturgeschichte.

Der König schreitet dem Trauerzug voran

Scherenschnitt von Luise Duttenhofer /
Wikimedia Commons

1802 zieht Tieck zusammen mit seiner jungen Familie – er hatte 1798 geheiratet, im selben Jahr war seine Tochter Dorothea zur Welt gekommen – nach Ziebing, auf das Gut seiner Studienfreundes Wilhelm von Burgsdorff. 1819 geht die Familie nach Dresden. Dort nimmt Tieck seine zeitweise ruhende schriftstellerische Tätigkeit wieder auf.

Es entstehen bedeutende Novellen, etwa „Die Gemälde“, „Die Reisenden“ oder „Der Alte vom Berge“. Tieck wird Dramaturg des Hoftheaters, initiiert Lesungsabende in seiner Wohnung. Vor allem aber nimmt er zusammen mit seiner Tochter Dorothea die Übersetzung der Werke Shakespeares wieder auf, die er mit August Wilhelm Schlegel begonnen hatte.1841 ruft ihn der preußische König Friedrich Wilhelm IV., „der Romantiker auf dem Thron“, nach Berlin. Doch Tieck ist zu diesem Zeitpunkt schwer gichtkrank. Als Tieck im April 1853 stirbt, schreitet der König dem Trauerzug voran.

Maler düsterer und entrückter Stimmungen

Ludwig Tieck war ein Multitalent der Sprache: ein Frühbegabter, ein brillanter Schriftsteller, revolutionärer Künstler, grandioser Übersetzer und begnadeter Vorleser. Bezeichnend, dass von seinen Porträts vor allem der Scherenschnitt von Luise Duttenhofer im kollektiven Gedächtnis hängengeblieben ist, der ihn beim Vorlesen zeigt. Zeit also, den großartigen Erzähler wiederzuentdecken, den Maler düsterer und entrückter Stimmungen, der Tieck in seinen besten und konzentriertesten Werken auch war.
 

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