Das Journal: Bücher - Von der Sucht gezeichnet

Zeitgeschichte «Spiegel»-Autor Jürgen Leinemann wirft einen scharfen Blick auf das zerstörerische Potenzial der Politikerwelt

Wenn man bei einem Hintergrundgespräch in Berlin über den Zustand des politischen Journalismus im Allgemeinen und den des «Spiegel» im Besonderen redet, fällt irgendwann der Name Jürgen Leinemann. Der Zusammenhang geht so: Früher war alles anders, also besser. Der «Spiegel» war in Bonn immens wichtig: als Haupt- und Leitmedium für die Diskussionen der politischen Klasse. Heute ist der «Spiegel» nicht mehr so wichtig, weil viele der Geschichten im politischen Teil nur noch eine Art Chronik der laufenden Ereignisse sind. Außerdem ist der Journalismus in Berlin zwar schneller, lauter und modischer, aber nicht unbedingt besser geworden. 
 
Wenn man dann, kurz vor dem Dessert, zu den Personen kommt, mit denen diese Entwicklung verbunden ist, so heißt es: Na ja, Herbert Riehl-Heyse von der «Süddeutschen» und Rolf Zundel von der «Zeit» sind tot, und der Leinemann vom «Spiegel» schreibt auch nicht mehr so viele Geschichten.
 
Dass der Leinemann vom «Spiegel» in den letzten Monaten nicht mehr so viele Geschichten im Blatt hatte, hängt ganz entscheidend damit zusammen, dass er ein Buch geschrieben hat: ein schönes, dickes, richtiges Buch – keine der unter Großreportern so beliebten Textsammlungen, kein zwischen zwei Deckel gepresstes Rieseninterview, keinen auf 304 Seiten ausgedehnten Leitartikel, keine aus dem Archiv bestückte Politiker-Biograe. 
 
Jürgen Leinemanns «Höhenrausch» ist einerseits eine Geschichte der bundesrepublikanischen Politik und ihrer Spitzenakteure von den frühen siebziger Jahren bis heute. Andererseits aber ist es auch eine Autobiograe, in der Leinemann, Jahrgang 1937, wieder einmal die alte Regel bestätigt, dass ein Autor, der nicht an sich leidet, kein guter Autor sein kann.
 
Leinemanns zentrale These lautet: Politiker leben in einer eigenen Welt, die mit der Realität jener, für die und in deren Namen sie Politik machen, wenig zu tun hat. Bestimmendes Charakteristikum dieser «wirklichkeitsleeren Welt» ist die Sucht – die Sucht nach Macht, Einfluss, öffentlicher Anerkennung, Erfolg. Der Droge Politik sind nicht nur Kanzler, Parteichefs, Minister und Oppositionsgrößen verfallen, sondern die meisten Mitglieder der politischen Klasse vom Fraktionsmitarbeiter über den Lobbyisten bis zum politischen Korrespondenten.
 
Mit Schröder an der Nadel An dieser Stelle setzt der einzige, wenngleich wichtige Einwand gegen den Reporter-Psychologen Leinemann ein: Der Autor selbst nämlich, seit dreißig Jahren im Bonner und Berliner Getriebe, hängt an der gleichen Nadel wie Schröder, Kohl und Westerwelle. Er ist sich dessen bewusst, er beschreibt es auch immer wieder in seinem Buch. 
Wie viele andere Angehörige dieses Kreises ist Leinemann zeitweise einer wirklichen Droge, dem Alkohol, verfallen gewesen, was er in seinem Buch zur Sprache bringt. Sein Blick auf das zerstörerische und oft selbstzerstörerische Potenzial der Politikwelt ist scharf. So scharf, dass man sich gelegentlich fragt, warum er es nie geschafft hat, wirklich auszusteigen. 
 
Ein Journalist seines Ranges, ein Autor seiner Sprachgewalt hätte die Möglichkeit gehabt: schöne, ruhige Reportagen für «Geo», kontemplative Großportraits für die «Zeit», planerisches Gestalten in einer Chefredaktion in München, Hamburg oder Frankfurt. Wie kein anderer kann Leinemann den Betrieb sensibel sezieren. Aber er legt bis heute großen Wert darauf, dass ihm Objekte und Besatzung seines Seziertisches aus nächster Nähe dabei zusehen. Auch das ist wohl eine Wirkung der Droge Politik.
 
«Höhenrausch» enthält gewiss Elemente der Selbsttherapie. Trotzdem, oder vielleicht: gerade deswegen, ist es ein außergewöhnliches, höchst lesenswertes und im besten Sinne des Wortes unterhaltsames Buch. Leinemann schildert Politik als ein Produkt von Menschen, die wiederum entscheidend von der geschlossenen Welt der Politik geprägt sind. Es ist fast banal, in diesem Zusammenhang festzustellen, dass Leinemann die Akteure «natürlich» alle kennt. Er hat mit ihnen geredet, gestritten, hat ihnen zugehört, ist mit ihnen gereist und hat mit manchen von ihnen gesoffen. 
 
Dennoch sind seine Psychogramme von Kohl und Brandt, von Rau und Merkel alles andere als Stoff für Klatsch. Er passt seine Beobachtungen über politische Menschen in Strukturen ein. Er erklärt, wie vier verschiedene Politikergenerationen – die der Weimarer Republik, der Soldatenjahrgänge, der Kriegs- und schließlich der Trümmerkinder – West- und dann später Gesamtdeutschland bestimmt haben oder noch bestimmen. 
 
Man kann zum Beispiel die Ära des Kanzlers Schmidt nicht verstehen, wenn man sich nicht immer wieder vor Augen hält, dass Schmidt, Strauß, Dregger, Genscher, Lambsdorff, Weizsäcker und viele andere als junge Männer von Kriegsdienst, Todesgefahr und Verwundungen für ihr Leben geprägt wurden. In einem Alter, in dem Schröder, Fischer, Lafontaine, Rühe und Stoiber die Freiheiten der immer libertärer werdenden Gesellschaft ausprobierten, kämpften ihre politischen Väter in Russland, in der Normandie und im Oderbruch.
 
Im inneren Zirkel des Kanzlers Darüber hinaus ist Leinemanns «Höhenrausch» ein hervorragender Reiseführer durch die psychologische Szenerie der gegenwärtigen Regierung und der auf den Machtwechsel hinebernden Opposition. Nahe, in manchen Abschnitten ihres zeitweise fast gemeinsamen Lebens zu nahe, stehen sich Leinemann und Schröder. Leinemann schildert Schröder als einen Menschen, der Nähe sucht, sie abrupt beendet und dann, getrieben von einem schlechten Gewissen und deutlich mehr Kalkül, wieder an alte Zeiten anknüpft. Hier ist der Mensch Schröder ganz eins mit dem Politiker. 
 

In Berlin, Hannover und anderswo gibt es Dutzende von Politikern, die sich kürzer oder länger in seinem inneren Zirkel wähnten, um früher oder später festzustellen, dass er diesen nach Lust, schlechter Laune oder politischer Notwendigkeit aufblasen kann wie einen Luftballon oder zusammenschnüren wie eine Garrotte. Wer die Psyche oder zumindest die Biograe Schröders gut kennt, versteht viele seiner Handlungen besser. Auch dazu steuert der politische Gerichtsmediziner Leinemann sehr viele Erkenntnisse bei.

Jürgen Leinemanns «Höhenrausch» ist ein Buch, wie es einem politischen Journalisten als Fazit dreier mit Leidenschaft erlebter Berufsjahrzehnte nicht besser gelingen kann. Gewiss, es ist hie und da auch eitel. Aber Eitelkeit gehört genauso wie Selbstzweifel zu jenen Dingen, unter denen gute Autoren leiden müssen.


Jürgen Leinemann
Höhenrausch. Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker Blessing, München 2004. 496 S., 20 €

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