Stalin und sein Imperium - Stalin und sein Imperium

Woher kommt das plötzlich neu erwachte Interesse am stalinistischen Schreckensregime in der Sowjetunion und an dessen Namensgeber? Der Streit der Historiker um die These vom Stalinismus als der unver­meidlichen Konsequenz aus der Revolution Lenins ist längst erledigt. Dennoch fragt eine neue Generation, fragen neue Bücher danach, wie es zuging, dass der Priester-Seminarist Josef Dschugaschwili aus Georgien, genannt Stalin, die bolschewistische Revolution in eine persönliche Diktatur um­wandeln und seine Despotie über drei Jahrzehnte aufrechterhalten konnte. Simon Sebag Montefiore, der englische Historiker, zeichnet eine Charakterstudie des jungen Stalin in seinen kriminellen Anfängen als Bankräuber und Killer im Kaukasus, während sein Landsmann, der Schriftsteller Martin Amis, sich an «Koba dem Schrecklichen» abarbeitet. Sonja Zekri stellt beide Bücher vor und beantwortet auch die Frage, was das Interesse an Stalins Autokratie mit Putins heutigem Russland zu tun hat. Gleichzeitig erscheinen, erstmals vollständig auf Deutsch, zwei literarische Haupt-Dokumente, die das menschliche Leiden der Opfer Stalins bezeugen: dasjenige der Gulag-Häftlinge und der Sowjetsoldaten. Ralph Dutli zeigt, wie die Schriftsteller Warlam Schalamow und Wassilij Grossman die stalinistische Hölle vermaßen – Schalamow mit seinen «Erzählungen aus Kolyma» und Grossman mit seinem Stalingrad-Epos «Leben und Schicksal»

Eines Tages, aus heiterem Himmel, brach die sechs Monate alte Tochter des Schriftstellers Martin Amis in Tränen aus. So herzzerreißend weinte sie, dass der Vater schier verzweifelte und in seiner Not das Kindermädchen rief – die Nanny beruhigte das Kind auf Anhieb. Amis aber wankte in den Garten und schluchzte nun seinerseits. «Die Töne, die sie von sich gab», erklärte er später seiner Frau, «hätten auch aus den tiefsten Kellern des Moskauer Butyrki-Gefängnisses zur Zeit des Großen Terrors kommen können.» Seitdem rief die Familie das Kind «Butyrki» oder «Butyrklet» oder auch «Butyrkster». Sogar die Tochter selbst, inzwischen zwei Jahre alt, kann ihren Spitznamen sagen. Butyrki.

Was sagt diese Geschichte über Stalin aus? Nichts. Was verrät sie über Martin Amis, der sie ans Ende seines Buches «Koba der Schreckliche. Die zwanzig Millionen und das Gelächter» stellt? Nun, zumindest den unerschrockenen Willen zur Subjektivität. Amis lässt seine Familien-Erinnerungen auf die Weltgeschichte los. Dumm für die Weltgeschichte, wenn sie dabei zu kurz kommt.

In seinem Buch legt Amis dar, dass Stalin ein Verbrecher war, oder, um in der XXL-Rhetorik seines Werkes zu bleiben, dass er «monströs, dämonisch, krank» war, kurz: «ein historisches Großmonster» mit schwefelgelben Augen. Wer dies bereits ahnte, muss «Koba der Schreckliche» nicht lesen. Wem diese Nachricht neu ist, der sollte es allerdings noch weniger lesen. Denn «Koba der Schreckliche» ist bestenfalls ärgerlich, schlimmstenfalls aber schädlich.


Abrechnung mit dem Vater und dem Freund

Der Auslöser für Amis’ Buch über Stalin und die zwanzig Millionen Toten, die der Diktator auf dem Gewissen hat, war der Tod seiner jüngeren Schwester Sally. «Sally und die zwanzig Millionen haben natürlich ganz und gar nichts miteinander gemein. Nichts außer dem Tod und vielleicht der Ahnung ihres Wiedererwachens», schreibt Amis. Warum er beides trotzdem in einem Buch zusammenzwingt, verrät er nicht.

Die wahren Gründe, man ahnt es, liegen ohnehin tiefer. Amis’ Vater, der inzwischen verstorbene Schriftstel­ler Kingsley Amis (siehe „Literaturen” 1–2/2002), war in seiner Jugend Stalinist. Später wurde er ein beinharter Tory, aber diese fünfzehn Jahre der Verirrung hat Martin seinem Vater nicht verziehen: «Die Welt hatte die Wahl zwischen zwei Wirklichkeiten, und der junge Kingsley entschied sich, wie die überwältigende Mehrheit der Intellektuellen in aller Welt, für die falsche», schreibt Amis in seliger Selbstgerechtigkeit.

Zu jener «überwältigenden Mehrheit der Intellektuellen» gehört auch Amis’ Freund, der Publizist Christopher Hitchens, einst ein bekennender Trotzkist. Dass Hitchens längst geläutert ist und im Irak-Krieg sogar auf der Seite der Neo-Cons zu finden war, dass der Kommunis­mus ein Kadaver, der Bolschewismus Geschichte ist, ficht Amis nicht an. «Koba der Schreckliche» ist der bemerkens­werte Beweis dafür, dass der Antikommunismus den Kom­munismus als Ideologie überlebt hat. Denn unverdrossen rechnet Amis seinem Vater Kingsley, seinem Freund Hitchens und einer von ihm als skandalös hoch geschätz­ten Zahl von Unverbesserlichen die mörderische Bilanz der Bolschewisten vor.

Dabei ist sein Enthüller-Gestus umso erstaunlicher, als er nicht eine Primärquelle ausgewertet, nicht einen Zeitzeugen gesprochen hat, kaum eine Begebenheit beschreibt, die nicht hinlänglich bekannt wäre. Seitenlang plündert Amis den Kanon der antistalinistischen Literatur mit Solschenizyn, Schalamow, Grossman oder Ginzburg, großzügig paraphrasiert er Giganten der Forschung wie Robert Tucker, Dmitrij Wolkogonow, Robert Conquest – einen Freund der Familie. Russischsprachige Werke verwendet er nicht. Ob er je in Russland war, ist unklar.

Dass manches in diesem Buch falsch ist (es ist keineswegs bewiesen, dass Stalin den Mord am Leningrader Parteisekretär Kirow befohlen hat), anderes spekulativ, aber alles polemisch, wäre hinnehmbar, wenn Amis mit einer originellen Hypothese überraschen würde. Aber was verraten Nullsätze wie jene von der «negativen Perfektion» oder der «Politisierung des Schlafes» über das Wesen des Stalinismus?


Stalin und Hitler: «Zwillinge der Hölle»

Die Kernthese folgt immerhin einer ehrenwerten Absicht und steckt im Untertitel: «Die 20 Millionen und das Gelächter». Der Holocaust, so Amis, verbiete jede Art von humoristischer Annäherung. Über Stalins Opfer aber, über die zwanzig Millionen Toten des Großen Terrors, der Kollektivierung, der Entkulakisierung, des Gulag, werde oft mit einem Kalauer hinweggegangen. Das klingt tiefsinnig, ist aber falsch. Nazi-Witze gab es bereits im Faschis­mus, und gerade in den letzten Jahren haben Filme wie «Das Leben ist schön» von Roberto Benigni oder «Mein Führer» von Dani Levy die Humor-Debatte neu belebt.

Amis gibt vor, dass er die Toten des Stalinismus würdigen will, die der übermächtige Schatten des Holocaust verdeckt: «Jeder weiß von Himmler und Eichmann. Niemand weiß von Workuta und Solowetzky.» Aber am Ende läuft das Ganze nur auf einen Vergleich zwischen Hitler und Stalin hinaus, der die Sprache vollends entgleisen lässt – «Tausendjährige Konfrontation der Antichristen», «Zwillinge der Hölle» – und in der abenteuerlichen Behauptung gipfelt, Hitler habe die Bürger zwar eingeschüchtert, aber anders als Stalin keine «allumfassen­de Atmosphäre von Ekel und Angst» erzeugt. Es gehört schon einige Arroganz dazu, die Fülle von autobiografischen Ekel- und Angst-Zeugnissen aus der NS-Zeit so kühn beiseitezuwischen.

Seit Jahrzehnten bemüht sich die Geschichtswissenschaft um die Rekonstruktion von Befehlsketten, um die exakte Vermessung der eskalatorischen Wirkung von Bürokraten, Mitläufern und Profiteuren. Amis aber beschreibt Geschichte als titanisches Ringen satanischer Solitäre. Ausgiebig widmet er sich Foltertechniken und Hinrichtungsbilanzen und missbraucht Geschichte für jene erkenntnisfreie Betroffenheit, jene moralische Hyperventilation, die jede Aufklärung unmöglich macht und nur ermüdet, abstumpft, nivelliert. Irgendwann bezeichnet er den Stalinschen Terror als «eine Art von Vergewaltigung», «ein Zerrbild von Liebe, die mit Gewalt eingetrieben wird». Da verlässt sein Buch den Boden des Ideo­logischen: Das ist historische Pornografie.


Dschugaschwili, Lenins wertvollster Killer

Simon Sebag Montefiores Biografie des jungen Stalin dagegen ist das exakte Gegenteil zu Amis: präzise recherchiert, mitreißend geschrieben, verblüffend im Urteil. Montefiore, der mit «Am Hof des roten Zaren» bereits eine vielbeachtete Studie zum «privaten Stalin» der Herrschaftszeit vorgelegt hat (siehe „Literaturen” 1–2/2006) ist in den Kaukasus gereist, um die Spuren des jugendlichen, ja, des kindlichen Josef Dschugaschwili aufzuspüren. Zehn Jahre lang hat er gegraben und in den Archiven von Moskau, Tbilisi und Batumi die aufsehenerregenden Aufzeichnungen einstiger Weggefährten und Angehöriger wie Stalins Mutter Keke ausgewertet. Nun lässt sich eine Lücke schließen. Jahrzehntelang nämlich war das Bild des adoleszenten Diktators geprägt von den Schmähungen seiner Gegner. In seinem Buch nun beweist Montefiore, dass Stalin vor der Revolution keineswegs nur ein «grauer Fleck» (Suchanow) von «provinzieller Mittelmäßigkeit» (Trotzkij) war, sondern einer der wertvollsten «Hitmen», über die Lenin gebot.

Mehr noch: viele von Stalins späteren, scheinbar irrationalen Zügen – das pathologische Misstrauen selbst gegen treueste Verbündete, die kannibalistischen Säuberungen, die Unbekümmertheit gegenüber dem Wert menschlichen Lebens – erklären sich aus der Ehren- und Gewaltkultur des Kaukasus, aus Stalins Aufstieg zum bolschewistischen Gangster-Boss und seiner Zeit als Verbannter in Sibirien. Er füllte Lenins Parteikassen durch Banküberfälle, Erpressungen und Piraterie und konnte doch nicht verhindern, dass die zaristischen Spitzel bis in seine intimsten Kreise vordrangen. Oft ist darüber gerätselt worden, warum Stalin Jahrzehnte später seinem eigenen Geheimdienst nicht traute, der ihn 1941 mehrfach vor einem deutschen Überfall gewarnt hatte. Wer weiß, dass der Geheimdienst des Zaren es fertiggebracht hatte, den Spitzel Roman Malinowskij sogar als Führer der Bolschewiki in die Reichsduma zu schleusen, der ahnt die Gründe für diese Paranoia. Die Konspirazija, das Leben im Untergrund, prägte Stalin in Georgien, und als er an die Macht gelangte, übertrug er diese Erfahrungen auf die Herrschaftskultur, ja, auf die gesamte sowjetische Gesellschaft.

Dies alles schildert Sebag Montefiore vor der Kulisse eines vorrevolutionären Georgien, dessen pralle, grelle Wucht an das Russland in Orlando Figes’ Revolutionsepos «Die Tragödie eines Volkes» erinnert. Dieses Georgien ist ein brodelnder Vulkan ethnischer Spannungen und politischen Unwillens, mit aufbrausenden Georgiern und grausamen Kosaken, mit Persern, Tschetschenen, Armeniern, mit Gebirgsjuden, die Eis verkauften, und betrunkenen Geistlichen, die in Schlägereien als Schiedsrichter auftraten. Dieses «unslawische, unrussische, durch und durch kaukasische Kaleidoskop von Ost und West» prägte den Schusterssohn Josef Dschugaschwili, genannt Sosso, der nach dem Willen seines brutalen Vaters in der Fabrik dahinvegetiert wäre, hätte ihn nicht seine herrische Mutter Keke auf die Schule und später aufs Priesterseminar geschickt.

Sosso sang einen glasklaren Tenor und schrieb Gedichte. Er war ein gieriger Autodidakt, las Platon im Original und gab später im Kreml Walt-Whitman-Zitate zum Besten. «Stalin verdankte seine politische Karriere der ungewöhnlichen Verbindung von Straßenbrutalität und klassischer Bildung», schreibt Montefiore. Denn der weniger zivilisierte Teil dieser Doppelbegabung – die kriminelle Energie, die Herrschsucht, die Egomanie – verhalfen Sosso alias Koba alias «der Milchmann» alias «der Schwankende» bald zu lokalem Ruhm – und Lenin, den er 1889 traf, zur Lösung finan­zieller Engpässe.

Stalins Raubzüge waren unterbrochen von Verbannungen nach Sibirien, die anfangs fast Kur-Charakter hatten, ihn aber am Ende in einen einsamen, verschlossenen Jäger verwandelten; besonders den Menschewiken, dem rivalisierenden Flügel der russischen Sozialdemokratie, waren diese Bankräubereien unerträglich, und Stalin setzte später alles daran, seine kriminellen Anfänge zu vertuschen. Aber Lenin wusste, dass die Partei auf die Abertausende von Rubeln, die Stalin ins finnische Exil schickte, bitter angewiesen war.


Genau die Art Mensch, die Lenin brauchte

Besonders spektakulär war ein Überfall auf dem Hauptplatz von Tbilisi/Tiflis im Juni 1907, den Montefiore an den Beginn seines Buches stellt. Das Verbrechen machte sogar in Europa Schlagzeilen. 40 Menschen starben, Stalin erbeutete umgerechnet drei Mil­lionen Euro, wurde zwar vom Tifliser Komitee aus der Partei ausgeschlossen, Lenin aber entschied: «Das ist genau die Art Mensch, die ich brauche.»

Ausgeführt wurde der Coup von Simon Ter-Petrossjan, genannt Kamo, einem kindlichen Psychopathen, der Stalin gelegentlich bat, «Erlaube mir, ihn für dich zu töten», und später einem Mann das Herz aus der Brust schnitt. Dieser Kamo war die bizarrste Gestalt in Stalins Entourage, wurde mit einem Teil der Beute in Deutschland geschnappt, simulierte trotz Quälereien erfolgreich den Geis­teskranken, entkam, überfiel eine Postkutsche, wurde zum Tode verurteilt und durch die Revolution befreit. Montefiores Buch ist voll von solchen pittoresken Figuren; allein die Schicksale der Frauen, die Stalin verführte, schwängerte, heiratete oder sitzen ließ – da­runter ein dreizehnjähriges Schulmädchen – würden Bände füllen.

Manchmal wirken Montefiores Genre-Szenen allzu menschlich, etwa wenn Stalin und Lenin sich in den vorrevolutionären Wirren in Petrograd in der Sorge um den anderen überboten («Isst Iljitsch?»). Und doch gelingt es ihm, nicht nur den Kulturschock, den die ungehobelten Kaukasier für den Landadeligen Uljanow be­deuteten, sondern auch die Sollbruchstellen der Geschichte deutlich zu machen: Mehrfach standen die Bolschewiki kurz vor der Auslöschung; noch einen Monat vor der Oktober-Revolution stimm­te das jämmerlich verzagte Zentralkomitee gegen einen Brief Lenins, in dem dieser, rasend vor Wut, die sofortige Machtübernahme gefordert hatte.


Woher die Faszination für den Blutsäufer?

Dabei stand Stalin, anders als Trotzkij später kolportierte, nicht in der zweiten Reihe, er «verpasste» die Revolution keineswegs, sondern war, im Gegenteil, einer der engsten Vertrauten Lenins. Und doch waren weder die Revolution noch der Stalinismus unvermeidlich, so Montefiores Fazit. Ohne den internationalen Charakter des Marxismus, ohne den utopischen Fanatismus der Ideologie, ohne Lenins Brüskierung des moderaten Kamenew, ohne Welt- und Bürgerkrieg hätte sich der Georgier Stalin nie oben halten können. In den ersten Monaten nach der Revolution «erprobten Stalin und seine Anhänger die uneingeschränkte Möglichkeit, Krieg zu führen und die Gesellschaft durch willkürliche Morde zu verändern», so Montefiore: «Danach war die kaltherzige paranoide Psychologie der ständigen Verschwörung und der Drang zu extremen, blutigen Lösungen für alle Probleme nicht nur vorherrschend, sondern sie wurden auch verherrlicht, institutionalisiert und zu einem amoralischen bolschewistischen Glauben erhoben.»

Zwei höchst unterschiedliche Werke erscheinen also in diesem Herbst, und ein wenig kommt man über diese Häufung der Stalin-Literatur (siehe auch „Literaturen” 4/2007) doch ins Grübeln. Warum leistet sich der Buchmarkt gleich zwei Stalin-Biogra­fien? Aus welchem Grund wird Wassilij Grossmans Stalingrad-Epos «Leben und Schicksal» neu herausgebracht? Woher die plötzliche Aufmerksamkeit für Warlam Schalamow? Ein auffälliges Interesse an den finstersten Zeiten der russischen Geschichte scheint da auf, das sich möglicherweise aus neuen Archivfunden, aus Jahres- und Geburtstagen erklärt, möglicherweise aber auch aus einem Unbehagen über das neureiche, aber immer noch unheimliche, asiatische Russland.

Die beiden Werke sind da unterschiedlich hilfreich. Martin Amis’ Beschwörung der monumentalen Leidensfähigkeit des russischen Volkes – «Sie liebt Blut, die russische Erde» – ähneln den Kli­schees aus den Tagen des Marquis de Custine, der Mitte des 19. Jahr­hunderts Gruselgeschichten über die Wilden jenseits der Weichsel verbreitete. Aber auch Simon Sebag Montefiore bemerkt: «Es hat den Anschein, dass das heutige Russland – dominiert durch und gewöhnt an Autokratie und Imperium, zudem ohne starke Bürgerorganisationen – dazu bestimmt ist, noch einige Zeit von sich selbst erhöhenden Cliquen regiert zu werden.» Wie zu Zeiten Lenins und Stalins, wie aber auch zu Zei­ten des Zaren, werde in der «gelenkten Demokratie» des 21. Jahrhunderts die Politik «von den Persönlichkeiten und der Patronage einer winzigen Oligarchie bestimmt».

Das ist insofern nicht ganz korrekt, als die Oligarchen sich – nach den Jelzin’schen Jahren größten Einflusses der Wirtschaft auf die Politik – spätestens seit der Verurteilung Michail Chodorkowskijs gerade nicht mehr in die Politik einmischen. Und doch spürt man bei Montefiore das leise Gruseln des Wiedererkennens: Die byzan­tinischen Ränke im Kreml, das Grübeln darüber, welcher der möglichen Thronfolger in welcher Distanz zum Herrscher Wladimir Putin auftritt, die folkloristische Sympathie für Stalin, den Sieger des Großen Vaterländischen Krieges – trägt alles das nicht viel zu vertraute Züge? Während Putin unlängst die Losung ausgegeben hat, Russland müsse sich für seine Geschichte nicht schämen, demons­triert der westliche Buchmarkt genau das Gegenteil. Wie soll ein Land mit dieser Geschichte, mit diesen Herrschafts­gepflogenheiten sich in den Reigen der demokratischen Völker einreihen?

Und doch gibt es noch einen Grund für die Auseinandersetzung mit diesen schwarzen Jahren. Die «verschwommene Welt des Terrorismus», schreibt Montefiore, sei heute «relevanter denn je, denn terroristische Organisationen, ob bolschewistische zu Beginn des 20. oder dschihadistische zu Beginn des 21. Jahrhunderts, haben viel gemeinsam». Auch Martin Amis zieht den Vergleich zwischen dem
gewalttätigen Islamismus und dem mörderischen Bolschewismus, und da reichen die Überlegungen über den russischen Rahmen hinaus, da erreichen sie globalen Maßstab. In der Tat ist der moderne Terrorismus eine russische Erfindung. Er geht zurück bis zu Sergej Netschajew, der Mitte des 19. Jahrhunderts gegen den Zaren bombte – und Lenin inspirierte. Aber dass westliche Wissenschaftler sich nun erneut an die russische Geschichte wenden, um Erkenntnisse über jenes schwarze Loch zu erhalten, jene Kernschmelze, die fanatische Ideologie in Gewalt umschlagen lässt – «Wie kann man eine Revolution durchführen, ohne Menschen zu erschießen?» (Lenin) –, das zeugt vor allem von einem: von Hilflosigkeit.

 

Sonja Zekri ist Slawistin, Redakteurin im Feuilleton der «Süddeutschen Zeitung» und lebt in München.
Zuletzt erschien von ihr und Alex Rühle das Buch «Deutschland extrem».

 

Martin Amis
Koba der Schreckliche. Die zwanzig Millionen und das Gelächter
Aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Hanser, München 2007. 256 S., 21,50 €

Simon Sebag Montefiore
Der junge Stalin. Biographie
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2007. 544 S., 24,90 €

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