Die Orte der Dichter - Schwarzes Quadrat vor Schnee mit roter Kugel

Marion Poschmann schickt die Heldin ihres «Schwarz­weiss­romans» ins sibirische Magnitogorsk, wo alles Individuelle seine Farbe und Form verliert

Die russische Weite mit ihrer inzwischen reichlich ramponierten «Utopie von Elektrikern» (so H. G. Wells nach einem Besuch bei Lenin) hat in den letzten acht Jahrzehnten viele Deutsche fasziniert: Schriftsteller, Ingenieure, Trassenbauer. Zuletzt hatte sich Helmut Höge dem Thema mit seinem Buch «Neurosibirsk» auf feuilletonistische Weise genähert. Dort ist zu lesen, dass 3000 deutsche Facharbeiter im Jahr 1932 im Ural arbeiteten, wo sie unter anderem am Aufbau des Stahlstandortes Magnitogorsk beteiligt waren. 1929 gegründet, war die Stadt einer der Hauptschauplätze der gewalttätigen sowjetischen Industrialisierung des Ersten Fünfjahresplanes. Zur selben Zeit begann der «Suprematismus» zu verblassen, jene russische Avantgarderichtung um El Lissitzky und Kasimir Malewitsch, die die Reduktion auf einfachste geometrische Formen in den Dienst der Veranschaulichung höchster menschlicher Erkenntnisprinzipien stellte.

In diesem Herbst ist nun ein Roman erschienen, der die künstlerische und industrielle Avantgarde Russlands in einen Text zu transformieren versucht, der die Zeit nach dem Zerfall der Utopien erzählt. In Marion Poschmanns «Schwarzweissroman» reist die namenlose Heldin Mitte der neunziger Jahre zu ihrem Vater Anton Wermut, der als Mitglied einer Gruppe deutscher Ingenieure in Magnitogorsk an der Modernisierung der dortigen Industrie beteiligt ist. Man will die Fehler der Vergangenheit korrigieren. «Magnitogorsk mußte stumpf sein, trüb, je nach Tageszeit verschiedene Tönungen des übli­chen Graus annehmen, es mußte, das erwar­tete ich, für dieses Grau ein besonders gelungenes Beispiel sein. Ich hatte einen Stadtplan gesehen. Schachbrettartig angelegte Straßen auf der einen Seite des Flusses, das Industriegebiet auf der anderen, die gesamte Anordnung von ausgesprochener Künstlichkeit», denkt die Erzählerin, bevor sie auf dem Flughafen von Magnitogorsk landet, der ihr wie eine «fragwürdige Übergangslösung» erscheint.


Weite, Schnee und Wartesäle

Vom Elan der Anfangszeit ist nichts geblieben. Die Gruppe der deutschen Ingenieure sitzt untätig im Hotel «Eurasia» herum, auch wenn sie von den russischen Männern respektiert und von den russischen Frauen umworben wird. Die Männer machen das, wofür der Ostblock berühmt wurde: Sie warten. Vordergründig auf Ersatzteile, aber je mehr Zeit überm Warten vergeht, desto grundsätzlicher wird ihr Wartestand. Die Ich-Erzählerin schließt sich ihnen an, aus welchem Grund, das bleibt lange Zeit unklar, und eigentlich bedarf es irgendwann auch keiner Erklärung mehr. «Meine Biographie interessierte mich nicht mehr. Ich hatte Sehnsucht nach Kometen.»

Mit ihrem roten Wollmantel ist sie der Farbfleck in einer ansonsten von Schwarz und Weiß geprägten Landschaft, in der der Raum ins Unendliche zu gehen scheint. Alle Ingredienzien Russlands sind vorhanden: Weite, Schnee, Einkaufsschlangen, Wartesäle, Tee und Desinfektionsmittel. «Als Fußgänger ist man in diesem Land verraten und verkauft», sagt der Vater, als der Weg nicht enden will, und die Erzählerin bemerkt angesichts einer Stadt, in der die Hochhäuser klotzige Barrieren und rechte Winkel bilden: «Es wirkte unangebracht, hier nach menschlichem Maß zu bauen.»

In einem suprematistischen Albtraum verdichtet sich die Geschichte dieser gigantischen Industrialisierungsmaschine zu einem Stakkato von Parallelismen. «Die Massen begaben sich zurück zum Start. Gaspipelines legten ihre Schlingen. Bohrtürme stachen ins ewige Eis. Kraftwerke wuchsen über Nacht heran. Sümpfe blieben stecken. Städte verschwanden unter Stauseen. Chemiebetriebe, Bahnlinien, Hafenanlagen, von Zwangsarbeitern erbaut. Herden von Zwangsarbeitern, geheime Mengenlehre. Trocknungsvorgänge. Durchnässungsvorgänge. Das Umleiten von Wärmeströmen. Flüssen.»

Alles Mitteleuropäische geht kaputt

Die junge Frau ist kalt wie der Permafrostboden, auf dem sie sich bewegt. Nur dem Pianisten Konstantin gegenüber, der an Krebs erkrankt ist (was aber in der hochgradig verseuchten Stadt niemand zugeben will), gelingt ihr so etwas wie Mitgefühl. Sie versucht mit einer gehörigen Portion Arroganz über den Dingen zu stehen, die andere zerrütten. Die Seelenlage der Ingenieure kollidiert mit dem überwältigenden Raum und dem Paradox, dass die Zeit über dem Warten nicht vergeht, sie selbst aber gleichzeitig schneller zu altern scheinen. Aus Langeweile fängt die Ich-Erzählerin eine Beziehung mit dem Chef der Deutschen an – eine Hassliebe auf den ersten Blick.

Marion Poschmanns Roman ist mo­nochrom, mit gelegentlichen roten Einsprengseln, die sich vom Weiß des Schnees absetzen. El Lissitzkys Beschreibung des Suprematismus zu Beginn des Buches liest sich wie ein Handlungsschema: «Der Supre­matismus befreite sich in seinen Vollendungen von dem Individualismus grüner, oranger, violetter Nuancen und ging zu Schwarz und Weiß über. Hier haben wir die Reinheit der kollektiven Kraft erkannt … Und in der Tat, nur hartnäckiger Individua­lismus kann heute für Farbigkeit in unserem Stahl-Beton-Kohle-Alltag plädieren und rote Farbe in das von Repin gemalte Blut Iwans des Schrecklichen einbrennen.» Die Ich-Erzählerin behauptet mit dem Rot ihres Mantels ihren Individualismus. Aber der Mantel verliert an Farbe und Form unter dem unwirklichen Klima, in dem alles kaputtgeht, was man aus Mitteleuropa mitgebracht hat, seien es Gegenstände, Gewissheiten oder Beziehungen.

Der Roman lebt von seinen Perspektivwechseln. Der Erzählung in der ersten Person Singular sind lyrisch verdichtete Passagen in der zweiten Person beigestellt, seltener wechselt die Autorin in die auktoriale Perspektive. Bei aller Kunstfertigkeit fragt man sich allerdings, ob die Blässe ihrer Ich-Erzählerin gewollt oder ob sie Marion Poschmann unterlaufen ist. Dagegen gelingt es ihr, die deutschen Ingenieure mit wenigen Sätzen lebendig zu machen. Die Männer, alle­samt Kriegskinder um die fünfzig und vom Habitus her aus dem Westen Deutschlands stammend, sind auf vielfältige Weise über die Vergangenheit mit Russland und so auch mit dieser ehemaligen sowjetischen Waffenschmiede verbunden.

Der Vater der Ich-Erzählerin ist eine Flüchtlingswaise aus Ostpreußen; die Spuren seines Vaters verflüchtigten sich im russischen Schnee, irgendwo in der Nähe von Magnitogorsk. Albrecht Pogoda ist das Kind einer Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten in den letzten Kriegstagen; er versucht sich den russischen Verhältnissen auf brachiale Weise anzupassen. Theo Cziczins­ki ist in den für Bergarbeiter goldenen Kriegs- und Nachkriegszeiten in der Arbeitersiedlung neben der Zeche aufgewachsen und hat sich langsam zum Ingenieur hochgearbeitet; jetzt lebt er im Hotel mit der Russin Vera zusammen. Und da ist der Chef Wolfgang Grave, der irgendwann spurlos verschwindet.
 

In der radioaktiven Zone

«Noch erträgst du die Stadt, noch denkst du, du bist Gast für ein paar Wochen», sagt Albrecht, als sich bei der Erzählerin die erste Erschöpfung einstellt, «mit der entsprechen­den Narrenfreiheit, dann kommen die Depressionen, wenn sie nicht schon da sind. Das ist der Rußlandkoller, er ist unvermeid­lich. … Gestandene Männer holen sich einen kleinen Schnupfen und brechen innerlich zusammen, alles zuviel für sie. Sie vergessen ihre Familien, ihr Haus im Grünen, ihr Auto, sie vergessen alles und versuchen sich hier einzugliedern.»

Die einzige Person, der die Kälte und Weite nichts anhaben kann, ist Theos Frau Erika, die über der ganzen angeschafften Gemütlichkeit ihre Ruhrpottwurzeln nicht vergessen hat. Sie zieht schließlich mit ihrem kleinen Enkel ungefragt nach Magnitogorsk und stellt die familiäre Ordnung wieder her. In der Begegnung mit ihr, aber auch in den kleinen, kompakten Geschichten der Russinnen, die ihre Kühlschränke als Klimaanlage benutzen und ihre weißen BHs aus Mangel an hautfarbenen mit grusinischem Tee färben, zieht sich ein Anflug von Ironie durchs Buch und bereichert es damit um eine weitere Facette.

Das Ende des Romans erscheint wie ein schlecht fixiertes Schwarz-Weiß-Foto: Vater und Tochter gehen durch eine Schnee­land­schaft, unter der sich eine radioaktive Zone verbirgt. Zuerst verschwimmen die Ränder, man sieht noch eine Weile die Schemen zweier Personen, bis auch sie vom Weiß verschlungen werden.

 

Marion Poschmann
Schwarzweissroman. Roman
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2005. 320 S., 19,90 €

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