jb-Vorsitzende im Streitgespräch - Sind Studierende noch Studierende, wenn sie in der Kneipe sitzen, Frau Sittler?

Das Gendern erhitzt die Gemüter, der Satz „Transfrauen sind Frauen“ ebenso. Aber auch über die Rolle der Medien in der Corona-Pandemie lässt sich trefflich streiten. Kontrovers, aber heiter geht das mit Friederike Sittler, Abteilungsleiterin bei Deutschlandfunk Kultur und Vorsitzende des Journalistinnenbundes.

Fernsehteams und Journalisten warten auf den Beginn eines Pressetermins des Hamburger Senats / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

So erreichen Sie Ben Krischke:

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„Feministisch, vielfältig, engagiert“, so lautet das Motto des Journalistinnenbundes (jb). Der Verein versteht sich als Netzwerk für Frauen im Journalismus und tritt für ihre Interessen ein. Friederike Sittler ist 1. Vorsitzende des jb, hauptberuflich Abteilungsleiterin bei Deutschlandfunk Kultur und dort zuständig für über 20 lineare und digitale Formate, von Literatur über Politik bis hin zu Philosophie, Gesellschaft, Wissenschaft und Kinder. 

Frau Sittler, der Journalistinnenbund versteht sich als Netzwerk für Frauen in den Medien. Woran erkennen Sie denn, dass jemand eine Frau ist? 

Bei uns können alle Frauen, die in den Medien tätig sind, Mitglied werden. Es gibt keine andere Definition. Also weiblicher Vorname, weiblich auftretend, definiert sich als Frau im Journalismus. Und dann geht es darum, auch unsere Ziele zu teilen. Wenn jetzt Ben Krischke kommen würde, würde ich sagen: Das klingt nicht nach Frau, und er sieht mit seinem Vollbart auch eher männlich aus.

Ich dürfte also nicht Mitglied werden. Aber Georgine Kellermann (WDR-Journalistin und trans; Anm. d. Red.) schon? 

Selbstverständlich. Sie ist Georgine und könnte bei uns auf jeden Fall Mitglied werden; ist sie aber nicht. Wir haben aber trans Frauen bei uns im Verein. 

Das ist ja ein spezielles Thema, über das seit Monaten gestritten wird. In der Folge haben sich auch innerhalb des feministischen Milieus zwei Fronten gebildet. Aus Ihren Worten höre ich heraus, dass Sie nicht auf der Seite von Alice Schwarzer stehen, sondern auf der Seite des intersektionalen Feminismus, deren Vertreter finden, Transfrauen seien Frauen. 

Ich würde das mit dieser Seitenwahl nicht so machen. Wir haben als Verein ein klares berufspolitisches Ziel, nämlich Frauen im Journalismus. Und ich sage immer: Jede Frau bei uns kann ihre Biografie und ihre Werte teilen, aber sie muss es nicht. Ich frage bei der Aufnahme in den Verein nicht: Was für eine Weltanschauung hast du? Kommst du aus Ost- oder Westdeutschland? Mit wem lebst du zusammen? Hast du eine Behinderung? Vielfalt ist uns wichtig, aber ich frage sie nicht ab. Das steht mir nicht zu. Wir sind ein professionelles Netzwerk, das Vielfalt selbstverständlich lebt – und sie nicht immer zum Thema macht. 

Was ich noch nicht ganz verstanden habe: Über Jahrzehnte kämpfte der Feminismus für Frauenrechte, auch gegen den Widerstand des männlichen Patriarchats. Und jetzt lassen Teile des gleichen Milieus zu, dass biologische Männer definieren, was eine Frau ist, indem sie sich zum Beispiel zur Frau erklären. Wie lässt sich das mit Feminismus vereinbaren, wenn beispielsweise ein Mann, der sich selbst zur Frau erklärt, einen Posten bekommt, der eigentlich für eine Frau vorgesehen war? 

Das wäre für mich ein journalistisches Thema. Also drauf zu gucken, welche Argumente sprechen dafür, dass diese Person im Sinne des Zieles der Parität gerechnet wird auf Frauenseite? Und was spricht dagegen? Das sind aber Einzelfälle. Und wir verlieren damit ein bisschen aus dem Blick, worum es uns eigentlich gehen muss: nämlich, dass wir als Frauen im Journalismus sehr gleichberechtigt unterwegs sind. Aber haben Sie jemals eine Person getroffen, die von sich sagt, sie sei transgeschlechtlich, der Sie das aber nicht abnehmen? Ich meine, worüber reden wir jetzt eigentlich? 

Das ist die Frage. Sie haben gerade von einer Person gesprochen, die „eindeutig männlich“ auftritt. Das ist die nächste Krux an dieser Debatte. Ist „eindeutig männlich“ nicht ein Rollenklischee, das wir überwinden wollten? 

Das stimmt. Das ist aber auch schwer zu beschreiben. Uns geht es als Verein darum, dass unsere Ziele geteilt werden. Das betrifft übrigens auch nicht-binäre Personen. Aber wenn eine Person sagt, sie ist eine Frau und sie identifiziert sich mit unseren Zielen, dann kann diese Person unserem Verein auch beitreten. Ich glaube übrigens nicht, dass eine Person, die gar keine Frau ist, einem Frauenverein beitreten würde, um ihn dann von innen heraus aufzumischen.

Ich denke ja, dass diese Etiketten „nicht-binär“ und „gender-fluid“ vor allem eine Modeerscheinung sind, ein Zeitgeist-Ding. Wie dem auch sei: Sie sagten, dies sei eine theoretische Diskussion. Machen wir es konkret: Sie stört es nicht, wenn Tessa Ganserer als biologischer Mann über einen Listenplatz für Frauen in den Bundestag einzieht? 

Auch das wäre wieder ein journalistisches Thema. Dann müssen wir darüber berichten, wie sie sich definiert. Davor muss man Respekt haben, gleichzeitig aber auch jene Stimmen einfangen, die sich kritisch äußern. Das zu tun, hat was mit Qualitätsjournalismus zu tun. Ich würde aber einwerfen: Warum haben wir so viele Artikel gelesen und Sendungen gehört, die sich ausschließlich mit dieser einen Abgeordneten beschäftigt haben? 

Naja, sie hat ihre Transsexualität zum Markenzeichen gemacht. Deshalb finde ich es schon in Ordnung, wenn man darüber spricht. 

Ja, aber nicht nur. Ich hätte gerne weitere Geschichten gelesen, zum Beispiel über einen Abgeordneten, der aus dem Arbeitermilieu kommt oder den zweiten Bildungsweg hinter sich gebracht hat. Wenn ein Parlament nur anhand ausgewählter Personen beschrieben wird, reicht mir das nicht. Vielfalt ist für mich eben nicht, wenn man diese mit Diversität übersetzt und meint, Diversität sei zum Beispiel ausschließlich ein sichtbarer Migrationshintergrund. Vielfalt ist viel mehr. 

Da bin ich bei Ihnen.

Vielfalt ist auch Herkunft, Zugang zu Bildung, Zugang zu finanziellen Ressourcen, auch die Weltanschauung. Das alles müssen wir benennen, wenn wir über Vielfalt sprechen. Wir müssen zum Beispiel darüber reden, dass wir zu wenige Menschen im deutschen Journalismus haben, die aus einer ostdeutschen Familie kommen. Ich finde, das ist ein Manko, das wir auch in den verschiedenen Verbänden besprechen müssen. 

Meine These ist ja, dass die soziale Herkunft ohnehin der entscheidende Faktor für mehr Diversität im Journalismus und damit auch für mehr Meinungspluralismus im Journalismus wäre. Wenn man sich ansieht, aus welchen sozialen Schichten sich der Journalismus vor allem rekrutiert, dann ist unsere Branche in dem Punkt eher homogen. Das ist für mich die größte Baustelle: die Frage, wie im Journalismus mehr soziale Durchlässigkeit geschaffen werden kann. Sehen Sie das auch so? 

Ja, wobei es auch wichtig ist, sich die Fähigkeit zu bewahren, an unterschiedliche Milieus anzuknüpfen. Wenn ich aus einem bildungsfernen Milieu komme, mir alles selbst erarbeitet habe, mir dann auch die Fähigkeit zu bewahren, nicht auf Abstand zu gehen, sondern weiterhin mit den Menschen im Gespräch zu bleiben. Da müssen wir ansetzen. Auch jemand, der aus einem sehr etablierten Elternhaus kommt und alle Möglichkeiten hatte, muss in der Lage sein, auf Menschen zuzugehen, sich in sie hineinzubegeben und das auch wiederzugeben. Die Mischung macht’s.

Wir haben während der Corona-Zeit zum Beispiel gemerkt, dass wir schnell bestimmte Milieus vergessen haben. Ganz oft war das Homeoffice bei etablierten Familien das Thema. Und wir haben uns sehr spät erst mit jenen Familien beschäftigt, die nicht die Computerzugänge haben, nicht die WLAN-Raten, nicht die Möglichkeiten, die Schulaufgaben mit ihren Kindern zu lösen. Deshalb bin ich eine große Anhängerin von Vielfalt im Journalismus, um auch Themen zu finden, die uns nicht nur irgendwelche Pressestellen zuliefern. Das hat auch mit Glaubwürdigkeit zu tun. 

Ich habe meinen Job immer so verstanden, eben nicht nur zu bewerten, was Leute tun, sondern auch zu hinterfragen, warum sie etwas tun. Mir fällt nur leider auf, dass sich der Journalismus – auch während Corona – oft sehr oberflächlich mit einzelnen Phänomenen beschäftigt. Wenn, sagen wir, vom Elfenbeinturm der Süddeutschen Zeitung in Berg am Laim aus ferndiagnostiziert wird, was Menschen in Bautzen auf die Straße treibt, dann finde ich das nicht glaubwürdig. Müssen Journalisten wieder mehr raus in die Welt?

Vielleicht ist es oftmals zu sehr aufgeteilt. Es gibt viele freie Journalistinnen und Journalisten, die ständig unterwegs sind, während die Redaktionen meist mit der Produktion beschäftigt sind. Ich selbst bin ja auch in einer Führungsposition, versuche mir aber zu bewahren, immer wieder rauszugehen. Nicht nur zu irgendwelchen Hintergrundgesprächen in Berlin, wo man dann wieder im selben Milieu unterwegs ist. Ich war gestern zum Beispiel in meiner Heimat in Westfalen bei einer Beisetzung. Da hat mich der Witwer angesprochen und gesagt: „In der Demokratie können wir die Leute abwählen, im Journalismus können wir das nicht.“ Das ist eine interessante Aussage, auf die ich eine Antwort geben muss.
 

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Würden Sie mir Recht geben, dass die Mehrheit der Journalisten in Deutschland links ist? Oder von sich selbst jedenfalls behaupten würden, dass sie links sind?

Ich würde ihnen nicht Recht geben, weil ich es tatsächlich nicht weiß. Es gibt diesen Eindruck, und der wird immer wieder geschildert. Aber ich frage mich, ob das in der Summe des Journalismus stimmt oder ob es nur ein Eindruck ist, der durch bestimmte Medien und durch bestimmte Diskurse entsteht. Auch da würde ich jetzt wieder sagen: Niemand muss die eigene Biografie teilen. Es geht mich nichts an, welche Partei meine Kollegin wählt. Die Frage ist, ob ich meinen Job richtig mache; ob ich in der Lage bin, alle einzuladen, abzubilden und auch in gleicher Weise fair zu behandeln. Das ist pures journalistisches Handwerk.

Und dann finde ich es noch wichtig, dass wir in den Kommentaren eine große Abwechslung haben. Wenn wir feststellen, dass wir in einem Medium vielleicht Schlagseite haben, dann müssen wir gegensteuern. Das muss kein Schema F sein, heute der SPD-nahe Kommentar, dafür morgen der CDU-nahe Kommentar. Da sind wir auch wieder beim Thema Männer und Frauen übrigens. Ich lege viel Wert darauf, dass wir Expertinnen und Politikerinnen ins Programm bekommen, um auch darüber mehr Vielfalt abzubilden. Mag sein, dass die dann politisch immer noch die gleiche Meinung haben, aber die Chance für mehr Vielfalt ist deutlich größer. 

Aber Sie würden jetzt nicht ernsthaft behaupten, dass die politischen Meinungen ausgeglichen sind beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder insbesondere beim Deutschlandfunk, wo Sie hauptberuflich arbeiten?  

(überlegt länger) Ich glaube, dass wir diese Vielfalt über die Gesamtprogramme haben. Doch, das würde ich schon sagen. 

Wirklich?! 

Ja, wir können auf die Kommentare schauen, aber davon haben wir gar nicht so viele. Die entscheidende Frage ist doch, wen laden wir ein als Expertinnen und Experten, als Politikerinnen und Politiker? Ich bin verantwortlich für viele hintergründige Formate, und die sind journalistisch ausgewogen, redlich, handwerklich sauber gemacht. Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen. Aber es ist nicht in meiner Verantwortung, den Kolleginnen und Kollegen zu sagen, wie sie zu kommentieren haben. Ich habe auch schon in den „Tagesthemen“ kommentiert und bin da von niemandem beeinflusst worden. Da ist eine große Freiheit. Wenn Sie als Zuschauer das Gefühl haben, da gibt es eine bestimmte Schlagseite, dann kann dieses Gefühl übrigens auch daher kommen, dass Sie sich über eine bestimmte These besonders aufregen. Wir haben keine Daten dazu. 

Sie gendern im Deutschlandfunk ziemlich konsequent. 

Alle haben die Möglichkeit, alle Formen zu benutzen. Das generische Maskulinum ist tatsächlich weniger geworden. Was aber auch davon abhängt, wer zu uns ins Interview kommt. Ich sage aber auch, dass wir aufpassen müssen, was wir machen. Es wird teilweise falsch gegendert, und dann wundere ich mich nicht, dass sich Menschen darüber aufregen. Wir als Journalistinnen und Journalisten stehen auch dem Publikum gegenüber in der Verantwortung, dass wir sauber mit Sprache umgehen, dass wir sehr präzise sind. 

Haben Sie ein Beispiel? 

Wenn ein Kollege und eine Kollegin zu mir ins Studio kommen, dann sollte ich nicht sagen: „Ich begrüße meine Kolleg*innen.“ Denn weder ist eine nicht-binäre Person dabei, noch sind mehrere Frauen da. Ich würde das auch nie historisch rückwärtsgewandt machen, also beispielsweise von „Gastarbeiter*innen“ sprechen. Denn uns ist nicht bekannt, dass es in der Gastarbeitergeneration Menschen gab, die nicht-binär waren. Jetzt heißt es in der Theorie: „Aber da gab es bestimmt welche.“ Ich sage: Das müssen die jeweiligen Personen von sich selbst behaupten, alles andere ist etwas Übergestülptes. Auch die deutschen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten sind alle eindeutig als Frauen oder Männer zu erkennen. Da brauche ich kein Sternchen zu verwenden. Viele im Journalismus und in der Gesellschaft benutzen jetzt das Sternchen als Abkürzung für Mann und Frau. Ich finde, das tut der Sache nicht gut. 

Sind Studierende, die in der Kneipe sitzen, noch Studierende? 

Sind Auszubildende, die in der Kneipe sitzen, noch Auszubildende?  

Moment. „Auszubildende“ ist etwas Passives, weil diese Menschen ausgebildet werden. „Studierende“ leitet sich aber von einer zum Zeitpunkt stattfindenden Aktivität ab.  

Aber sie könnten auch studieren, während sie in der Kneipe sitzen. Also: Wir haben ein paar Formen, wo es immer wieder darum geht, ob wir die Tätigkeitsform verwenden müssen. Es ist aber der Versuch, nicht immer Studentinnen und Studenten zu sagen, und viele nehmen diese Form an und finden sie in Ordnung. Ich höre aus Ihrer Frage, dass Sie diese Form nicht in Ordnung finden. Dann benutzen Sie sie nicht. Sie können auch „alle, die an der Uni studieren“ sagen. Dann haben Sie auch alle gemeint. Wir haben so viele Möglichkeiten in der deutschen Sprache, damit umzugehen. Wogegen ich mich zur Wehr setze, ist, Sprache lustlos zu verwenden. Das haben wir aber auch an anderen Stellen: Bei der falschen Verwendung von so kleinen Wörtchen wie für, an, von und so weiter. Die werden auch oftmals falsch kombiniert. Und der Genitiv ist ebenso ein Riesenthema. Da schaudert es mich auch, wenn inkorrekt der Dativ verwendet wird. 

Ich finde diese gekünstelte Sprache, die da teils verwendet wird, sehr elitär – und eine bestimmte Verwendung von Sprache ist auch ein politisches Bekenntnis. Ich weiß, dass auch Sie kein großer Freund – oder Freundin! – davon sind, wenn sich Journalismus und Aktivismus vermischen. Was aber, wenn ich durch die Verwendung einer bestimmten Sprache bereits vom Journalismus in den Aktivismus übergehe? 

An vielen Stellen ist es eine Frage erstens der Präzision und zweitens der Höflichkeit. Wir sind im Journalismus alle für unser Publikum da. Und wenn ich weiß, wer mein Publikum ist, kann ich auch die entsprechende Formulierung wählen. Besteht das Publikum nur aus Ärzten oder sind auch Ärztinnen dabei? Und wenn ich mich in einem Milieu bewege, in dem es selbstverständlich geworden ist, das Wort „Studierende“ zu verwenden, dann ist es auch nicht gekünstelt. Wenn ich in meiner Heimat bin, dann spreche ich vielleicht nicht von „Studierenden“, sondern sage: „Ich habe Menschen getroffen, die an der Humboldt-Universität studieren.“ Das ist doch auch die Freude am Journalismus, dass wir mit Sprache umgehen können und uns immer wieder überlegen: Mensch, gibt es da nicht noch eine bessere Formulierung? 

Ich bin mittlerweile ja in den inneren Widerstand gegangen und lese grundsätzlich keine Texte mehr, in denen ein Gendersternchen verwendet wird. Ehrlich gesagt auch, weil mich das intellektuell unterfordert. Ich glaube zudem, dass man den Menschen da draußen zutrauen kann, dass sie kapieren, dass der Begriff „Ärzte“ nicht nur Männer meint. Mir geht es auch um den pädagogischen Anspruch, der im Gendern steckt. Ich weiß nicht, ob sich Journalisten einen Gefallen tun, wenn sie dem Rezipienten signalisieren: „Naja, wir müssen das halt ein bisschen anders formulieren, damit du es auch kapierst.“ 

Ich würde sagen, ich formuliere es aufgrund meiner Recherche anders, weil ich herausgefunden habe, ob es sich um eine ausschließlich männliche oder eine gemischte Gruppe handelt. Ich bin übrigens auch keine Freundin des generischen Femininums. In „Journalistinnenbund“ steckt drin, was draufsteht: Frauen in den Medien. Wir meinen keine Männer mit. Und das ist das Problem mit dem generischen Maskulinum. Das hat lange funktioniert, da die wenigen Frauen, die in vorher ausschließlich männlich zusammengesetzte Gruppen hineingekommen sind, stolz waren, nun auch Teil dieser Gruppe zu sein.

Heute haben wir aber den Anspruch, zu wissen: Sind jetzt ausschließlich Soldaten gerade im Einsatz in Mali oder auch Soldatinnen? Und wenn eine nicht-binäre Person Wert darauf legt, als nicht-binäre Person wahrgenommen zu werden, weil ihr das wichtig ist, ist es auch Teil der journalistischen Sorgfaltspflicht, das Sternchen zu verwenden. Aber nochmal: Ein Sternchen irgendwo einzubauen, ohne zu wissen, ob sich in einer Gruppe auch non-binäre Menschen befinden, halte ich für falsch. 

Aber Sie sehen schon die Gefahr, dass übertriebenes Gendern, überbertriebene politische Korrektheit – Stichwort interne Sprachanweisung an Berliner Polizisten – genau den unerwünschten Effekt bewirken kann? Dass Menschen, wie ich beim Gendersternchen, eine massive Abwehrhaltung entwickeln, die vorher nicht da war?

Die Gefahr besteht. Und ich glaube, das ist immer so in Phasen, in denen wir etwas ausprobieren. Sprache hat sich immer verändert. Diejenigen, die Sprache dann anders benutzt haben, neue Wörter eingeführt haben, haben auch zuerst irritiert. Und aktuell sind wir eben damit konfrontiert, dass Menschen für sich sagen: „Ich möchte, dass ihr das so und so benennt, aus diesen und jenen Gründen.“ Ich bin ein höflicher Mensch, deshalb sage ich: Wenn nicht-binäre Menschen da sind, dann verwende ich auch das Sternchen. Das Gleiche gilt für bestimmte Begriffe. Natürlich kann es passieren, dass man das zu radikal macht und anderen damit vor den Kopf stößt. Da müssen wir im Journalismus aufpassen. Aber es gibt zum Beispiel gute Gründe, von „People of Color“ zu sprechen und nicht mehr von „Farbigen“. 

Themawechsel: Ich habe gestern einen Text über Christian Drosten geschrieben. Der hat die Pandemie jetzt für beendet erklärt und damit eine breite Debatte über ein schnelles Ende aller Maßnahmen angestoßen. Reichlich spät, jedenfalls später als andere Experten, die das schon vor Monaten getan haben. Ergo: Drosten wurde von großen Teilen der Medien einfach zum Häuptling „Hat immer recht“ erklärt. Hat der Journalismus einen halbwegs sauberen Job in der Pandemie gemacht? 

Ich weiß ja, dass Sie sich daran immer gestört haben. 

Woran? 

An Drosten und wie die Medien mit der Corona-Pandemie umgegangen sind. 

Da ist so, ja. 

Ich glaube, dass wir alle aus einem Zustand des Zu-wenig-Wissens gekommen sind und dann Gott sei Dank den Wissenschaftsjournalismus neu entdeckt haben. Drosten war deswegen so beliebt in den Medien, weil er es als erster vermocht hat, sehr viele Informationen darzustellen. Etwa in seinem berühmten Podcast. Aber es sind auch andere Virologinnen und Virologen und andere politische Stimmen immer wieder zu Wort gekommen. Dass wir alle zunächst nicht wussten, was es mit dieser Pandemie auf sich hatte, hat eben dazu geführt, dass wir uns gemeinsam vorgetastet haben. 

Eine Lehre aus der Pandemie muss deshalb sein, dass wir in allen Medien die Fachredaktionen stärken und Leute haben, die solche Studien lesen und bewerten können. Also Leute, die wissen, wovon sie reden. Da geht es mir nicht nur um Meinung. Was mich als Journalistinnenbund-Vorsitzende gestört hat, war, dass zu schnell zu viele Frauen nicht mehr präsent waren. Mein Eindruck war, dass wir schnell zu einer sehr männlichen Sicht auf die Probleme gekommen sind. Sie haben offensichtlich den Eindruck, dass es während der Corona-Pandemie im Journalismus eine sehr politische Ausrichtung gab. Mein Eindruck war, dass wir ein Ungleichgewicht bei männlichen und weiblichen Stimmen hergestellt haben.  

Wenn der Großteil der etablierten Virologen in Deutschland Männer sind, ist es doch nur logisch, dass mehr Männer während der Corona-Pandemie zu Wort gekommen sind: Drosten, Streeck, Stöhr, Schmidt-Chanasit und so weiter. 

Warum sind die etabliert? Haben wir Medien vielleicht auch dafür gesorgt, dass sie etabliert sind? 

Weil sie eine gewisse Biografie vorweisen können. Jetzt bringen Sie mich übrigens in die unangenehme Situation, dass ich Christian Drosten verteidigen muss. Aber er ist eben Leiter der Virologie an der Berliner Charité. Oder nehmen wir Klaus Stöhr, der früher das Globale Influenza-Programm der WHO geleitet hat. Wenn ich Informationen über ein Virus möchte, dann frage ich eben jene Virologen, die sich auskennen – unabhängig vom Geschlecht. 

Ich bin keine Wissenschaftsexpertin, aber das ist immer das Argument, das uns vorgehalten wird als Frauen: dass es nicht so viele Expertinnen gebe. Und die Fragen sind: Warum sind diese Frauen noch nicht in diesen Positionen? Warum haben sie noch nicht die Biografie oder warum wurden sie noch nicht entdeckt? Da geht es auch um Bilder, auch in der Pandemie. Wie oft wurde die Frau zuhause mit dem Kind gezeigt, wie oft der Mann?

Auch im Ukraine-Krieg wieder: Viele Männer in Uniform, Frauen, oft ältere Frauen mit Kopftuch dagegen, die in den Trümmern stehen. Wir sprachen eben von Vielfalt. Die müssen wir auch abbilden. Sicher, es sind meistens Männer, die kämpfen, aber es gibt auch Frauen, die das tun. Und zum Thema Corona und Journalismus: War in den Redaktionen denn die Sorgearbeit gerecht verteilt? Ich habe keine Zahlen dazu, aber darauf müssen wir gucken. 

Vielleicht zeigt sich in ihrem Blick und meinem Blick auch eine Generationenperspektive. Wenn ich mich in meinem Freundeskreis umsehe, war, so mein Eindruck, die Sorgearbeit während der Corona-Pandemie mehr oder weniger gerecht verteilt. Das ist das eine. Das andere ist: Sie sagten gerade, es würden vor allem Bilder von Männern im Ukraine-Krieg gezeigt. Das ist so. Aber es sind eben auch die Männer, die daheim bleiben mussten, um zu kämpfen. Insofern bildet das die Realität ab. 

Ich bin selbst nicht vor Ort gewesen, aber ich habe wahrgenommen, dass es offensichtlich auch Frauen gibt, die dort geblieben sind, die im Sanitätsdienst sind, teilweise auch in den kämpfenden Einheiten. Oder sie arbeiten in der Logistik, in der Computertechnologie und so weiter. Dieses Narrativ habe ich aber nur sehr langsam wahrgenommen. Und das passiert uns im Journalismus öfter: dass wir das erste Bild zeigen, aber nicht das zweite. Es ist schon klar, dass es mehrheitlich Männer sind, die in der Ukraine kämpfen. Doch Selenskyjs Stellvertreterin zum Beispiel ist eine Frau (die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin Irina Wereschtschuk; Anm. d. Red.). Von ihr höre und sehe ich aber kaum etwas. 

Interessanterweise war es während der Flüchtlingskrise ganz anders. Es kamen weit überwiegend junge Männer nach Deutschland, gezeigt wurden aber vielfach vor allem Frauen und Kinder. Woran liegt das? 

Da müssen wir uns dann gewisse Fragen stellen im Journalismus. Wer wird fotografiert? Wer wird gefilmt? Und warum eigentlich? Von einem Ereignis werden hunderte Fotos gemacht, aber nur eines wird dann gedruckt. Warum wählt eine Redaktion dieses Bild aus? Ich bin mit einem Kamerateam mal nach Uganda geflogen. Mein Kamerateam begann am Rande der Schotterpiste, auf der wir gelandet waren, sofort, sich mit den Männern anzufreunden, obwohl die Trägerinnen des Fortschritts in diesem Projekt, das wir besuchten, die Frauen waren. Da habe ich gesagt: Wir werden diese Frauen bitte nicht von oben filmen, wie sie auf dem Boden sitzen, sondern auf Augenhöhe. Das ist etwas, was wir im Journalismus machen müssen: Sehr genau wahrnehmen und nicht mit unseren Bildern im Kopf arbeiten. Wir müssen immer hinterfragen, was tun wir hier gerade? Und bevor Sie mir das vorwerfen: Ich will die Wirklichkeit nicht verändern. Ich will die Wirklichkeit überall präzise wahrnehmen. Von der Sprache bis zu den Bildern.

Friederike Sittler / Imago Images

Nochmal zurück zur Corona-Berichterstattung: Sie sagten, der Journalismus musste sich in dieser neuen Situation langsam vortasten. Da bin ich bei Ihnen. Vorausgesetzt allerdings, diese Feststellung wird nicht als Ausrede genutzt, warum viele Journalisten einfach einen schlechten Job gemacht haben. Ich sehe das so: Viele Journalisten haben sich lieber kritisch mit den Kritikern beschäftigt, statt mit den Regierenden. Man hat Menschen in Schubladen gesteckt, sie diffamiert – und insgesamt ein Gut-Böse-Schema kultiviert. Das war nicht neu, das haben wir bereits während der Flüchtlingsdebatte genau so erlebt. Muss der Journalismus nicht endlich aufhören, Leuten irgendwelche Etiketten aufzupappen, weil sie sich zum Beispiel – aus guten oder schlechten Gründen – nicht impfen lassen wollen? 

Ich würde gerne die Anteile von schlichten Berichten und Fakten einerseits und Meinungen andererseits verschieben. Vielleicht können wir uns an der Stelle annähern. Egal, ob Sie für Cicero schreiben, wir Rundfunk machen oder was auch immer die Frauen in unserem Verein machen: Es ist unsere Aufgabe im Journalismus, zu erklären, zu übersetzen, nachzufragen und dem Publikum die Fakten an die Hand zu geben.

Es gab zum Beispiel diese wahnsinnigen nächtlichen Treffen im Kanzleramt. Die Ergebnisse standen einfach so im Raum. Und wir alle haben uns vermutlich gefragt, als wir diese hörten: Was heißt das denn? Journalistisch müssen wir nachfragen: Können die Behörden überhaupt umsetzen, was dort beschlossen wurde? Um dann wieder die Politik zu fragen: Warum habt ihr das entschieden, obwohl die Behörden das gar nicht umsetzen können? Ich möchte dahin zurück, dass im Journalismus wieder mehr Fragen gestellt werden und wir uns weniger darauf konzentrieren, ob ein Politiker nun gut performt hat oder nicht. 

Geben Sie mir denn wenigstens Recht, wenn ich sage, dass sich viele Medien zu verlängerten Sprachrohren der Corona-Politik haben degradieren lassen? Die „Tagesschau“ hat jeden Abend Inzidenzzahlen vorgelesen, ohne diese sinnvoll einzuordnen. Viele Journalisten waren redlich bemüht, den Kritikern der Corona-Politik eine schlechte Gesinnung zu unterstellen. Und es gab zahlreiche TV-Beiträge, wo nur jene Demonstranten vor die Kamera geholt wurden, wo ich aus 200 Metern schon sehe, dass das die größten Idioten am Platz sind. Gleichzeitig kamen jene mit echten Ängsten, mit begründeter Kritik kaum zu Wort. Sehe ich das zu negativ?   

Ich kenne diese Geschichten, dass vor Ort explizit die Leute ausgewählt wurden, die zum Narrativ „Idioten“ gepasst haben. Ich war nicht dabei und kann das entsprechend auch nicht beurteilen. Wenn es so war, wäre das schlecht. Der Pauschalität Ihrer Aussage, die Medien hätten sich zum Sprachrohr der Corona-Politik gemacht, stimme ich nicht zu. Da war die ganze Zeit der Versuch, bestmöglichen Journalismus zu machen. Die Inzidenzen zum Beispiel galten lange als entscheidende Zahlen.

Aber ich bleibe bei der These: Wir müssen gründliche Recherche wieder stärker umsetzen, das, was guten investigativen Journalismus ausmacht. Nicht nur abbilden, sondern recherchieren. Da sind wir dann wieder beim Handwerk. Und vielleicht sollten wir im Journalismus uns auch nicht an zu vielen Stellen allzu wichtig nehmen, sondern wieder mehr Dienstleister für unser Publikum sein. 

Gibt es genügend Meinungspluralismus im Journalismus? 

Also ich finde schon, dass wir in Deutschland sehr viele unterschiedliche Meinungen haben. Die Frage, ob Kommentare ausgeglichen sind, ist eine andere. Da kommt es dann darauf an, wie das Blatt ausgerichtet ist. Gucken Sie sich zum Beispiel mal Lokalzeitungen an. Die Frage ist dann immer, ob wir genügend Meinungspluralismus an allen Stellen hinbekommen. In der Gesamtheit würde ich sagen: ja. Wenn das bei den Kommentaren nicht der Fall ist, dann müssen wir in den Redaktionen eben gegensteuern.

Wir haben ja auch ungehinderten Zugang zu sehr vielen Quellen. Aber da brauchen wir auch in den Schulen zum Beispiel Fächer wie Medienpädagogik oder solche, die sich mit Quellenarbeit befassen. Wenn etwas aufpoppt auf dem Smartphone, muss der Reflex sein: Gut, das ist die eine Quelle, wo ist die andere Quelle? Wir haben im Journalismus doch mal gelernt, dass ich mindestens zwei Quellen brauche, bevor ich auf Sendung gehe oder drucke.  

Könnten Sie mir aus dem Stand zwei Kollegen beim Deutschlandfunk nennen, die konservativ sind? 

Das könnte ich, aber das tue ich nicht. 

In Ordnung. Als wir uns vor über einem Jahr das erste Mal unterhalten haben, musste ich leider zur Kenntnis nehmen, dass mir Ihr Verein die Hedwig-Dohm-Urkunde für meine Lebensleistung wohl nie verleihen wird, weil ich ein Mann bin. Bleiben Sie dabei? 

Ja. Erst, wenn wir gleichberechtigt sind, dann machen wir sie für alle offen. Wenn wir das ganz schnell hinkriegen, dann kann ich Ihnen Hoffnung machen. 

Einverstanden. Wie lange dauert das noch mit der Gleichberechtigung? 

Das frage ich Sie. Ich bin ja diejenige, die das sofort umsetzen würde, aber ich brauche noch ein paar andere, die mithelfen. Und dann haben Sie die besten Chancen. Vielleicht werden wir auch als Duo ausgezeichnet. 

Das würde mir gefallen, Frau Sittler. Vielen Dank für Ihre Zeit. 

Gerne. 

Das Gespräch führte Ben Krischke. 

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