Kurz und Bündig - Josef Haslinger: Zugvögel

Josef Haslingers Erzählungen kommen porentief authentisch daher, als ginge es in der Literatur immer noch um Erfahrung, die von Mund zu Mund geht: «franz lud mich auf einen selbst gebrannten obstler ein. wir setzten uns und begannen von alten zeiten zu reden.» Leben pur, wenn auch in konsequenter Kleinschreibung – damit das Konven­tio­nel­le nicht so konventionell aussieht. In «der sandler» besucht der Erzähler die Mutter eines Jugendfreundes.

Josef Haslingers Erzählungen kommen porentief authentisch daher, als ginge es in der Literatur immer noch um Erfahrung, die von Mund zu Mund geht: «franz lud mich auf einen selbst gebrannten obstler ein. wir setzten uns und begannen von alten zeiten zu reden.» Leben pur, wenn auch in konsequenter Kleinschreibung – damit das Konven­tio­nel­le nicht so konventionell aussieht. In «der sandler» besucht der Erzähler die Mutter eines Jugendfreundes. Das Gespräch dreht sich um ihr Lebensthema: den verlorenen Sohn, der mit fünfzehn aus­riss und nie wiederkam. Als Ma­trose hat er sich durchgeschlagen, dann wurde er im Wie­ner Obdachlosenmilieu gesich­tet. Die alte Frau erhofft sich von ihrem Gast Neuigkeiten vom «loisl». Und er kann es ihr nicht abschlagen, beginnt zu erfinden, eine anrührende Geschichte über eine zerstörte Familie, in der sich der Par­lando-Ton bewährt. Mit lakonischer Anteilnahme leiht Josef Haslinger fremden Schicksalen, fremdem Unglück sein Ohr. Viele Reminiszenzen der siebziger Jahre finden in dieser Geschichte ihren Platz: Bücher­regale aus Ziegelsteinen, Matratzen auf dem Fußboden als Liebeslager, Demos, besetzte Häuser und Rockmusik, die damals noch nicht Beschallung für den Mittelstand, sondern Protestkultur war. Nichts Neues, das alles. Man liest es und hat es gleich wieder vergessen. Deutlich besser ist «katzen­musik». Hier fährt der Erzähler in die tiefste ostdeutsche Provinz, um einen Rockmusiker zu besuchen, für den er ein paar Liedtexte geschrieben hat. Er kehrt ein in merkwürdigen, gastabweisenden Gaststuben. Schließlich steht er in der verwüsteten Wohnung des Mu­sikers – und bekommt es mit zwei Ortsansässigen zu tun, die sich als Sheriffs aufspielen. Und es dem vermeintlichen Dealer einmal zeigen wollen. Sie zerren ihn in ein Auto und fahren mit ihm zu einer verlassenen Industrieruine, wo den Erzähler die Todesangst packt. Der Realismus Haslingers kippt in dieser beklemmen­den Story fast ins Surreale. Noch mehr gilt das für «die schlacht um wien». Da reist ein Feldwebel des Zweiten Welt­kriegs zu einem Kameradschaftstreffen nach Wien und irrt schwitzend durch die Innenstadt. Er stolpert über eigene Erinnerungen und Ängs­te. Noch kurz vor der Kapitulation hatte er mit einer Panzerfaust einen desertierenden Jungen erschossen; mit grässlich ausgefranstem Loch in der Brust kehrt die Leiche wieder. Nebenbei berichtet der Ich-Erzähler, wie er während eines Gewitters seinen Balkon aufräumt – offenbar ein Pa­rallelgeschehen der Vergangenheitsbewältigung. Seit «Opernball» (1995) gilt Haslinger als «amerikanischster» unter den deutschsprachigen Autoren: als jemand, der in unkom­pli­zier­ten Sätzen spannende Geschichten erzählt. Kaum zufällig beschließt den Band denn auch ein Reisebericht aus Amerika. Als Erzählung überzeugt er nicht. Deshalb liegt dem Buch in der Erstauflage eine CD bei, auf der man sich das «reiseepos» angemessen zu Gemüte führen kann: vom Autor gelesen, mit Posaunen-Jazz von Bertl Mütter und Werner Puntigam zugkräftig untermalt. Ein Erlebnis mit einem Polizisten und einem Budweiser Bier in der Wüste trägt Haslinger sogar als Rap vor. Hörenswert.

 

Josef Haslinger
Zugvögel
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2006. 205 S. und 1 CD, 18,90 €

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