Bücher des Monats - Jenseits des Lustprinzips

Warum eine Biografie über die Wissenschaftlerin Sabina Spielrein zeigt, dass der psychoanalytische Machtapparat nicht nur Ideen verdrängte, sondern auch Menschen

Die Psychoanalyse, das weiß man seit ihren Gründungsschlachten, hat eine ebenso faszinierende wie dubiose Fallgeschichte: In der psychoanalytischen Bewegung scheint sich seit dem Zerwürfnis zwischen Sigmund Freud und C. G. Jung geradezu zwanghaft das zu wiederholen, was die frühen Theoretiker über die Prozesse des Unbewussten zutage förderten. Ein herrschsüchtiger Urvater, rivalisierende Kronprinzen, schmerzhafte Sezessionen und Damenopfer kennzeichnen eine Wissensgemeinschaft, die paradoxerweise bestens über die eigenen Forschungsantriebe im Bilde ist. Auf der Bühne der Psychoanalyse spielen sich genau die Dramen ab, die gerade erst im Seelenleben erforscht werden. Und nicht immer lassen sich die Entdeckungen in der Weise beherr­schen, wie es die Zauberformel «Wo Es war, soll Ich werden» vorsieht.

Sabina Spielrein, die zuerst Patientin, dann Schülerin, dann Geliebte und schließlich Kollegin von C. G. Jung war, ist insofern die Paradefigur eines Wissens, das sich selbständiger gemacht hat, als die männlich-ärztlich-familiale Ordnung das einkalkulieren konnte. Als die junge Russin 1904 mit allen Anzeichen der damaligen Modekrank­heit Hysterie in die Zürcher Irrenanstalt, das Burghölzli, eingeliefert wird, praktiziert dort ein Assistenzarzt, der darauf brennt, die revolutionäre Behandlungsmethode namens Psychoanalyse zu erproben.


Ein geheimnisvoller Koffer

Dass die Patientin gebildet, sprachbegabt und behandlungswillig ist, begünstigt Jungs therapeutische Erfolge; dass sie gut aussehend und sympathisch ist, verstärkt wohl noch die gegenseitige Anziehung. In den frühen Tagen der Psychoanalyse war das Konzept von Übertragung und Gegen­übertragung noch nicht ausgereift; und Jungs Liebesaffäre mit Spielrein sollte für Freud einer der Anlässe werden, die Beziehung des Analytikers zum Analysanden zu überdenken.

Doch es wäre fatal, Sabina Spielrein lediglich als Objekt einer machtverliebten Methode, als «Frau zwischen Freud und Jung» zu sehen, die auch als Analytikerin mit eigenständigen theoretischen Ansätzen nie in den innersten Zirkel der Bewegung vordringen konnte. Die begabte Wissenschaftlerin leistete Pionierarbeit auf dem Gebiet der kindlichen Psyche, und ihre Schrift über «Die Destruktion als Ursache des Werdens» (1912) nahm einiges von dem vorweg, was Freud später im Konzept des Todestriebs entwickelte.

1977 taucht im Keller des ehemaligen Genfer Psychologischen Instituts ein Koffer mit Sabina Spielreins Tagebüchern und Briefen auf, der zur langsamen Wiederentdeckung dieser vergessenen Schlüsselfigur der Psychoanalyse führte: In den letzten zwanzig Jahren sind nach und nach nicht nur ihre sämtlichen Schriften wieder aufgelegt, sondern auch mehrere Studien zu Spielreins Rolle und Werk publiziert worden. Sabine Richebächer hat nun eine sehr gut lesbare Biografie geschrieben, die den historischen Kontexten der frühen psychoanalytischen Bewegung auf der Spur ist und jenseits der Psychoanalytikerin Spielrein deren kompliziertes Hin und Her zwischen Orten und Menschen ebenso wie ihr schreckliches Ende beschreibt.

Sabina Spielrein wird 1885 als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren und wächst in Rostow am Don auf, der prosperierenden südrussischen Handelsmetropole am Asow­schen Meer. Ihr Vater verlangt viel von Sabina und ihren Brüdern: Zu Hause wird neben Russisch, Polnisch und Jiddisch auf seinen Befehl hin auch Deutsch und Französisch konversiert; und im Mädchengymnasium muss sie immer die Klassenbeste sein.

Ihre glanzvolle Karriere als Ärztin – auch Sabinas Mutter ist Zahnärztin – wird von der Familie vorgeplant, und so stellen sich die seelischen Beschwerden und Versagensängste gewissermaßen automatisch ein: Sabinas Nerven sind angegriffen, und auf der Suche nach Abhilfe reist die Mutter mit ihr in die Schweiz – dass die Hysterie als besonders «weibliche» Krankheit um 1900 auch eine Fluchtmöglichkeit aus beengenden Familienverhältnissen eröffnet, bedeutet nicht, dass die Leiden nicht echt gewesen wären.

Im Burghölzli löst sich die junge Frau von ihren Ängsten und beginnt, die Mecha­nismen dessen zu beobachten, was ihr selbst geholfen hat. Sie liest psychiatrische Fachliteratur, darf an den Krankenbesuchen der Ärzte teilnehmen und entschließt sich, in Zürich Medizin zu studieren, ausgerüstet mit einem Empfehlungsschreiben des An­stalts­direktors Bleuler. Währenddessen wächst die emotionale Nähe zu Jung, der ihr versichert: «Sie glauben nicht, wie viel mir die Hoffnung bedeutet, einen Menschen lieben zu dürfen, den ich nicht verdammen muß und der sich nicht verdammt dazu, in der Alltäglichkeit der Gewöhnung zu ersticken.»

Doch als seine Ehe ernsthaft in Gefahr gerät, vollzieht Jung den Bruch und schwärzt Sabina bei Freud an. «Aus machtpolitischem Kalkül und im Bestreben, jeden öffentlichen Skandal um die Psychoanalyse zu vermeiden», schreibt Sabine Richebächer, «planen Freud und Jung ein Damenopfer. Sabina Spiel­rein wird fürs erste an der Nase herum­geführt, pathologisiert, beschwichtigt.» Über ihre später erscheinenden Schriften äußert Jung sich beim Wiener Gründer­vater so gön­nerhaft-abfällig, dass damit eine mögliche Konkurrentin schon frühzeitig aus dem Rennen geworfen wird.


Forschen im I. Weltkrieg

Sabina Spielrein heiratet einen russischen Arzt, arbeitet in Berlin, Lausanne und Genf, trennt sich von ihrem Mann und muss sich während des Ersten Weltkriegs allein mit ihrer kleinen Tochter durchschlagen. Das Geld der Familie erreicht sie im Ausland nicht mehr, zeitweise hungert sie und übernimmt Näharbeiten, weil sie von der Wissenschaft nicht leben kann. Sabine Richebächer entwirft das Bild einer Frau, die nirgends richtig Fuß fasst und dennoch unbeirrbar an ihren wissenschaftlichen Projekten festhält: Spielrein ist mittlerweile Freudianerin, hat aber – im Gegensatz zu ihren machtpolitisch versierteren Kollegen – nach dem Streit zwischen Jung und Freud den Kontakt zu ihrem einstigen Lehrer Jung nicht abgebrochen.

Als sie 1923 (mit großen Vorbehalten, aber gedrängt von ihrer besorgten Familie) in die Sowjetunion zurückkehrt, beginnt ein Leben jenseits der internationalen Kongresse, Vorträge und Veröffentlichungen, abgetrennt von den psychoanalytischen Lichtgestalten. Richebächers Biografie leuch­tet auch diesen kaum untersuchten Lebens­abschnitt sorgfältig aus und fasst dabei die kurze, groteske und schließlich bedrückende Geschichte der sowjetischen Psycho­analyse zusammen: Weil Lenin nach schnellen wissenschaftlichen Erfolgen sucht, erleben manche psychologische Strömungen einen kometenhaften Aufstieg.


Psychoanalyse auf Russisch

Der Neue Mensch mit seinem am Kollektiv orientierten Ich will herangezüchtet sein, Fachrichtungen wie die Psychotechnik, die den Arbeiter mit der Maschine koordinieren soll, schießen mit Hunderten von Instituten aus dem Boden. Sabina Spielrein arbeitet im Moskauer Leitungsstab der neuen Psychoanalytischen Poliklinik, sitzt in allen wichtigen Ausschüssen und betreut ein Kinderheim, das nach revolutionären Erziehungsregeln geführt wird.

Doch Stalin macht der kurzen wissenschaftlichen Blüte ein Ende, und schon zu Beginn der dreißiger Jahre gilt die Psy­choanalyse als bourgeoises und damit reak­tionäres Instrumentarium, das bei den Sow­jets nichts zu suchen hat. 1937, während des Höhepunkts der Großen Säuberungen, werden alle Brüder Spielreins wegen «konterrevolutionärer Umtriebe» erschossen; sie selbst arbeitet hart als Ärztin, um das Überlebensnotwendige zusammenzukratzen. Sabine Richebächers Buch verdeutlicht eindrucksvoll, wie sich eine Wissenschaftlerin, gegen die Widerstände der männlichen Gründerfiguren, ihren Platz in der Psychoanalyse erkämpft hat; die Biografie zeigt aber auch, wie dieses kompromisslose Berufsleben – «Eine fast grausame Liebe zur Wissen­schaft» heißt es zutreffend im Untertitel – von zwei Diktaturen zunichte gemacht wird.


1942 wird Rostow am Don von deutschen Truppen eingenommen. Ein Sonderkommando ermordet die Juden der Stadt in einer Täuschungs-Aktion: Plakate, die vom jüdischen Ältestenrat unterschrieben sind, fordern auf, sich aus Sicherheitsgründen an bestimmten Plätzen zu versammeln – wo die Lastwagen des «SK 10a» warten, die Tausen­de von Menschen zur Erschießung abtrans­portieren. Hier verlieren sich auch die Spuren der Sabina Spielrein.

 

Sabine Richebächer
Sabina Spielrein. «Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft». Biographie
Dörlemann, Zürich 2005. 400 S., 24,90 €

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