Ich, der Nazi-Bastard

„Verfluchte Kinder“ nennt man sie in Frankreich: die Nachkommen deutscher Besatzer im Zweiten Weltkrieg. Erst jetzt wird dieses heikle Kapitel der deutsch-französischen Geschichte aufgearbeitet. Ein exponierter Tabubrecher ist der populäre Schauspieler Richard Bohringer.

Richard Bohringer, Schauspieler und Schriftsteller, hat ein von Kummer gezeichnetes Gesicht, sein Blick ist düster, seine Stimme rau. Man trifft ihn oft in der Bar des Lutetia, jenes Pariser Luxushotels, in dem das deutsche Kommando Quartier bezogen hatte. Bohringer hat als Erster ein französisches Tabu gebrochen. Er hat es gewagt, über seine Herkunft zu sprechen, davon, dass seine Mutter ihn in der Kleinstadt Moulins mit einem Wehrmachtsoffizier gezeugt hat. Lange hat Frankreich diese Besatzungskinder totgeschwiegen, bis vor einigen Monaten die unbequeme Erinnerung wieder aufgetaucht ist. Das Jahr 2004 bedeutet einen Wendepunkt im Erinnerungsprozess. Zwar haben unzählige Fernsehsendungen anlässlich des sechzigsten Jahrestages der Libération die Ruhmestat einmal mehr so dargestellt, wie General de Gaulle sie in den Geschichtsbüchern verewigt sehen wollte. Doch auch der eine oder andere lang verdrängte dunkle Fleck ist aufgetaucht. So hat Paris-Match zum ersten Mal Bilder von der verheerenden Zerstörung französischer Städte durch alliierte Bombenangriffe abgedruckt und Sinn und Zweck jener Einsätze zu hinterfragen gewagt. Ein TV-Dokumentarfilm hat, ebenfalls zum ersten Mal, schonungslos Aufnahmen von standrechtlichen Erschießungen aus den ersten Tagen der Befreiung gezeigt. Und in der Flut der zeitgeschichtlichen Gelegenheitsliteratur haben einige Schriften den allgemeinen Jubelgesang durch deutliche Misstöne gestört. In „La France virile“ („Das männliche Frankreich“) beschreibt der Historiker Fabrice Virgili detailliert das Drama der „geschorenen Frauen“. Um die zwanzigtausend waren damals von Männern – Résistance-Angehörigen, Polizisten oder bloßen Passanten – aus ihren Häusern gezerrt und unter dem öbszönen und hasserfüllten Gespött der Menschenmenge kahl geschoren worden. Ihr Verbrechen: ein zu enger Kontakt mit den Besatzern. Erst als Persönlichkeiten wie der Dichter Paul Eluard oder der Schriftsteller Albert Camus die Abscheulichkeit dieser Racheakte anprangerten, ließ man davon ab. Am erschütterndsten aber ist zweifellos das Werk des französischen Journalisten Jean-Paul Picaper, der lange als Korrespondent des Figaro in Berlin gelebt und gemeinsam mit dem deutschen Historiker Ludwig Norz Recherchen über die „verfluchten Kinder“ angestellt hat. Um die zweihunderttausend sollen während des Krieges in Frankreich geboren worden sein. Einige von ihnen waren bereit, von den Erniedrigungen, Beschimpfungen und Lügen zu berichten, die ihr Leben vergifteten. Viele haben versucht oder versuchen noch immer, die Spur des verschwundenen Vaters wiederzufinden, meist mit Hilfe der in Berlin ansässigen WASt (Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht). Einer Reihe von ihnen ist es auf diese Weise gelungen, ihre deutsche Familie ausfindig zu machen. Was an den Berichten verblüfft, ist die Idealisierung der Väter. Die meisten „verfluchten Kinder“ haben ihre Erzeuger in ihrer Vorstellung verklärt. Im Grunde spukt der Gedanke an Deutschland noch immer in ihren Köpfen, aber nicht als verhasstes Land, sondern als eines, das sie selbst im Blut tragen. Freilich muss man wissen, dass es sich bei diesen geschmähten Kindern in aller Regel nicht um die Folgen von Vergewaltigung und Machtmissbrauch handelte. In den ersten Besatzungsjahren legte die Wehrmacht Wert auf einen korrekten Umgang mit der französischen Bevölkerung. Es entstanden viele echte Liebesbeziehungen zwischen den oft charmant auftretenden jungen Soldaten und den meist naiven jungen Mädchen, die, getreu der Vichy-Propaganda, die Deutschen als Verbündete und Freunde betrachteten. Verhütung gab es praktisch nicht, Abtreibung stand unter Strafe. So folgte auf die Schwangerschaft der Albtraum, die doppelte Schande: das uneheliche Kind und der Verrat. Rasch übertrug sich diese Schande auf die Kinder, die nicht begriffen, warum sie von ihren Spielkameraden verachtet und beschimpft, von ihren Lehrern geschmäht und von beschämten Großeltern in oft feindselige Gastfamilien abgeschoben wurden. Eines von ihnen, Daniel Rouxel, erinnert sich an die demütigenden Worte seines Lehrers: „Deutschenbastard (tête de boche), komm an die Tafel!“ oder an die Bemerkung eines Bauern: „Deine Mutter hätte lieber einen Hasen zur Welt bringen sollen, an dem hätten die Jäger ihre Freude gehabt.“ Das Foto seines bei Kriegsende gefallenen Vaters half ihm, in Tagträumen seine Schmach zu ertragen. Später hatte er das Glück, die väterliche Familie kennen zu lernen, die ihn freudig empfing. Den heute Sechzigjährigen ist die Schmach des „verfluchten Kindes“ noch ganz gegenwärtig. Sie reden nur leise über ihr Schicksal, wohl wissend, dass es ihnen besser ergangen ist als anderen Kriegsopfern. Doch die einfachen, unbequemen Wahrheiten, die sie aussprechen, werfen ein neues Licht auf die Geschichte. Schweine gab es auf beiden Seiten. Mitunter rächten sich die Sieger in gemeinster Weise. Nach überwundener Tragödie und Wiederversöhnung könnten jene erschütternden Schicksale eine andere Liebesgeschichte befruchten: die zwischen den heutigen Nachbarn Deutschland und Frankreich. Übersetzung: Maria Hoffmann-Dartevelle Jacques Pilet ist Journalist und Leiter der Medienentwicklung der Schweizer Ringier AG. Er gründete unter anderem die Zeitung Le Nouveau Quotidien (heute Le Temps)

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