Schreiben, Leben und Sterben - "Ich bin eigentlich kein politischer Mensch"

Der Philosoph Michail Ryklin untersucht die untoten Überreste des Sowjet-Imperiums. Und er wehrt sich gegen die Beschneidung der künstlerischen Freiheit im autoritären Putin-Imperium. Ob seine Warnungen im Westen Gehör finden? Ein Besuch in Moskau

Eines Tages hatte Anna Altschuk einen hysterischen Anfall. Gegen ihre Gewohnheit hatte sie ein Glas Calvados getrunken – und plötzlich zuckte sie am ganzen Körper, fiel auf die Knie, flehte Gespenster an, die nur sie sah, bat um Vergebung, dann wieder stürzte sie wütend auf dieselben Gespenster ein, beschimpfte sie als unrein, sie selbst sei doch rein, traumatische Erlebnisse mit ihrer Mutter schwappten hoch, all dies eine endlose Stunde lang. «Das war gleichsam die Mimesis des Volkskörpers, der über Monate Ströme der Gehässigkeit über meine Frau ausgeschüttet hatte.» Schreibt Michail Ryklin.

Zum Zeitpunkt ihres Zusammenbruchs war die Lyrikerin und Künstlerin Anna Altschuk diesen Strömen der Gehässigkeit seit gut anderthalb Jahren ausgesetzt. Vor Gericht wurde ihr vorgeworfen, die Gefühle gläubiger Christen beleidigt zu haben; gemeinsam mit Mitarbeitern eines Kulturzentrums schüre sie, einen «verbrecherischen Plan» verfolgend, religiösen und nationalen Zwist. In Zeitungen und auf Internetseiten wurde gegen Altschuk als «charismatische Führerin» einer gotteslästerlichen Bewe­gung gewettert, manche riefen zur Gewalt gegen sie auf. Freunde nahmen diese Hetze, auch das Gerichtsverfahren, nicht ernst oder gaben ihr selbst die Schuld daran, oder sie wandten sich ab.

Was war geschehen? Am 14. Januar 2003 eröffnete das Moskauer Andrej-Sacharow-Museum eine Kunst­ausstellung mit dem Titel «Achtung, Religion!», eine nicht ungewöhnliche, nicht allzu große Ausstellung. Rund vierzig Künstler und Künstlerinnen nahmen daran teil, Anna Altschuk war eine von ihnen. Unbekannte Beiträger waren darunter, auch einige bekannte wie der in den USA le­bende Aleksandr Kossolapow; er zeigte seine Jesus-Darstellung, die aussieht wie ein rotes «Coca Cola»-Werbeplakat mit der Aufschrift: «This is my blood». Am 18. Januar, einem Samstag, drangen sechs Mitglieder einer Kirchengemeinde in die Museumsräume und beschmierten, zerschnitten, zertrampelten mehr als die Hälfte der Arbeiten; keine halbe Stunde brauchten sie dafür. Schon am folgenden Montag verurteilten die Oberen der Russisch-Orthodoxen Kirche die Ausstellung scharf. Am Dienstag griffen orthodox-nationalistische Wissenschaftler und Intelektuelle die Ausstellungsmacher als «marginale Lästerer und Satanisten» an. Am 12. Februar forderte die Staatsduma, das Parlament der Russischen Föderation, den Generalstaatsanwalt in einem Brief auf, Anklage gegen die Ausstellungsmacher zu erheben. Am 28. Februar wurde das Verfahren formal eröffnet. Und mit einem Mal waren Künstler, Kurator und Museumsmitarbeiter nicht mehr die Geschädigten, sie hatten sich in Beschuldigte verwandelt.

Während die orthodoxen Bilderstürmer im Sommer freigesprochen wurden, ermittelten die Staatsanwälte weiter gegen den Direktor und eine Mitarbeiterin des Sacharow-Museums und, als einzige Künstlerin, gegen Anna Altschuk. Der Kurator der Ausstellung sah sich im März genötigt, in sein Heimatland Armenien zurückzukehren. Die ersten Anhörungen vor Gericht fanden erst am 15. Juni 2004 statt. Wenige Tage später wurde einer der Intellektuellen, die Kritik an der Anklage geübt hatten, in seiner Petersburger Wohnung ermordet. Eine mehrmonatige Verhandlungspause trat ein. Und eines Abends Ende September 2004, als sie mit ihrem Mann, dem Philosophen Michail Ryklin, im Kaminzimmer ihrer Datscha den aus der Normandie mitgebrachten Calvados probierte, erlitt Anna Altschuk ihren Anfall. «In jener schlaflosen Nacht», schreibt Ryklin, «dachte ich über Emigration aus Russland nach und daran, dass man uns in diesem Land früher oder später zugrunde richten würde. Ich hatte mich nicht berechtigt gefühlt, den Tod meiner jüdischen Verwandten durch die Nazis 1941 als Mittel der Verbesserung meiner materiellen Situation zu nutzen; jetzt aber, wo die Situation meiner Familie an die Situation derer erinnerte, die unter dem faschistischen Regime aus rassischen oder politischen Gründen verfolgt wurden, blieb uns – so rausch­te es mir ständig durch den Kopf – nichts übrig als die Emigration.» Das Paar lebt heute nach wie vor in Moskau. Allerdings hat Ryklin die Ereignisse um diese Kunstausstellung in seinem jüngsten Buch einer detaillierten Analyse unterzogen: «Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der ‹gelenkten Demokratie›».

Dostojewskij wohnte um die Ecke

Nach Moskau geht es mit dem Taxi. Am Flughafen Domodedowo suche ich rasch noch eine Tageszeitung, aber der erste Kiosk führt keine westlichen Blätter, der zweite auch nicht, und dann spuckt mich das Flughafengebäude aus. Draußen besteht kaum noch Aussicht auf Text in lateinischen Buchstaben. Nur Zahlen lesen funktioniert da reibungslos, im Universum der Zahlen ist die arabische Globalisierung vollzogen. 2000 Rubel verlangt der Taxifahrer für den Weg in die Stadt, wie er auf einem Zettel notiert. Der Reiseführer empfiehlt, über den Fahrpreis zu verhandeln. 1500?, schreibe ich also daneben. Wir einigen uns auf 1700.

Das Paradigma der Sicherheit mag Russland fest im Griff haben, Sicherheitsgurte aber sind zumindest auf der Rückbank russischer Taxen nicht die Regel. Schnell hat der Fahrer auf 100, 120 Stundenkilometer beschleunigt. Telegrafenmasten ziehen vorbei, vereinzelte Häuser, Industriebauten, endlose Brachen mit vereistem Schnee, nach einer halben Stunde die ersten Kuppeln, eine der mehr als 600 Moskauer Kirchen. Die gute Laune im Autoradio klingt wie überall sonst. Aus den Lautsprechern trällern Madonna, Roxette und James Blunt: «You’re Beautiful». Im Stadtverkehr scheint auch der Fahrer nicht mehr voll orientiert. Der Flughafen liegt 35 Kilometer südlich von Moskau; das Zentrum erreichen wir nach geschlage­nen anderthalb Stunden. Endlich ankommen.

«Eigentlich bin ich kein politischer Mensch», sagt Michail Ryklin, als wir nach dem Essen über sein Buch «Mit dem Recht des Stärkeren» sprechen. Gemeinsam mit Anna Altschuk sitzen wir im Wohnzimmer ihres schlichten Apartments in der Ok­tjabrskaja uliza, im Norden des Zentrums. Im selben Viertel steht das Geburtshaus von Fjodor Dostojewskij, worauf Ryklin nicht ohne Stolz hinweist. «Die Leute meinen immer, Dostojewskij stamme aus Petersburg.» Der anschlie­ßende Spaziergang führt durch den nahe gelegenen Park, der an die «Straße der sowjetischen Armee» grenzt. Gegen­über dem Eingangstor, in unserem Rücken, steht der massige, sternförmige Bau des «Zentral­theaters der Russischen Armee». Auf der anderen Seite, hinter dem Park, ragt der gigantische, urban beleuchtete «Sportkomplex Olimpijskij» in den Abendhimmel. Nach einer Runde durch die verschneiten Wege kommen wir an einem Hof vorbei, auf dem schweres Kriegsgerät steht, Flugzeuge, deren Flügel bedrohlich nah an den Zaun reichen. «Das Museum der Roten Armee», erklärt Michail Ryklin. «Drinnen stehen auch ein paar Mittelstreckenraketen aus der Zeit des Kalten Krieges.»


Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten

«Ich bin kein politischer Mensch»: Keine Aussage dieses Autors über sich selbst verwundert mehr als diese, zumal, wenn man gerade «Mit dem Recht des Stärkeren» gelesen hat. Der Zusammenprall mit dem schwer entwirrbaren Knäuel aus Gerichtsbarkeit, Duma, Kirche und öffentlicher Hetzkampagne war offensichtlich traumatisch. Kein Zufall jedenfalls, dass Ryklin die Vorgänge um die verwüstete Kunstausstellung im Buch gleich drei Mal beschreibt, in drei unterschiedlichen Anläufen, die an Sigmund Freuds Trias «Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten» denken lassen: zunächst eine dreißigseitige «unverlangte Erzählung», eine zusammenhängende, persönlich gehaltene Schilderung des Geschehens; dann, doppelt so lang, der Abschnitt «Ereignisse und Dokumente», eine Chronik, in der ausführlich und akribisch aus Briefen, Debattenbeiträgen, Plädoyers und dem Urteil zitiert wird; schließlich, doppelt so lang noch wie das zweite Kapitel, eine Serie von Kommentaren, die den Fall – dicht an den Fakten und zugleich weit in den Assoziationen – interpretieren.

Ryklin beschreibt die Intoleranz in der gegenwärtigen russischen Kulturszene, die die Kampagne gegen die Ausstellung erst möglich gemacht hat. Er betont die Rolle, die Experten und Gutachter vor Gericht gespielt haben, indem sie in delirierenden Texten die «Lästerlichkeit» der Exponate zu beweisen versuchten. Tatsächlich bezogen sich die meisten Arbeiten eher lose auf das Thema Religion. Beklemmende Passagen des Buches sind dem lebendigen Antisemitismus gewidmet: Immer wieder wurden die an der Ausstellung Beteiligten vor Gericht als «Jidden» beleidigt: «Geh zurück nach Palästina!» Ryklin folgert, dass in Putins «kontrollierter Demokratie» die Gesetzlosigkeit «leicht zum Gesetz» wird; dass die Allianz von autoritärem Nationalismus und kirchlicher Orthodoxie nicht etwa in parlamentarischen Debatten Politik macht, sondern indem sie in Kampagnen wie der gegen die Kunstausstellung das Recht des Stärkeren durchsetzt.

Ryklins Befunde lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: «Die ‹kontrollierte Demokratie› ist keine exotische eurasische Variante der Demokratie, sondern das, was das Fußfassen von Demokratie, Aufklärung, Gesetz und Gewissensfreiheit in Russland verhindert.» Oder: «Wohl seit den stalinschen Schauprozessen der dreißiger Jahre und den Prozessen gegen dissidentische Schriftsteller Mitte der sechziger Jahre hat es in Russland nicht mehr so wüste, unheilverheißende und vollkommen willkürliche, buchstäblich ‹aus den Fingern gesogene› und als Ergebnisse einer ‹gruppendynamischen Analyse› getarnte Aufrufe zur Gewalt gegen vollkommen unschuldige Leute gegeben.» Und der Autor solcher Verdikte will nicht politisch sein?


«Die Sowjetunion – das Land meiner Träume»

Seit 1995 sendet Michail Ryklin deutschen Lesern «Briefe aus Moskau», die in der Zeitschrift «Lett­re» alle drei Monate veröffentlicht werden. Diese Korrespondenzen infor­mieren nicht nur über die russischen Zeitläufte, etwa darüber, wie in Zeiten der geschwächten Staatsmacht Mitte der neunziger Jahre ein kultureller Pluralismus gedieh, während die Verhältnisse heute gerade umgekehrt scheinen. Vor allem blitzt hier gelegentlich ein Denken in actu auf. Man sieht, wie Ryklin das Material seiner Ge­genwart mit philosophischem Handwerkszeug zerlegt. Boris Jelzins Wahlsieg 1996 bietet den Anlass, nach dem Zusammenhang von Recht und Gnade zu fragen; von der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater Nord-Ost 2002 ist die Forde­rung nach der Freiheit des Wortes nicht weit; als seine schwangere Tochter vom Frauenarzt zur Abtreibung beinahe genötigt wird, denkt Michail Ryklin über Bevölkerungspolitik und das Inhumane in der postsowjetischen Gesellschaft nach; und wenn fundamentalistische Vandalen durch eine ganz normale Moskauer Kunst­aus­stel­lung trampeln, wird eben die Beziehung zwischen Religion und Macht zum Thema: Einer dieser Kurz-Essays ist die Keimzelle von «Mit dem Recht des Stärkeren». Inzwischen liegen sie unter dem Titel «Verschwiegene Grenze» als gebundenes Buch vor.

Auch die beiden anderen ins Deutsche übertragenen, eher theoretischen Bücher Ryklins sind von Fragen des Politischen durchzogen. «Räume des Jubels», ein ebenso eigenwilliger wie eleganter Band mit Texten, die zwischen Philosophie, Psychoanalyse und Prosa changieren, erhebt Einspruch gegen die westliche Totalitarismustheo­rie von Hannah Arendt bis François Furet: Nationalsozia­lismus und Bolschewismus sind zu verschieden, um sie unter das eine Dach des Totalitarismus zu zwängen, lautet die Ausgangsthese des Buches; sein Fluchtpunkt sind die untoten Überreste der UdSSR, wie sie die postkommu­nistische Gegenwart charakterisieren: «Die Sowjetunion – das Land meiner Träume».

Der Band «Dekonstruktion und Destruktion» enthält Gespräche mit Denkern, die Ryklin nahe stehen, Félix Guattari, Jean-Luc Nancy, Jean Baudrillard und Paul Virilio etwa, vor allem aber mit Jacques Derrida, mit dem Ryklin Anfang der neunziger Jahre in Paris zusammenarbeitete. Auf den ersten Blick geht es hier um philosophische Begriffe: Der Russe diskutiert mit den Franzosen über Metaphysik, Logozentrismus und Wunschmaschinen. Auf den zweiten Blick sieht man, dass keine dieser Begegnungen ohne den Versuch auskommt, die europäische Lage nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu begreifen. Und dann erkennt man, wie sehr diese Gespräche von den unendlichen Komplikationen des Dialogs zwischen Ost und West zeugen. Als Derrida meint, in Frankreich seien auch ohne Stalin «einige der Möglichkeiten in der Kunst» zerstört worden, wirft Ryklin ein: «Verzeihen Sie, aber ich spreche nicht von der Zerstörung einiger Möglichkeiten in der Kunst, ich spreche von der Zerstörung der Infrastruktur der Kunst selbst.» Worauf Derrida entgegnet: «Das ist ein und dasselbe» – um dann doch eine gewisse «Unver­gleichlichkeit» zwischen der französischen und der sowje­tischen Situation einzuräumen.

«Ursprünglich bin ich kein politisch motivierter Mensch», wiederholt Ryklin während des Spaziergangs im Schnee. «Vom Temperament her bin ich nur ein Autor, der mit Texten arbeiten will.»1948 geboren, ist er 1978 mit einer Arbeit über das Verhältnis von Claude Lévi-Strauss’ strukturaler Anthropologie zu Rousseau promoviert worden – daher das Interesse für Derrida, in dessen «Grammatologie» ein Kapitel derselben verborgenen philosophischen Beziehung gewidmet ist. Heute lehrt Ryklin an der Moskauer Akademie der Wissenschaften. «Politisiert hat mich erst der Kontakt mit den Moskauer Konzeptualisten» – mit Künstlern wie Ilja Kabakow oder Schriftstellern wie Wladimir Sorokin. Das war Mitte der achtziger Jahre. Dann Perestrojka und Glasnost, die Implosion des Sowjet-Imperiums, seit 1990 immer wieder längere Aufenthalte im Westen, in Paris, San Diego oder Berlin. Und dann die engagierten Korrespondenzen für «Lettre».

«Mir ist wohl bewusst, dass die Morde und Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien weit schlimmer sind als das, was uns nach dieser Kunstausstellung widerfahren ist. Aber in diesem Fall fühlte ich meine Freun­de und mich direkt angegriffen. Es war unmöglich, mit diesen ‹tief Gläubigen› in einen Dialog einzutreten über das Recht, sich künstlerisch zu artikulieren. Worum es hier geht, ist die Existenz der Sprache der Kunst, die Sprache der Kulturschaffenden – meine eigenen Sprache. Wenn ich die opfere, verliere ich alles. Das Buch ist der Versuch, mein eigenes Gebiet zu verteidigen.»


Barbies in der Shopping Mall

Durch Moskau bewegt man sich am schnellsten und am günstigsten mit der Metro. Die nächste Station von Ryklins Wohnung aus, die «Nowoslobodskaja», hat den Vorteil, dass sie auf der Ringlinie liegt, die das Zentrum umkreist; alle möglichen Orte in der Stadt sind schnell erreichbar. Und sie hat den Nachteil, dass man eine knappe halbe Stunde lang dorthin laufen muss.

«Der Bürgersteig ist auffallend schmal», notiert der an die verschwenderische Breite Berliner Gehwege gewöhnte Walter Benjamin in seinem «Moskauer Tagebuch», das er im Winter 1926/27 führte (auf der Suche nach der Revolution und der Liebe). «Dazu liegt an der Häuserkante das Eis so dicht, dass ein Teil von dem Trottoir unbenutzbar bleibt. Übrigens profiliert es sich selten deutlich gegen den Fahrdamm: Schnee und Eis nivellieren die verschiedenen Schichten der Straße.» Das ist an diesem Februartag achtzig Jahre später kaum anders. Die Anwohner kommen mit dem Schneeschaufeln nicht nach, es weht ein Sturm, der die zwölf Grad Kälte, die das Thermometer misst, noch kälter macht. Wie alle Passanten kneife ich die Augen zusammen, um durch die Flocken hindurch etwas sehen zu können. Der Vormittag ist fortgeschritten, die Rush Hour vorüber, aber in der Metro-Station stehen alle dicht an dicht. Mit der Rolltreppe geht es in schier unendliche Tiefen.

«In ihren Aufzeichnungen über Moskau klagen Ausländer öfters darüber, dass die Stadt sich schwer erschließe», schreibt Michail Ryklin in «Räume des Jubels» – und bescheinigt sogar Benjamin, diesem begnadeten Leser europäischer Städte, in der Kapitale der Oktoberrevolution zwar genau zu beobachten, aber wenig zu begreifen. Mag sein. Benjamins Assoziationen zum Moskauer Frost sind dennoch bestechend: «Hier ist das Leben im Winter um eine Dimension reicher: der Raum verändert sich buchstäblich, je nachdem er heiß oder kalt ist. Man lebt auf der Straße wie in einem frostigen Spiegelsaal, jedes Einhalten und Besinnen wird unglaublich schwer: es braucht schon einen halbtägigen Vorsatz, um einen Brief in den Kasten zu stecken und trotz der strengen Kälte bedeutet es eine Willensleistung, in ein Geschäft einzutreten, um etwas zu kaufen.»

Das Geschäft, das ich, ausgestiegen an der Station «Kievskaja», betrete, ist eine Shopping Mall, gegen die sich selbst Benjamins glitzernde Pariser Passagen bescheiden ausnehmen. Es ist gigantisch groß, gigantisch warm und gigantisch sauber. Vielleicht wirkt es auch nur so, weil das Einkaufszentrum den denkbar größten Kontrast zur wenig einladenden Welt da draußen abgibt, wo der Schnee schwarz wird vor Abgasen, wo jeder zusieht, möglichst schnell ins Warme zu kommen und wo die obligatorische Kluft aus dunklem Wintermantel, Schal und Mütze selbst den Businessman und den Punk einander angleicht. In der Mall ist alles fein und säuberlich und sortiert. Es gibt Filialen von Egoïste und Lauren Vidal und Douglas und Body Shop und so weiter, die Verkäuferinnen sind alle Anfang zwanzig, schlank und tragen enge Röcke, die Sicherheitsmänner Ende zwanzig, bullig und tragen Kabel im Ohr, die Kundschaft ist gemischt, aber offenbar durchweg zahlungskräftig. Der Espresso in der Lounge Bar vor dem gelangweilt plätschernden Springbrunnen kostet 100 Rubel, viermal so viel wie der Kaffee am Kiosk auf der Straße.


Unterirdische Tempel-Paläste für das Volk

Zurück an den Gleisen der «Kievskaja» sehe ich endlich das, wofür ich – voll und ganz damit beschäftigt, kyrillische Buchstaben zu entziffern und das Tempo der anderen Metro-Passagiere zu halten – bei den ersten Schritten im fremden U-Bahn-Netz keine Augen hatte: den bizarren Prunk der Station. Die Bahnsteige selbst erreicht man durch hohe Torbögen. Es mögen je zwanzig Arkaden sein, die den weiten Gang auf beiden Seiten säumen. Die Decke ist rund geschwungen, vollkommen weiß, von Kronleuchtern illuminiert, fein strukturiert, und alle zwei Meter prangt ein farbiges Mosaik: Arbeiter, wie sie einen Kran bedienen, Sportler, die einen Pokal entgegennehmen, Soldaten, die sich vor der roten Fahne verneigen, oder einfach Hammer und Sichel und «CCCP». Am Ende des Ganges ein immenses Ornament mit Lenin in der Mitte; es gleicht einem Altar. Wer sich in den so präsenten wie entrückten, kitschigen und doch eindrucksvollen Glanz dieser Innenarchitektur versenkt, könnte glatt vergessen, dass alle anderen hier einfach unterwegs nach Hause oder ins Büro sind.

Die Mosaike dieses U-Bahnhofs stellen die Freundschaft zwischen Russland und der Ukraine dar, klärt der Reiseführer auf. Und in Michail Ryklins «Räume des Jubels» liest man: «Allein bei der Station ‹Kievskaja› … wurden 15 verschiedene Sorten Marmor verwandt. Die Menschen kamen wie in ein Museum, um sie anzuschauen.» In zwei brillanten Kapiteln untersucht Michail Ryklin den «Metrodiskurs», all die Texte und Reden, die seit 1935 die Moskauer Metro flankierten, propagierten oder programmierten.

Von Anfang an sollte das Transportmittel mehr sein als bloß ein «technisches Bauwerk». Es war ein «Symbol der im Bau befindlichen neuen sozialistischen Gesellschaft», wie es ein Kampfgefährte Stalins ausdrückte. Vor allem die in den fünfziger Jahren gebauten Stationen quellen über vor Reichtum. Mit Mosaiken, Skulpturen und Illuminationen erzählt hier das organisierte Proletariat sich seine eigene ruhmvolle Geschichte. Zugleich verkörpern diese Bauten das Versprechen auf eine bessere Welt: «Das ideale, aus unterirdischen Palästen bestehende Transportmittel ist das Vorbild für das überirdische Aussehen der neuen Welthauptstadt.» Heute ragen diese Volks-Paläste in die postsowjetische Gegenwart. Und Ryklins erstaunliche Beobachtung lautet, dass der Diskurs über die Metro mit den gleichen Themen und Thesen fortbesteht wie eh und je – nur habe sich inzwischen ein nationalistisches Motiv eingeschlichen: «Nunmehr wird Russland zugeschrieben, was früher als Verdienst des Proletariats verkündet wurde.»

Die Fahrt zur «Kurskaja» dauert gut zehn Minuten, einmal von West nach Ost, in einem Halbkreis, dessen Mittelpunkt der Rote Platz mit dem Kreml, der Basilius-Kathedrale und dem Kaufhaus GUM bildet. Der Wagon ist zum Bersten voll. Bis zu neun Millionen Menschen bewegen sich täglich auf den rund 280 Kilometern der Metrolinien. Wer unterwegs für sich sein will, kann, wie überall auf der Welt, das Gesicht hinter der Zeitung verstecken oder die Ohren mit Kopfhörern stopfen. Doch die meisten Passagiere in Moskau praktizieren eine andere Methode: Sie schließen einfach die Augen und scheinen auch bei Fahrten von nur ein, zwei Stationen in einen selbstverständlichen Kurzschlaf zu verfallen.

Nicht weit von der «Kurskaja» hat das Sacharow-Museum seinen Sitz, das kleine Kulturzentrum für «Frieden, Fortschritt und Menschenrechte» mit einer ständigen Ausstellung über Leben und Werk des Dissidenten Andrej Sacharow. An der Hauswand hängt ein Plakat mit einem schreienden Graffito: «Seit 1994 ist Krieg in Tschetschenien. Genug!» «Es ist die einzige sichtbare Anti-Kriegs­parole, die an einem Moskauer Gebäude hängt», erklärt Anna Altschuk, mit der ich dort verabredet bin. Sie stellt mir Ljudmila Wassilowskaja und Jurij Samodurow vor; er ist Direktor des Museums, sie die für Ausstellungsprojekte zuständige Kuratorin. Diese drei waren es, die wegen «Achtung, Religion!» vor Gericht standen. Das Urteil vom 28. März 2005 wertet die Ausstellung als Verbrechen im Sinne des Paragrafen über das Schüren religiösen und nationalen Zwistes. Wassilowskaja und Samodurow wurden zu Geldstrafen verurteilt, Anna Altschuk freigesprochen.

Heute reden Altschuk und Wassilowskaja über einen Dokumentationsband des Falles in Bild und Text. Im Gebäude nebenan, im Ausstellungsraum, wird gehämmert und gebohrt. Große Tafeln liegen auf dem Boden, Klangkörper sind installiert, ein paar Bilder hängen schon: dunkelfarbige, schamanistisch inszenierte Gesichter. Ein paar Künstler legen selbst Hand an bei den letzten Vorbereitungen zu ihrer Ausstellung. Am nächsten Abend ist die Vernissage.


Die Aufklärung, das ewig unvollendete Projekt

Als ich Michail Ryklin am Abend frage, ob er nicht fürchte, manche seiner Leser könnten die Einschätzungen der Lage der russischen Kultur, wie er sie in «Mit dem Recht des Stärkeren» entwickelt, für übertrieben, für alarmistisch halten, lacht er zunächst nur. Und dann, das bittere Grinsen will kaum aus seinem Gesicht weichen: «Wenn deutsche Politiker wie Gerhard Schröder oder Gernot Erler wie ich monatelang auf der Zuschauerbank dieses Gerichts gesessen hätten, eingekeilt zwischen ‹tief Gläubigen›, wenn sie sich immer wieder als ‹Judenfresse› hätten beschimpfen lassen müssen, wenn sie verfolgt hätten, wie dieses absurde Verfahren seinen Lauf nimmt, dann würden sie Russland nicht mehr als ‹lupen­reine Demokratie› bezeichnen. Natürlich: wäre ich ein Unternehmer, dessen Umsatz sich im vergangenen Jahr verdoppelt hätte, würde ich andere Dinge über Russland erzählen. Aber ich sehe, was den Kulturschaffenden hier widerfährt. Und das ist alarmierend.»

Im Übrigen hält Ryklin die Prozesse, die er beschreibt, nicht für postsowjetische Kuriositäten. Der Streit um die Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung, die Absetzung der «Idomeneo»-Inszenierung an der Deutschen Oper in Berlin, auch jene Rede Benedikts XVI., die für so viel Empörung in der muslimischen Welt gesorgt hat – all das seien Fälle, in denen die Kultur vor Fundamentalisten kapituliert habe. Der Unterschied zu Russland beschränke sich darauf, dass sich in den westlichen Ländern der Staat nicht mit den Fundamentalisten verbünde. «Die religiösen Protestierenden haben die Papst-Rede nicht gelesen, die Mozart-Oper nicht gehört, die Karikaturen nicht gesehen. Sie brauchen das auch nicht. Denn die Karikaturen oder die Inszenierung sind nicht die Ursache, sondern nur der Anlass für eine Wut, die schon bereit ist auszubrechen. Wenn man in dieser Frage aber einmal kapituliert, weiß man nicht, wohin das führt. Denn die Fundamentalisten wollen praktisch alles.»

Und in «Mit dem Recht des Stärkeren» heißt es: «Dort, wo die Aufklärung endet, beginnt, so zeigt die Geschichte um die Ausstellung ‹Achtung, Religion!›, die Gewalt und eine davon nicht zu trennende Primitivisierung der Sphäre des geistigen Lebens, die Herrschaft der Instinkte.» Wer diese so symmetrische Gegenüberstellung von Aufklärung einerseits und Gewalt andererseits sieht, reibt sich verwundert die Augen. Denn besteht nicht der gemeinsame Nenner all jener westlichen Denker, die Ryklin mit erkennbarer Sympathie liest – Benjamin und Adorno, Foucault und Derrida – gerade darin, der Aufklärung ihre eigenen gewalttätigen Seiten vorzuhalten? «Selbstverständlich gibt es aufklärerische Gewalt.» Ryklin räumt das schulterzuckend ein. «Es gibt disziplinäre Räume, oder es gibt den Markt, der ständig Ungerechtigkeiten ausübt, und selbstverständlich muss man damit fortfahren, auch die Aufklärung zu kritisieren: Das Projekt ist nie vollendet. Ich will nur sagen, dass diese subtile Gewalt etwas Grundverschiedenes ist von jener primitiven Gewalt, die die Fundamentalisten – ob christlich oder musli­misch – ausüben. Diese primitive Gewalt ist heute die eigentliche Gefahr.»

Es ist nicht ohne Ironie: Einer der Geistesheroen des transatlantischen Westens, der bekennende Agnostiker Jürgen Habermas, der in den achtziger Jahren unter dem Banner «Die Moderne – ein unvollendetes Projekt» gegen die angeblich irrationalen französischen «Postmodernisten» zu Felde zog, zapft heutzutage Reservoirs des Christentums an, um den demokratischen Diskurs mit Sinn zu versorgen (siehe „Literaturen” 10/2005). Und währenddessen drängt ein russischer Philosoph, vollgesogen mit französischem Denken, das deutsche Publikum dazu zu sehen, wie bedroht das Projekt der Aufklärung gegenwärtig ist.

Michail Ryklins Arbeit ist insofern eminent politisch – und zugleich philosophisch. Bloß rhetorisch fragt er im Gespräch: «Sind nicht auch Sokrates’ Verteidigungs­rede vor Gericht oder Voltaires Kampagne für den im katholischen Frankreich verfolgten Protestanten Jean Calas Bestandteil der Philosophie?» Und nicht zuletzt sind seine jüngsten Texte ein Hilfeschrei gen Westen. «Vorläufig», so heißt es in «Mit dem Recht des Stärkeren», «gibt sich Russland in der Welt erfolgreich als junge Demokratie mit einigen, in der Übergangsperiode unvermeid­lichen nationalen Besonderheiten, während es sich schnell in einen Polizeistaat verwandelt, in dem viele der deklarierten Freiheiten und gesetzlich garantierten Rechte nur noch auf dem Papier existieren. Bislang kauft das offiziel­le Europa dem Land diese demokratische Rhetorik zusammen mit dem Erdöl, Gas und anderen strategischen Rohstoffen ab.»

Dieser Tage erhält Michail Ryklin den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Bleibt zu hoffen, dass diese Auszeichnung hilft, seinen Texten in Euro­pa Gehör zu verschaffen.

Erwähnte Bücher

Michail Ryklin
Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der «gelenkten Demokratie»
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006. 239 S., 10 €
Verschwiegene Grenze. Briefe aus Moskau 1995–2003
Aus dem Russischen von Dirk Uffelmann.
Diaphanes, Berlin 2003. 288 S., 24,90 €
Dekonstruktion und Destruktion. Gespräche
Aus dem Russischen, Englischen und Französischen von Dirk Uffelmann und Matthias Neumann.
Diaphanes, Berlin 2006. 304 S., 25,90 €
Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz
Aus dem Russischen von Dirk Uffelmann.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003. 238 S., 12 €
Die Reise in den Westen. Nach dem Kommunismus. 15 Jahre ohne Grenze
In: Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus. Hg. von Boris Groys und Anne von der Heiden.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005. 892 S., 16 €

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