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Sibylle Bergs letzte 24 Stunden - Sterben, ein Scheißdreck

Die Autorin Sibylle Berg verbringt ihre letzten 24 Stunden im Tessin, in einem Waldstück über Tegna, von der Sonne beschienen, und ärgert sich noch einmal tüchtig über sich selbst

Autoreninfo

Sibylle Berg, geboren in Weimar, lebt in Zürich. Ihre Werke "Sex II" und "Gold" wurden Kultbücher.

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Dieser Text ist eine kostenlose Leseprobe aus dem Cicero. Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen.

Ich weiß nicht, was das ist, Tod. Ich war noch nicht tot. Wie alle, die noch nicht gestorben sind, habe ich nur eine Idee. Meine ist, dass der Tod sich vielleicht so anfühlt wie die Zeit vor der Geburt. Also nichts ist da. Ein absolutes, allgleiches Nichts.

Wenn wir nicht selbstbestimmt sterben können – was ja immer noch keine Option ist, es aber unbedingt sein müsste –, ist die Idee des letzten Tages ein Quatsch. Ich bin absolut und uneingeschränkt für das Recht, selbstbestimmt zu sterben und die dazu nötigen Mittel in der Apotheke erwerben zu können.

Dann möchte ich gerne im Tessin sterben, in einem Waldstück über Tegna, ein wenig von der Sonne beschienen und zusammen mit meinem geliebten Menschen. Musik ist mir nicht wichtig, es sollte nur bitte nicht regnen. Aber wenn ich es mir aussuchen kann – und ich bin mir sicher, Sie können mir den Wunsch erfüllen –, möchte ich vielleicht eher gar nicht sterben und miterleben, was mit der Welt weiter passiert. Vielleicht wird es einmal eine völlige Gleichberechtigung aller Geschlechter geben? Vielleicht werden großartige Dinge erfunden, die Menschen 500 Jahre alt werden lassen (dann würde das Anhäufen von Milliarden endlich sinnvoll und nicht obszön sein). Ach, Sterben ist ein Scheißdreck.

Es gibt nichts, was noch ein letztes Mal gemacht, gedacht oder ausgesprochen werden müsste. Was man bis zum Ende nicht gemacht, gedacht oder ausgesprochen hat, ist dann auch nicht mehr wichtig. Wem sollte ich auch etwas beichten? Und das Entschuldigen für Unachtsamkeiten erledige ich ebenfalls lieber jetzt.

Die absolut unangenehme Idee der Vergänglichkeit versuche ich immer mit einzubeziehen. In jeder Sekunde, bei allem, was ich tue. Es gelingt nicht immer. Vorbereiten kann man sich auf so was schlecht, vielleicht bei einer langen Krankheit, aber da fehlt mir die Erfahrung. Einmal hatte ich einen Unfall mit klinischem Tod. Sagt man das so? Das kam völlig unerwartet und war nicht besonders schrecklich.
Ab und zu habe ich Eitelkeitsattacken, ärgere mich über angebliche Missachtung und sehe mir doch dabei zu und finde mich lächerlich. Im Allgemeinen versuche ich aber, mich immer mit Güte zu behandeln. Einer muss das ja erledigen. Ich bin sehr nachsichtig mit mir. Ich habe ein sehr schönes, sehr angenehmes Leben. Ich habe viel Glück gehabt, mit dem Ort meiner Geburt und mit meiner Gesundheit. Den Rest habe ich selber zu verantworten.

Die Menschen verbessern zu wollen, war eine irrsinnige Arroganz, die meiner Jugend geschuldet war. Wer bin ich, jemanden erziehen zu können? Ich ärgere mich immer noch über nicht zu Ende Gedachtes, über Arroganz, Dummheit, über Religionen und deren Sexismus. Ich ärgere mich über das Elend, das wir uns selbst bereiten, und über mich, dass mich das alles ärgert. Darüber ärgere ich mich auch. 

Aufgezeichnet von Sarah-Maria Deckert.

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