Fünfzig Jahre Ungarn-Aufstand - Der Nachmittag, an dem die Diktatur fiel

Jahrzehntelang war der Volksaufstand von 1956 ein Tabu - darüber durfte nicht geredet werden. Was hat der Aufstand wirklich bedeutet?

Geplant war ursprünglich nur ein Schweigemarsch der Budapester Studenten, die sich mit dem neuen Gomulka-Regime in Polen solidarisierten. Doch binnen Stunden eskalierte an diesem 23. Oktober 1956 die friedliche Kundgebung zum bewaffneten Volksaufstand – «ein politisches Naturereignis ohne Zentrum, ohne Konzept und ohne koordinierte Führung», wie Paul Lendvai in seiner neuen Revolutionsgeschichte schreibt. Gefordert wurden freie Wahlen, ein Mehrparteien-System, die Rückkehr des geächteten Ministerpräsidenten Imre Nagy an die Regierung sowie der Abzug der Sowjettruppen aus Ungarn. Das Stalin-Denkmal wurde vom Sockel gerissen, Waffen-Arsenale wurden gestürmt, bei der Belagerung des Rundfunkgebäudes fielen am Abend die ersten Schüsse, und es gab die ersten Toten.

Dreizehn Tage dauerte der Freiheitskampf des ungarischen Volkes. In atemberaubendem Tempo wollte die Regierung Nagy eine stalinistische Diktatur zur Mehrparteien-Demokratie ummodeln und trat aus dem Warschauer Pakt aus, um einen sowjetischen Satellitenstaat in eine neutrale Republik à la Österreich zu verwandeln. Am 4. November wurde die Revolution durch russische Panzer blutig niedergeschlagen, auch wenn der Widerstand der Ungarn noch wochenlang anhielt. Der Westen war derweil anderweitig engagiert – in der Suezkrise.

Mehr als 2600 Menschen starben in den Kämpfen oder wurden exekutiert, rund 20.000 wurden verwundet, die Zahl der Flüchtlinge schätzt man auf fast eine Viertelmillion. Imre Nagy und seine Getreuen wurden – unter aktiver Beihilfe der Bruderparteien Jugoslawiens und Rumäniens – verschleppt und nach einem Geheimprozess hingerichtet. Aus der Katastrophe ging János Kádár als neuer ungarischer Machthaber von Moskaus Gnaden hervor – und blieb es mehr als dreißig graue Jahre lang. Ironischerweise starb er just an dem Tag, dem 6. Juli 1989, als der Oberste Gerichtshof Ungarns den Prozess gegen Nagy zum Justizmord erklärte und die Freiheitshelden von 1956 rehabilitierte. Seit 1989 gelten die Oktober-Ereignisse von ’56 nicht länger als «Konterrevolution», sondern werden auch offiziell als Volksaufstand anerkannt.

Zwei prominente ungarische Publizisten, Paul Lendvai und György Dalos, legen neue Darstellungen des Ungarn-Aufstandes vor, auf der Basis nunmehr zugänglicher Dokumente aus sowjetischen und ungarischen Partei-Archiven. Was sie zu erzählen haben, ist eine bittere Geschichte des politischen und menschlichen Versagens, des Zynismus der Macht, der Kreml-Intrigen und des multiplen Verrats, aber auch des verzweifelten Heroismus und der vernichteten Hoffnungen – letztlich entpuppt sich der Oktober-Aufstand ’56 als siegreiche Niederlage. „Literaturen” bat den Budapester Schriftsteller Péter Esterházy um seine Erinnerungen an den verdrängten und so lange totgeschwiegenen Aufstand. Esterházy beschreibt eine historische Tragödie mit Happyend: «Der Nachmittag, an dem die Diktatur fiel»

 

Wer von 1956 spricht, der spricht vom Vergessen. Oder vom Erinnern, einerlei. Obwohl die Relation, um nicht zu sagen, die Dynamik des Vergessens und des Erinnerns nicht einerlei ist.

Mir selbst hat sich keine unmittelbare Erinnerung im Zusammenhang mit ’56 eingeprägt, oder ich habe das Wenige, das ich habe, in meinen «Produktionsroman» hineingeschrieben, ich will das hier nicht wiederholen, dort gehört es zur Geschichte, hier wäre es nur eine Anekdote. Was ich erlebt habe, beziehungsweise die gesamte ungarische Gesellschaft (vor 1990), bezieht sich auf ein 56-förmiges Loch, auf einen 56-förmigen Mangel. Für Kádár und «Kádár» (für die Person und die Macht) war es von essenziellem Interesse, die Vergangenheit verschwinden zu lassen, gewissermaßen eine allgemeine Amnesie einzuführen. Oder eher noch zu einer Amnesie hinzuführen. Am Mai-Aufmarsch des Jahres 1957 nahmen bereits hunderttausend Menschen teil, und wir vergaßen das Wort «Revolution» binnen kurzem.

Der Großteil meiner Erfahrungen stammt aus der Diktatur, auch meine sprachlichen Erfahrungen. Diktaturen sind der Sprache leidenschaftlich, um nicht zu sagen, sanguinisch verbunden, man braucht ja nur an George Orwells «1984» zu denken, an das Newspeak. Denn Menschen können eingeschüchtert werden, und die Menschen erschrecken dann, sie geben alles zu und vergessen alles. Die Sprache aber pfeift auf die Diktatoren, sie verlacht sie nicht einmal, zuckt nur die Achseln, darum haben die Diktatoren Recht, wenn sie sie zu verändern trachten. Die Sprache zu verändern, ist aber schwer. Freilich ist eine Sprache nicht gut und moralisch, das heißt, es verhält sich nicht so, dass sie die Diktaturen hasst und die Freiheit liebt, sie ist, und dieses Sein lässt sich eben nur schwer verändern.

Doch wie sie existiert, so existiert auch die Diktatur. Und auch diese besitzt eine Sprache, sie schafft sich eine. Der Zusatz «sozialistisch» zum Beispiel wirkte wie die Verneinungspartikel in der Sprachwissenschaft, die sozialistische Demokratie bedeutete also das Fehlen der Demokratie, die sozialistische Moral das Fehlen der Moral, und die sozialistische Zukunft war die Aussichtslosigkeit selbst. Tief ist der Brunnen der Zukunft, über die sozialistische Hilfeleistung in Prag 1968 könnte der arme Dubcek einen psycholinguistischen Vortrag halten. Wie auch darüber, dass sich Demokratie von der Volksdemokratie unterscheidet wie die Jacke von der Zwangsjacke.

Die Sprache der Diktatur ist die Stille

Die Abhängigkeit der Kádár-Diktatur von einem einzigen Wort ist geradezu verblüffend und entwaffnend, ja, fast schon rührend. Sie gewann ihre Legitimität (vor sich selbst) und ihre Kraft daraus, dass sie die Revolution Konterrevolution nannte. Beziehungsweise nannten wir sie so, genauer: Mancher nannte sie so, mancher nicht, die Gesellschaft als solche nannte sie so, doch die Menschen konnten danach klassifiziert werden. Von Konterrevolution sprach, wer so dachte oder sich offen unterwarf oder genug vom Ganzen hatte und gar nichts dachte; wer sich hingegen offen widersetzen wollte, sagte Revolution (diese Menschen konnte man, nur leicht übertrieben, an den Fingern einer Hand abzählen, heute brauchte man dazu mehrere hundert Shivas). Und dann gab es die, die offen Weder-Noch waren, das war eine große Trouvaille des Kádárismus, dass er das zuließ, ja, sogar förderte; die sprachen von den «Ereignissen des Jahres 1956», später dann, mit einer gewissen Ironie (wobei keiner wusste, wohin die Spitze der Ironie gerichtet war), von den «bedauerlichen Ereignissen von ’56».

Wenn wir hören, dass die Terror-Attacken von New York «Ereignisse vom September» genannt werden, hört unser diktaturgeschultes Ohr ein kleines Innehalten, ein Stottern, eine gelinde Verlegenheit, als wollte man etwas sagen und doch nicht aussprechen, ja, als wollte man etwas denken und doch nicht denken.

Die Sprache der Diktatur ist die Stille, die tödliche, unendliche, unbewegliche Stille. Ich kannte nur noch die abgeschwächte Version, die weiche, den Soft Porno, dessen Sprache das Schweigen ist, das Schweigen eben über die Diktatur, denn auch die schwache Diktatur ist eine Diktatur, auch die schwache ist stark, sie frisst das Leben der Untertanen auf. Unter Kádár schwieg jeder konkret über ’56. 8 mal 7 kam in der Multiplikationstabelle gar nicht vor, wie auch 7 mal 8 nicht, ist doch diese Art der Multiplikation kommutativ.


Ein richtig mutiges patriotisches Gedicht

Wir sprechen über das Leben der Wörter. 56 hatte ein stürmisches Leben, 56 als Wort, als ungarisches Wort. «Sechsundfünfzig» lebte (wie wir in Ungarn sagen) wie Marci in Heves. Genau: wie der liebe Gott im Frankreich. Was für Deutsche Frankreich ist, das ist für uns Heves. Den lieben Gott möchte ich jetzt nicht analysieren.

Ich illustriere (nicht zum ersten Mal) den Wechsel der Zeiten mit einem Beispiel. Gesetzt den Fall, wir hätten in den 1970er Jahren diese vier schönen positiven ganzen Zahlen untereinander geschrieben, 54, 55, ein kleines Innehalten, Stolpern und Verschlucken, dann 57, 58, und darübergeschrieben: «Vierzeiler», hätten wir als Resultat ein richtig mutiges patriotisches Gedicht, wahrscheinlich kein Meisterwerk, doch wäre das Fehlen der magischen Zahl ein anschaulicher Ausdruck der ewigen Freiheitssehnsucht des ungarischen Volkes, und so weiter. Tatsächlich pulsiert dort die Gottfried Benn zitierende Neue Sachlichkeit, gleichsam legiert mit Sándor Petöfis kluger Begeisterung.


Sag niemals NI, solange Diktatur herrscht

Die hässlichen Zeiten sind vorbei, und reihen wir jetzt diese vier Zahlen in obiger Weise, beweisen wir damit lediglich – 54, 55, 57, 58 –, dass wir nicht richtig zählen können. Wohin ist aus dieser Reihung der Zahlen die Freiheitssehnsucht, wohin sind Benn und Petöfi entschwunden? Die hat die Katze gemaust, das heißt die abziehenden Sowjetsoldaten, das heißt die Demokratie. Wenn nichts angedeutet werden muss, dann kann auch nichts angedeutet werden. Dann muss gesprochen, gedacht, abgewogen und Stellung bezogen werden. Wir haben uns aus Überlebenden in Lebende verwandelt.

Alles das ist auf recht unterhaltsame Weise lehrreich; dass es aber auch grimmig und furchterregend ist, begreifen wir erst, wenn wir bedenken, dass dieser (bis zum heutigen Tag schwelende) Vierzeiler vor ’89 tatsächlich nicht hätte erscheinen dürfen. Und das nicht aus Qualitätsgründen. Ich hoffe, das ist für einen heutigen Zwanzigjährigen einfach unvorstellbar.

Und sicher wäre es so gekommen. Hat es doch schon gereicht, dass der Dichter Gáspár Nagy die ungarische Infinitiv-Endung «NI» in Versalien setzen ließ, und das Maulhalten und das schlechte Gewissen in Bezug auf Sechsundfünfzig haben – der dichterischen Intention entsprechend – sofort die Initialen des hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy erkannt. Die Folge: Verbot, Maulkorberlass, Nachstellungen.


Aus 1956 wird eine peinliche Panne

Doch befinden wir uns damit bereits in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, die Diktatur war in Zersetzung begriffen (auch wenn wir das nicht wussten). Was den Kampf um das Erinnern angeht, hatte Kádár (die Kádár-Ära) gesiegt. Die Vergangenheit war verschwunden, wir mussten nicht nur nicht an ’56 denken, sondern auch an 1945 nicht, daher auch nicht an 1944, und nicht an den Pariser Frieden von 1920, und unsere Laune verdüsterte sich nicht ob der Tatsache, dass der große Matthias Corvinus sich seinerzeit noch mit ganz Europa messen konnte.

Aus der Ära Kádár konnte man nicht heraussehen, weder in der Zeit, noch im Raum. Auch der Westen teilte die Amnesie, auch die Linke, naturgemäß, von den kommunistischen Parteien ganz zu schweigen. 1956, eines der Glanzlichter der Geschichte des 20. Jahrhunderts, verkam binnen weniger Jahre zu einer unangenehmen Episode, zu einem Schatten oder Stolperstein, um den wir in beiden Hälften Europas widerwillig herummanövrierten. Das verschlossene, bleiche und starke Gesicht János Kádárs
erschien immer wieder in den großen westeuropäischen Blättern, in den Illustrierten, neben ihm der Regierungschef des jeweils aktuellen Landes, optimistisch in die Zukunft blickend, wie auf den Ernteplakaten der fünfziger Jahre. János Kádár mit Olof Palme, mit Mitterrand, mit Margaret Thatcher, mit Andropow, mit Helmut Schmidt, mit Kurt Waldheim, mit Tito, mit Dubcek und Gagarin – mit allen; mit uns. Europa war sogar zum Spaßen aufgelegt, es gibt wieder ein K. u. K.: Kreisky und Kádár. Sehr ulkig. Wir grinsten damals trotzdem darüber, oder falls wir die Lippen streng zusammenpressten, nahmen wir doch (naturgemäß) die Vorteile aus all diesem Zynismus an. Freiheiten statt Freiheit, so lautete das Bonmot.

Die Diktatur ist per definitionem immerwährend. In ihr steckt keine Zeit, oder wenn doch, so ist sie eingefroren, sie vergeht also nicht. Uns erging es wie jenem Mann, der anno 1913 (ziemlich logisch) dachte, die Monarchie würde ewig bestehen. Ein solcher Mann hat eine eigene Sicht der Dinge. Ich musste mich 1989/1990 nachhaltig an gewisse Vorkommnisse gemahnen – denn wir wussten zwar, dass die Erinnerung anderer, zuweilen sogar ganzer Völker, unzuverlässig ist, siehe die Zahl der Antifaschisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Oder: bei uns trifft man beispielsweise kaum jemanden, der kein Opfer des kommunistischen Systems gewesen wäre, beziehungsweise dessen unerschrockener geheimer Zerstörer und Zersetzer, manchmal kommt es mir vor, als wären bei uns ausschließlich János Kádár und vielleicht noch seine Frau Parteigänger des Systems gewesen … Über all das wussten wir mehr oder weniger Bescheid, dass aber auch meine Erinnerung so unsicher ist, dass sie so schwankt und wankt, das hätte ich nicht gedacht.

Ich traf 1986 oder ’87 einen, wie man so sagt, Helden von 1956. Er war wirklich ein Held, wenn wir überhaupt wissen, was das ist; er wurde zum Tode verurteilt und kam erst nach vielen Jahren frei. Wir saßen in seinem Garten und tranken Wein (er produzierte, beziehungsweise produziert einen legendär schlechten Eigenbauwein), und er konnte nur über ’56 reden, sein Alpha und Omega war die Revolution, wir saßen im Garten und hörten diesem leidgeprüften, jedoch heiteren Mann zu. Was er sagte, war sehr interessant, interessant wie ein fernes, fremdes Märchen, und später, nach ’89, musste ich mich mit Gewalt daran erinnern, dass ich damals (im Garten) nicht dachte: Siehe, die Flamme lodert noch, und es gibt Gerechte, die die Idee bewahren, das Gedenken an die Freiheit, das letzte Quäntchen unserer Würde. Ich dachte vielmehr, das sei ein Mann der Vergangenheit, er lebe in der Vergangenheit, im Vergangenen, und dass ’56 für meine Kinder nicht mehr das Origo darstellen werde, und dass das kein so großes Problem, sondern nur ein kleines Problem sei. Denn das sei die Ordnung der Dinge, dachte ich. Das war aber nicht die Ordnung der Dinge.


Der 16. Juni, das magische Datum

Ich glaubte, am 16. Juni 1989 erfahren zu haben, worin diese Ordnung bestehe. Dass irgendetwas auch dann in der Gesellschaft fortlebe, wenn diese es vergessen habe. Wenn sie in ihrer großen Bedrängnis, inmitten der Gewalt, unter dem Imperativ des Überlebens untreu würde. Imre Nagy, der Anführer der Revolution, wurde am 16. Juni 1958 hingerichtet. Die Historiker streiten über die Frage, wie viel sowjetischer Druck dabei im Spiel war. Wie viel auch immer: es stand im elementaren Interesse Kádárs, Nagy (wie auch die Vergangenheit) zu eliminieren, der Tod (die Hinrichtung) Imre Nagys war eine Voraussetzung für das kádáristische System. In der Geschichte hatte zur selben Zeit nur einer von ihnen Platz.

Und in der Tat, als hätte das Geschehen auf Erden einen Regisseur, oder zumindest einen Dramaturgen, einen Fachberater: an jenem Tag, als das ungarische Oberste Gericht Imre Nagy rehabilitierte, am 6. Juli 1989, starb János Kádár. (Ich lese im ausgezeichneten Buch Péter Györgys, «Stumme Überlieferung», das unter anderem eben die wechselnden Zustände von 1956 zu beschreiben trachtet, dass während der Verlesung der richterlichen Begründung ein Zettel mit der Nachricht vom Tod Kádárs unter den Anwesenden, Verwandten, ’56ern zirkulierte. Das mag ein recht interessanter Augenblick gewesen sein, ein erfüllter, europäischer Augenblick, wie aus einem Hollywoodfilm.)


Jetzt, jetzt hört die Diktatur auf zu existieren

Die feierliche Wiederbestattung fand am 16. Juni 1989 auf dem Budapester Heldenplatz statt. Es war ein herausragender Augenblick, vielleicht der reinste, großartigste Moment der Wende. (Schreibe ich über diesen Tag, formuliere ich irgendwie gern, formuliert meine Feder heroisch.) Als erlebten wir die Einheit, die Größe, ja, ich kann behaupten, die Erhabenheit von 1956 von neuem. Den Moment der Wahrheit. Das großzügige, trunkene Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Nation. Lauter Eigenschaften, die man nur in romantischen Romanen erwartet. An diesem Nachmittag fand die furchtbare und zynische Einsamkeit Osteuropas ein Ende, die Revolution war aus der schon als ewig angenommenen Vergessenheit hervorgetreten, die singenden, erschütterten Menschen auf dem Platz bildeten eine Gemeinschaft, der Übelkeit erregende Eisblock der Zeit war geschmolzen. Wir dort auf dem Platz, wir wussten es: Jetzt, jetzt, in diesem Augenblick hört die Diktatur auf zu existieren.

Um mich lächerlich auszudrücken: ich bin nicht gerade von revolutionärer Wesensart, dort aber konnte ich kein Zuschauer bleiben, das Gemeinschaftsgefühl ergriff auch mich. Ich sollte es vielleicht nicht erwähnen, doch ich will es trotzdem. Dem Anschein nach handelt es sich vielleicht um einen eindeutigen Fall eitler Prahlerei, der jedoch die Irrealität, die märchenhafte Vollkommenheit jenes Nachmittags eingängig veranschaulicht. Nicht nur, dass wir aus herumstehenden Menschen urplötzlich zu einem Volk geworden waren, wobei alle Parolen Gültigkeit erlangten, wir waren das Volk und wir waren wieder wer (ein ziemlich blasierter Zusatz: wir gewannen höchstwahrscheinlich sogar rückwirkend die WM von 1954), auch der Schriftsteller und sein Leser vereinten sich leichthin und triumphierend.
 

Heute ist ’56 das Prunkstück der Vergangenheit

Wir legten jeder eine Blume vor dem Grab nieder, danach gingen wir an der (aus uns selbst bestehenden) Menge vorbei, um uns von der Seite her wieder an unseren Platz zu stellen. Als ich meine Blume niederlegte, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, dass jemand sich in der Menge vorwärts drängelte, als wollte er zu mir. Ich weiß noch, es ist mir romantisierend in den Sinn gekommen, er könnte ein Terrorist sein, doch war dieses Wort damals noch nicht in Mode, also hätte er ein Attentäter sein können. Ich war bereit, Franz Ferdinand zu sein. Ich war völlig frei von Angst, an jenem Nachmittag hatte niemand Angst, wiewohl das nicht jedem bewusst war, wie auch nicht jeder wusste, dass in der Zeit davor jeder immer Angst gehabt hatte; in einer Diktatur kann man nur Angst haben. (Nein: zugleich Angst haben und Angst verbreiten.)

Als er auf Hörweite herangekommen war, rief dieser junge Mann seinem Autor zu: Ja, wir haben es gelesen, am sechzehnten Juni! Ja! Wir haben es gelesen! Ja!

Das bezog sich auf mein Buch «Einführung in die schöne Literatur», das tatsächlich von diesem Datum durchwoben ist, die ungarische Intertextualität steht von diesem Gesichtspunkt her unter einem glücklichen Stern, hier fließen sprachliche Eleganz und geschichtliche Brutalität ineinander, ist doch der 16. Juni zugleich der Bloomsday von 1904, und seitdem auch die imaginäre Zeit eines jeden Romans, wie auch jener mörderische Tag des Jahres 1958. Diese zweifache Anspielung des Romans war im höchsten Grad geheimnisumwoben, insofern der gesellschaftlichen Amnesie entsprechend niemand sich an den Tag der Hinrichtung erinnerte und der gesellschaftlichen Provinzialität entsprechend auch nicht an den «Ulysses»-Tag. Dieser Ruf zeigte dort ein herrliches (und natürlich falsches) Bild, als wäre auch die Düsterkeit urplötzlich gewichen. Keine Angst, keine Engherzigkeit, weder Unkultur noch Einsamkeit, stattdessen Seligkeit, sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft. Und zu allem Überfluss schien auch noch die Sonne.

Das ist mein 1956. Dort und damals haben wir die Revolution gefunden, um sie dann bis heute wieder zu verlieren. ’56 existiert heute lediglich als politische Beute, um die Vergangenheit toben provinzielle Schlachten, und ’56 ist das Prunkstück der Vergangenheit. Wir haben den natürlichen Rhythmus des Vergessens und Erinnerns noch nicht gefunden. Die Kádár’sche Amnesie ist stärker als angenommen. Nur schwer tauschen wir die Reflexe des Überlebens gegen die des Lebens. Alles, was im Jahr 1956 und in den folgenden erstarrten Jahren zerbrochen ist, das ist in diesem Zustand verblieben: zerbrochen. Die Vorzeichen für die Feierlichkeiten zum halben Jahrhundert sind nicht eben verheißungsvoll. Es wäre gut zu wissen, was ’56 eigentlich ist. Denn es hat mehrere Wahrheiten, mehrere Gesichter. Was es ablehnte, lehnte es einheitlich ab (die Diktatur), seine Absichten hingegen waren ungleich, ja, Freiheit, Unabhängigkeit – aber wie? Arbeiterräte? Eine bürgerliche Demokratie? Reformsozialismus? Da konnte keine Einheit herrschen.

Es heißt, die Revolution gehöre der Jugend. Einer Studie zufolge haben lediglich zwanzig Prozent der ungarischen Studenten von der 1956er Revolution gelernt. Einige reihten Sándor Petöfi, den Volkshelden von 1848, auch bei den ’56ern ein. Vor ein paar Jahren gab es eine Abstimmung über die hervorragendsten Personen der ungarischen Geschichte. Wenn wir nachfragten, hätte ihm (fast) niemand seine Stimme gegeben, doch kam János Kádár unter die ersten drei.

’56 nicht zu verlieren, liegt gewissermaßen im gemeinsamen europäischen Interesse. Als Probe der Selbsterkenntnis.

 

Aus dem Ungarischen von György Buda

 

Péter Esterházy, geboren 1950, ist Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2004. Zuletzt erschienen auf Deutsch sein Familienroman «Harmonia Cælestis» samt der Nachschrift «Verbesserte Ausgabe» sowie seine groß angelegte «Einführung in die schöne Literatur» und das Fußballbuch «Deutschlandreise im Strafraum».

 

Erich Lessing
Budapest 1956. Die Ungarische Revolution
Mit Beiträgen von György Konrad, François Fejtö, Erich Lessing und Nicolas Bauquet.
Christian Brandstätter, Wien 2006, 252 S., 200 Duotone-Abbildungen, 39,90 €

Paul Lendvai
Der Ungarnaufstand 1956. Die Revolution und ihre Folgen
C. Bertelsmann, München 2006. 318 S., 22,95 €

György Dalos
1956. Der Aufstand in Ungarn
C. H. Beck, München 2006. 246 S., 19,90 €

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