Walter Benjamin. Ein Kaleidoskop - Der Anti-Pessimist

In den Schriften zur Erziehung und Geschichtsphilosophie findet sich eine Ethik der Generationen

Walter Benjamin, den Hannah Arendt als den seltsams­ten Marxisten bezeichnet hatte, den diese an Seltsamkeiten nicht arme Bewegung hervorgebracht habe, hat mich seit je wegen seiner Janus-Gesichtigkeit als apokalyptischer Geschichtsphilosoph sowie als einfühlsamer Theoretiker von Kindheit und Erziehung nicht nur (man verzeihe die abgenutzten Begriffe, aber hier treffen sie einmal zu) interessiert, sondern wirklich fasziniert. Warum?

Der 1892 als Sohn eines gutbürgerlichen jüdischen Antiquars in Berlin geborene Benjamin fand als Jüngling schnell zu einer Radikalität, die ihn von den Sprechsälen der Freideutschen Jugend in den Umkreis des Kommunismus führte, dem er durchaus distanziert gegenüberstand. In einem Brief an den Jugendfreund Scholem, der inzwischen in Jerusalem lebte, kommentierte Benjamin die eigene politische Entwicklung: «Immer radikal, niemals konsequent in den wichtigsten Dingen zu verfahren, wäre auch meine Gesinnung, wenn ich eines Tages der kommunistischen Partei beitreten sollte (was ich wiederum von einem letzten Anstoß des Zufalls abhängig mache).»

Benjamin, der im März 1933 vor der nationalsozialistischen Verfolgung nach Frankreich fliehen musste, verfasste in den Jahren des Exils nicht nur die «Berliner Kindheit», sondern 1940 auch die Thesen «Über den Begriff der Geschichte». Hier schießen theologische Intuitionen, marxistische Einsichten und die bestürzende Wahrnehmung des apokalyptischen Niedergangs der Moderne zu einer negativen Geschichtsphilosophie zusammen, die als Ausweg nur noch eine messianische Revolution der Unterdrückten offenlässt.

Vor dem Hintergrund dieses apokalyptischen Panoramas entfaltet Benjamin gleichzeitig eine sensible Theorie der Generationenverhältnisse, die in eine Ethik der Zeitlichkeit mündet. Sowohl in seinen pädagogischen als auch in seinen geschichtsphilosophischen Thesen geht es Benjamin um eine Ausweitung des moralischen Universums in der Zeit und in die Zeit; um eine relative Abwertung der Gegenwart und ihres allmählichen Fortschritts zugunsten einer erfüllten Vergangenheit und Zukunft unter dem Rubrum einer «Hoffnung um der Hoffnungslosen» willen. In den «Geschichtsphilosophi­schen Thesen» hat Walter Benjamin den kühnen Gedanken gewagt, dass auch die Toten vor Verfolgung nicht sicher sind: «Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.»

Die hier angelegte Lehre historischen Unrechts und «anamnetischer Solidarität» (Helmut Peukert) hat Konsequenzen bis in methodologische Fragen der Historiografie hinein: «Die Einfühlung in den Sieger», so formulierte Walter Benjamin 1940, «kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugute.» Benjamins vielfach missverstandene Lehre von der historischen Zeit richtet sich jedoch keineswegs gegen jede Idee allmählicher Verbesserung der Verhältnisse, sondern nur gegen eine Sicht der Geschichte, die die «Zeit» lediglich als gleichsam leere Form des Geschehens ansieht. Dieser formalen Betrachtung setzt er eine existenzielle Theorie der Zeitigung und der erfüllten Zeitpunkte entgegen: eine Theorie lebendiger Zeit, die in einem generationenübergreifenden Kontinuum steht.


«Wer möchte einem Prügelmeister trauen?»

Ging es Benjamin in der Revolutionstheorie um die Beziehung zu den Dahingeschiedenen, so in seinen pädagogischen Schriften um die künftigen Generationen. Benjamin – der sich zeit seines Lebens in autobiografischen Schriften wie in materialen Analysen mit Kindern und deren Welt befasste – äußerte sich in der Aphorismensammlung «Einbahnstraße» (1928) zur zentralen Frage aller Erziehung: «Wer möchte aber einem Prügelmeister trauen, der Beherrschung der Kinder durch die Erwachsenen für den Sinn der Erziehung erklären würde? Ist nicht Erziehung vor allem die unerläßliche Ordnung des Verhältnisses zwischen den Generationen und also, wenn man will, Beherrschung der Generationsverhältnisse und nicht der Kinder?»

Worum es Benjamin (der schon früh mit der Religionsphilosophie Franz Rosenzweigs und den Schriften Franz Kafkas in Berührung gekommen war) letztlich ging, und was er in seinen pädagogischen und geschichtsphilosophischen Schriften lediglich entfaltete, hat er in seinem Essay über Goethes «Wahlverwandtschaften» dargelegt. Diese Schrift endet mit folgenden Worten: «Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.» Über die Herkunft dieser Formel ist nicht wenig gerätselt worden. In ihr klingt nicht nur die biblische Hoffnung wider alle Hoffnung an, die Paulus unter Bezug auf Abraham und die Bindung Isaaks zitiert, sondern auch und immer das Werk Franz Kafkas.

Benjamins Essay über die «Wahlverwandtschaften» entstand im Jahre 1922, sein Essay über Kafka 1934. Dort heißt es über Kafkas «Prozeß», dass sich ihm entnehmen lasse, wie «dieses Verfahren hoffnungslos für die Angeklagten zu sein pflegt – selbst dann hoffnungslos, wenn ihnen die Hoffnung auf Freispruch bleibt». Benjamin bemüht in diesem Zusam­menhang eine Überlieferung Max Brods, wonach Kafka zwar in einem Gespräch die Menschen als nihilistische Gedanken Gottes bezeichnet, gleichwohl eine gnostische Deutung dieses Sachverhalts abgelehnt habe. Auf eine Frage Brods nach der Möglichkeit einer außerweltlichen Hoffnung habe Kafka schließlich geantwortet: «Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung – nur nicht für uns.»

In den «Geschichtsphilosophischen Thesen» kulminierte diese allem Pessimismus entgegengesetzte Zukunftszuwendung in einer Lehre von der messianischen Jetztzeit: «Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.»

Walter Benjamin starb auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Der Versuch einer Gruppe von Flüchtlingen, Ende September 1940 bei Portbou aus der so genannten «Freien Zone» Frankreichs die Grenze nach Spanien zu überschreiten, scheiterte wohl daran, dass am 26. des Monats die spanische Grenze gesperrt wurde und die Flüchtlinge zurückgeschickt werden sollten. Das hätte für den schwer herzkranken Benjamin den Tod bedeutet. In der Nacht nahm er eine Überdosis Schlaftabletten und starb am nächsten Morgen an der Vergiftung. Darauf – so wird erzählt – hätten die spanischen Grenzer es seinen Begleitern erlaubt, die Grenze zu überqueren. Die genaue Lage von Walter Benjamins Grab ist bis heute unbekannt.

 

Micha Brumlik lehrt Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Soeben veröffentlichte er «Vernunft und Offenbarung. Religionsphilosophische Versuche» sowie
«Ab nach Sibirien? Wie gefährlich ist unsere Jugend?».

 

Walter Benjamin
Goethes Wahlverwandtschaften
In: Gesammelte Schriften, Bd I: Abhandlungen.
Hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1991. 1276 S., 30 €

Franz Kafka
In: Gesammelte Schriften, Bd. II: Aufsätze, Essays, Vorträge.
Hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1991. 1526 S., 33,50 €

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