Bücher des Monats - Abwehrzauber gegen die Leere

Warum die Selbstdarstellung der politischen Macht einen Eigenwert hat – nicht nur im Absolutismus

Die um 1960 einsetzende Epoche des so genannten französischen Denkens hatte da­rin ihre Größe und ihre Begrenzung, dass sie die gesamte Kultur mit der Sonde unortho­doxer Sprachtheorien durchleuchtete. Das hierin vielleicht schlagendste Werk, Jacques Derridas «Grammatologie», betonte jedoch auch die Bildhaftigkeit aller Sprachformen, um einer sprachbezogenen Verdünnung vorzubeugen. Michel Foucaults «Die Ordnung der Dinge», das zweite, nicht minder paradigmatische Werk, blieb hinter dieser Lösung des Grundkonflikts zwischen dem Diskursiven und dem Ikonischen zurück. Das berühmte, Velazquez’ «Las Meninas» («Die Hoffräulein») gewidmete erste Kapi­tel blieb ein Zusatz zum Text, ein seltsam unverbundenes Frontispiz.

Durch Übersetzungen ist seit einigen Jahren Louis Marin auch im deutschen Sprach­raum zunehmend präsent, jener Phi­losoph, der diese Lücke so intensiv wie wohl niemand seiner Zeitgenossen zu füllen versucht hat. Als er 1992 im Alter von 61 Jahren starb, widmete ihm Jacques Derrida einen bewegenden Nachruf über das Schreiben als Trauern. Das jüngst übersetzte Buch Marins, das vor genau 25 Jahren auf Französisch erschienene «Porträt des Königs», ist insofern das Gegenstück zu Derridas «Grammatologie», als es den Kosmos der Bilder, der bildlichen Repräsentationsformen, in langen Anläufen von der Narration und der Theo­rie des absoluten Herrschers her durchdenkt. Damit entwickelt es das Besondere des Visu­ellen von seinem Gegenpol her.


Mehr malen als erzählen

Dies geschieht in eindringlichen Analysen vorwiegend von Texten. In Blaise Pascals Fragment über «Gerechtigkeit und Gewalt» analysiert Marin das Zusammenspiel nackter Gewalt, wie sie im Militär als Fortsetzung eines unverstellten Körpers des Monarchen sichtbar wird, mit der imaginären Präsenz der körperlichen Vermehrung, wie sie von den Perücken bis zu den Tänzen und Ritualen reicht. Über die Weise, wie der Historiker Paul Pellisson im 17. Jahrhundert eine Geschichte Ludwigs XIV. begründete, erkennt Marin das Paradoxale der absoluten Macht: Sie ist trotz ihrer Unbegrenztheit nicht fähig zur Selbstreflexion und muss daher auf die dritte Person des Erzählers bauen. Als solcher empfindet sich der Chronist Pellisson, indem er nicht allein die Fakten über Ludwig XIV. zusammenstellt, sondern verschiedene Perspektiven einnimmt – wie es dem Maler möglich ist. Indem er «Ich» und «Er», Tatauge und Zuschauer zugleich ist und sowohl den Tatort wie auch den Distanzpunkt einzunehmen versteht, beansprucht er als Historiker, «mehr zu malen als zu erzählen».

Nachdem Marin so die Notwendigkeit rekonstruiert hat, dass sich die absolute Macht eines Dritten bedienen muss, um sich selbst erkennen oder zumindest spiegeln zu können, macht er in einem beson­ders poetischen Kapitel die Gegenrechnung auf: Er analysiert Jean de La Fontaines Fabel vom Fuchs und dem Raben als rhetorische Reflexion über die Verwandlung von Schmeichelei in Käse – und damit von Sprache in Nahrung. Hier zeigt sich die Lebensform einer gewagten, weil parasitären Existenz, wie sie etwa auch in Jean Racines listi­gen Lobreden auf den König aufscheint.


Die Körper des Königs verschmelzen

Zu den Glanzstücken des Buches gehört Marins Auslegung der Karte von Paris, die Jacques Gomboust im Jahre 1652 vorgelegt hat. Diese Karte verkörpert in all ihrer Ge­nauig­keit den symbolischen Raum unendlich gedachter Herrschaft. Dasselbe gilt für die Beschreibung des Palastes von Versailles, verfasst von dem Architekten André Félibien. Sie begreift die gesehene und erlebte Wirklich­keit des riesigen Bauwerks als Mikrokos­mos einer makrokosmischen Herr­schaft. Die­se manifestiert sich eher in Fes­ten als in Gebäu­den, weil ihr Aufführungscharakter von vorn­herein eine Verweisstruktur besitzt.

Die Krönung aber bietet Marins Deu­tung von Félibiens Text über das Königs­portrait. Indem der Text durch das Gemälde hindurch dem Portraitierten selbst gilt, setzt er im Bildnis die Realpräsenz des Dargestellten voraus, der seinerseits auch als Kopie des Bildes erscheint. Die beiden Körper des Königs – der sterbliche, mit dem Tod verfallende Leib des Individuums und der unsterbliche, auf den Nachfolger übergehende Amtskörper – verschmelzen.

Hier schließt Marin eine Theorie der Zerstreuung an. Ihr zufolge muss der König sich permanent festlich und spielerisch betätigen, weil die Leere des Unausgefüllten zur Reflexion des menschlichen Elends führt. Dies aber bedeutet den Verlust der sakramentalen Sicherheit, herrschen zu können und die Herrschaft zu repräsentieren. Die Zerstreuung dagegen erhält den König als Herrscher am Leben. Im repräsentativen Bildnis seiner selbst kann er sich zu jedem Moment betrachten – der Blick auf den leeren Kern ist damit verstellt. Die letzte Bestimmung des repräsentativen Theaters liegt folglich darin, dem Herrscher die Möglichkeit zu verwehren, in die Selbst­reflexion abzustürzen. Es folgt dem Konzept, den Herrscher mit den Spiegeln seiner selbst zu umstellen, um zu verhindern, dass ihm das Nichts seiner Existenz bewusst wird. Im letzten Moment sind die repräsentativen Mittel ein Abwehrzauber gegen die reflexive Entleerung der absoluten Macht.


Mitterrands absolutistische Gesten

Das theoretische Vermächtnis Louis Marins steckt in der komplexen, begrifflich bisweilen überbordenden Einleitung. In immer neuen Anläufen verfolgt sie die Politisierung aller Repräsentationssysteme. Wenn Macht per se keine aus sich selbst entstehende Grenze anerkennt, in der Wirksphäre der Taten aber mit immer neuen Hindernissen konfrontiert ist, dann ist es die Welt der Repräsentationen, die mit ihren Spiegel-, Verdop­pelungs- und Reaktionsweisen eine Bestim­mung der Herrschaft und ihrer selbstbezogenen Binnendynamik erlaubt. Es scheint, als habe Louis Marin die absolutistischen Gesten des Präsidenten François Mitterrand – man denke nur an die Entscheidung für die glitzernde Louvre-Pyramide von 1983 – analytisch gewittert.

Über Brücken, die Marin möglicher­weise selbst nicht bewusst waren, aktualisiert er Diskussionen, die sich in der Weima­rer Republik zwischen Hans Kelsen, Carl Schmitt und Leo Strauss um die Selbstbestimmung der frühmodernen Souveränität zuspitzten. Zugleich nimmt Marin Positionen vorweg, die mehr als zehn Jahre später Giorgio Agamben in seiner Theorie des Ausnahmezustandes eingenommen hat.

«Das Porträt des Königs» kommt als Übersetzung nur auf den ersten Blick zu spät. Ein Vierteljahrhundert nach seiner Erst­ver­öffentli­chung ist das Buch gerade in seinem Anachronismus aktuell. Mit der These, dass die Repräsentationsformen nicht etwa das Vehi­kel, sondern das ureigene Dominium ihres unbegrenzten Formierungswillens bilden, hat Marin die substanzielle Kraft alles Bildlich-Symbolischen betont. Und mit der Rekonstruktion der Verdoppelungen des Souveräns hat er das zeichenhafte Spiel der Repräsentationsformen verkörperlicht: So weist er die Bildpolitik in die Sphäre der Hand­lungen und nicht etwa in die ihrer blo­ßen Wiedergaben.

Hierin liegt der methodische Stellenwert des Buches. Denn indem es das freie Spiel der Repräsentationsformen als substanzielle Äußerung einer so erzählerisch wie bildhaft entfalteten Macht erklärt, spricht es gegen die Lehre, dass die freiflottierenden Zeichen des Symbolischen nur mehr ihren eigenen Adressaten besäßen. Diese Volte scheint in Marins Werk angelegt, ist aber peinlich vermieden. Insofern handelt es sich um ein Buch, das die Postmoderne rahmt. Auf sie zulaufend, ohne sie zu bestärken, ist es zugleich ein Werk nach dem 11. September 2001: weil es sich dem Luxus widersetzt, eine Welt zu denken, in der Zeichen und Wirkungen nicht verbunden sind. Dem angeblich freien Spiel der Codes hat sich Marin schon vor 9/11 entgegengestellt.

Hobbes wird nicht wahrgenommen

An zahlreichen französischen Texten, so auch an Marins Hauptwerk, fällt bisweilen auf, wie unempfindlich sie gegenüber Forschun­gen bleiben, die außerhalb ihres Sprachraumes entstanden sind. Vor allem verblüfft, dass Thomas Hobbes’ Auseinandersetzung mit den souveränen Hoheitsmitteln fehlt. In dieser Selbstbeschränkung liegt eine Schwäche, der die Stärke eines immer neu ansetzenden, sich in die Probleme gleichsam hineinspiralisierenden Denkens gegenübersteht. Marins Text, von Heinz Jatho hervorragend über­setzt, ist in Teilen bis zum Ärgernis verdreht, birgt aber eine Erkenntniskraft, die zu den Ausnahmeleistungen der Forschung zum repräsentativen Absolutismus gehört.

Es bleibt die Betrübnis, dass ein Dia­log zwischen Louis Marin und dem früh ver­storbenen Kunsthistoriker Stephan Germer nicht mehr stattfinden konnte. Germers nicht minder grandioses Werk «Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV.» (1997) präzisiert die historischen und bildtheoretischen Seiten der von Marin durchdrungenen Phänomene. Der Leser aber
fin­det in beiden Werken einander kom­ple­men­tär gegenüberstehende Zugänge, die gemein­sam Grundfragen der visuellen Re­prä­sen­tation erschließen.

 

Horst Bredekamp, Jahrgang 1947, ist Professor für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschien «Darwins Korallen. Die frühen Evolu­tions­diagramme und die Tradition der Naturgeschichte».

 

Louis Marin
Das Porträt des Königs
Aus dem Französischen von Heinz Jatho.
Diaphanes, Berlin 2006. 448 S., 49 €

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.