Nach dem Rücktritt von Anne Spiegel - Die Problemzone heißt SPD

Der Skandal um das Verhalten der damaligen rheinland-pfälzischen Umweltministerin Anne Spiegel während der Flutkatastrophe im Ahrtal greift jetzt auch auf Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) über. Die hatte nämlich vom Frankreich-Urlaub ihrer Ministerin gewusst. Jetzt ergehen sich Grüne und Sozialdemokraten in gegenseitigen Schuldzuweisungen - mit Folgen für die Bundespolitik.

„Das Ausmaß der Flutkatastrophe war nicht abzusehen“: Ministerpräsidentin Malu Dreyer im Ahrtal / dpa
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Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Anne Spiegel ist zurückgetreten, die Grünen lecken ihre Wunden. Sie trocknen die Tränen ihrer Parteijugend, die im Scheitern ihres vermeintlich so toughen Vorbilds einen Triumph ausgerechnet der verhassten Bild-Zeitung zu erkennen glaubt. Und sie versuchen, nun schnell aus ihrem selbst angelegten Quoten-Irrgarten herauszufinden, wenn es darum geht, „zeitnah“ die Nachfolge zu klären. Gar nicht so leicht: Anton Hofreiter ist zwar links, aber nicht Frau genug, Katrin Göring-Eckardt ist zwar Frau, aber nicht links genug, Katharina Dröge ist zwar Frau und links, aber nicht divers genug, und Ekin Deligöz, derzeit noch Staatssekretärin im verwaisten Ministerium, ist Frau, links und divers genug, aber ohne Leitungserfahrung, was in der Abwägung gegen sie spricht, nachdem die Grünen langsam begreifen, dass sie sich einen zweiten Fehlgriff besser nicht erlauben sollten.

In den Augen der SPD ist dieser Konflikt aber eher vernachlässigbar. Der Kanzlerpartei dämmert nämlich leise, aber unerbittlich, dass sie in noch viel größeren Problemen als die Grünen stecken könnte – und zwar auf Landes- wie auf Bundesebene. Es schwelt in Schwerin, Sitz einer SPD-Ministerpräsidentin in Erklärungsnot, es schwelt in Schloss Bellevue, Sitz eines diskreditierten Bundespräsidenten, es schwelt sogar im Berliner Kanzleramt, wo sich Olaf Scholz mit nunmehr zwei Koalitionspartnern konfrontiert sieht, die von seinem unverändert leisetreterischen Kurs gegenüber Rußland gar nichts mehr halten, sondern endlich Führung verlangen – und hard stuff, nämlich Panzer für die Ukraine.

Ausreden aus dem Hause der hinhaltenden, mit der Lage überforderten Verteidigungsministerin, was und warum alles nicht gehe oder frühestens in einem Jahr, werden von FDP- und Grünen-Ministern, soviel ist nach Baerbocks Statement von gestern klar, nicht länger akzeptiert. Der Kanzler lernt gerade: Feministische Außenpolitik ist kein Gedöns, sondern bedeutet, dass eine russische Armee, die systematisch Frauen und Kinder vergewaltigt und ermordet, möglicherweise jetzt sogar Giftgasbomben abwirft, ab sofort auch aus Deutschland gefälligst mit hartem Widerstand zu rechnen hat. Abschreckung first, Pazifismus nicht einmal mehr second. Die Situation ist da. Joschka Fischer, Ausgabe 1999, reloaded.

SPD-Ministerpräsidentin in Erklärungsnot

Haben wir, dieser Gedanke blitzt im Regierungsviertel bereits sekundenweise hier und da auf, in der SPD den falschen Regierungspartner gewählt? Erfordert der Krieg vielleicht eine ganz andere, eine Jamaika-Konstellation, weil es die Sozialdemokraten angesichts historischer Herausforderungen schlicht nicht bringen? Brauchen wir wenn schon nicht eine andere Koalition, so doch eventuell wechselnde Mehrheiten – mit SPD, Linken und AfD dann in der Opposition, wenn es darum geht, im Bundestag Putins Wüten und Morden wirksam Einhalt zu gebieten? Wenn das, verglichen mit einem Minimal-Impfgesetz, nicht erst recht eine Gewissensfrage ist – was sonst?

Damit aber nicht genug. Es schwelt nämlich auch in Mainz, Sitz einer weiteren SPD-Ministerpräsidentin in Erklärungsnot, ausgerechnet sie, die bisher in allen Parteikrisen als sichere Bank galt, unkaputtbar, unangreifbar, Kreditgeberin der letzten Instanz, wenn es rundherum in der ältesten Partei Deutschlands krachte und splitterte.

Spulen wir das politische Geschehen ein wenig zurück. Der Krieg gegen die Ukraine wurde für einige Tage in den Hintergrund gedrängt durch das ungleich unwichtigere Ringen der Bundesfamilienministerin um ihre Karriere. Wenn wir, so der leitende Gedanke ihrer Unterstützer, aus dieser Geschichte eines individuellen Versagens einen großen Kulturkampf machen, in dem es nur vordergründig um die Eignung einer Grünen-Ministerin geht, tatsächlich aber – wie im rot-grün-gelben Koalitionsvertrag vom 7. Dezember 2021 nachzulesen – um die gesamte „Transformation“ der deutschen Gesellschaft, dann und nur dann haben wir eine Chance, eine im Moment durchaus drohende Niederlage nicht nur abzuwenden, sondern den Konflikt sogar zu einem geradezu historischen Sieg zu führen.

Das war der Plan, entwickelt in den Tagen nach dem 8. März, Internationaler Frauentag, ausgerechnet, an dem erste Meldungen hochpoppten, nach denen der damaligen Ministerin für Klima und Umwelt in Rheinland-Pfalz vor allem ihr eigenes Image wichtig gewesen sei, nicht aber Abwehr und Management einer Jahrhundertkatastrophe. Anne Spiegel habe sich zudem mit grob falschen und damit de facto tödlichen Pressemitteilungen hervorgetan, Hauptsache korrekt gegendert.

Vor dem Untersuchungsausschuss war es mit der Frauensolidarität vorbei

Es stand nach dieser feministischen Lesart schlagartig viel mehr auf dem Spiel als die Karriere einer radikal linken Politikerin. In der Causa Anne Spiegel ging es in Wirklichkeit von Anfang an auch um die Lieblingsprojekte einer ganzen links-grünen Bewegung, von denen die Durchsetzung von Gender-Ideologie, Identitätsbesessenheit und grenzenloser Zuwanderung nur die offensichtlichen sind. Die 41-Jährige stand für diese Ziele wie keine andere. Nur deshalb wurde sie Bundesministerin – und nur deshalb wurde sie ein dreiviertel Jahr lang verbissen verteidigt, obwohl ihr Versagen auf Landesebene bereits am Mittag des 15. Juli 2021 für jeden, der Augen hatte zu sehen, offensichtlich war.

Auch und besonders für ihre damalige Chefin und Duz-Freundin Marie-Luise Dreyer.

Doch die Regierungschefin und heimliche SPD-Vorsitzende brauchte die „liebe Anne“ noch als Kugelfang und Bauernopfer. Deshalb hielt sie still. Kein Sterbenswörtchen war ihr der Frankreich-Urlaub ihrer damaligen Stellvertreterin wert, über den sie als Regierungschefin „selbstverständlich“, wie sie nun selbst erklärte, vorab im Bilde gewesen sei.

In der Nacht zum vergangenen Samstag, als Frau Dreyer erstmals selbst als Zeugin vor den Untersuchungsausschuss zu treten hatte, war es dann schlagartig mit der großen Frauensolidarität vorbei. Indirekt gab sie in ihren Antworten durchgehend dem Umweltressort von Anne Spiegel die Schuld daran, dass sie bis zum Morgen des 15. Juli lediglich mit einer der üblichen, zwar durchaus katastrophalen, aber keineswegs tödlichen Hochwasserlagen gerechnet habe – und dies nicht etwa an der Ahr, sondern an den großen Flüssen Mosel und Rhein, womit sie auch geographisch unzureichend – so ihre Darstellung – orientiert gewesen sei.

Der Spiegel fasst die Auftritte der beiden Sozialdemokraten Lewentz und Dreyer wie folgt zusammen: „Die zentralen Aussagen der rheinland-pfälzischen Regierungsmitglieder ähneln sich stark: ,Das Ausmaß der Flutkatastrophe an der Ahr war am Mittwoch, dem 14. Juli, noch nicht abzusehen‘, behauptete Dreyer. Innenminister Lewentz und sein Staatssekretär hatten in ihren Befragungen ähnlich argumentiert. Erst am 15. Juli, also am Tag nach der Flut, sei allmählich ein dramatisches Lagebild erkennbar geworden: Dann erst seien erste Berichte von Todesfällen bestätigt und stündlich ansteigende Vermisstenzahlen gemeldet worden. Am Tag zuvor sei er noch von einem starken, aber beherrschbaren Hochwasser ausgegangen, sagte Lewentz.“

Gestern nun brachte es Frau Dreyer sogar fertig, ganz beiläufig die Erzählung von einem „lediglich“ vierwöchigen Urlaub ihrer Stellvertreterin zu vernichten. In Altenahr gab sie vor laufender Kamera ein Statement, das Frau Spiegel nur scheinbar entlasten sollte. Dreyer versicherte harmlos, das Umweltressort sei auch während jener fünf Urlaubswochen in jeder Kabinettssitzung durch einen Staatssekretär oder eine Staatssekretärin vertreten gewesen. Und selbstverständlich habe die damalige Umweltministerin der Staatskanzlei ihre Abwesenheit zuvor mitgeteilt, und zwar – so zitiert der Südwestrundfunk Malu Dreyer – „in der Zeit von Spiegels Urlaub zwischen dem 23. Juli und dem 29. August“ – was volle fünf Wochen inklusive Wochenenden ausmacht und nicht vier. Die Regierungschefin wusste es also nach eigener Aussage spätestens seit jenem Freitag, 18. Juli 2021, also seit neun Monaten, dass Duzfreundin Spiegel abgehauen war und die Opfer der Flutkatastrophe aus privaten Gründen länger als einen Monat im Stich ließ.

NRW-SPD bringt Dreyer in die Bredouille

Ausgerechnet jetzt kommt die SPD in Nordrhein-Westfalen auf die Idee, auszuprobieren, ob sich die Informationspolitik des Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU) 200 Kilometer weiter nördlich als Wahlkampfschlager eignen könnte. Wüst war Ende vergangener Woche ins Schwurbeln geraten, als er erklären sollte, seit wann er von der Mallorca-Sause seiner Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) sowie weiteren CDU-Ministern gewusst habe. Seine Auskunft: „Ich habe jetzt im Rahmen der letzten Tage davon erfahren.“

Jetzt im Rahmen der letzten Tage? Wenn ein Politiker zu derart halsbrecherischen Sprachkonstruktionen greifen muß, dann ist etwas faul. Das vermutet auch die Düsseldorfer SPD, wittert Morgenluft und verlangt nun von Wüst präzise Auskunft in der Vermutung, dieser Ministerpräsident, der am 15. Mai sein gerade erst von Armin Laschet geerbtes Amt gleich wieder zu verlieren droht, habe hier etwas zu verbergen. Das wiederum veranlasste die Süddeutsche Zeitung heute zu der Schlagzeile „Hat Hendrik Wüst zwei Wochen lang geschwiegen?“

Antwort: Mag sein. Nur: Marie-Luise Dreyer hat neun Monate lang über den Fünf-Wochen-Urlaub von Anne Spiegel geschwiegen und damit der Bevölkerung, der Öffentlichkeit und dem Untersuchungsausschuss bewusst und vorsätzlich eine wichtige Information vorenthalten. Die Ministerpräsidentin überließ es lieber der Bild-Zeitung, den Sachverhalt ein dreiviertel Jahr später aufzuklären, so geschehen am Sonntag, was innerhalb eines weiteren Tages dazu führte, dass die Grünen den Rücktritt ihrer dauerlügenden Dauerurlauberin erzwangen. Dass sich Frau Dreyer über Relevanz und Brisanz dieser Information nicht im Klaren gewesen war, darf nach 27 Jahren im politischen Geschäft als ausgeschlossen gelten.

Zwei Bundesländer, verbunden durch die Ahr, damit verbunden durch eine Flutkatastrophe, miserables Katastrophenmanagement und damit viele Todesopfer, eines aber SPD-regiert, das andere CDU-regiert, letzteres voll in einem harten Wahlkampf – diese Konstellation führt nun mit Verzögerung zur Zündung von Zeitbomben in beiden Staatskanzleien und mehreren Ministerien. Noch einmal Bild, heute mit einem Foto der Rentnerin Ursula Hildebrand (86) aus Ahrweiler: „Ich kann Frau Spiegels Urlaub nicht gutheißen. Wir haben unser Haus und zwei Ferienwohnungen verloren und sie nahm sich eine Auszeit. Aber warum ist niemandem aufgefallen, dass sie weg war?“

Gute Frage. Nur: Es ist sehr wohl aufgefallen, wurde aber von der Ministerpräsidentin aus parteitaktischen Erwägungen neun Monate lang unter der Decke gehalten. Wie übrigens auch die Tatsache, dass Malu Dreyer kein Problem damit hatte, dass Spiegels für Hochwasserschutz verantwortlicher Staatssekretär Manz zur gleichen Zeit wie seine Chefin verreiste, also wenige Tage nach der Jahrhundertflut, und damit weder an den regulären noch an den zusätzlich anberaumten Sitzungen des Kabinetts teilnehmen konnte. Dies alles sind unbestrittene, sogar auf eigenen Aussagen der beiden Zeugen beruhende Ergebnisse der jüngsten Sitzung des Mainzer Untersuchungsausschusses.

Spiegels Staatssekretär Erwin Manz blieb bisher unbehelligt

Malu Dreyer hätte diese Absenzen zwecks Bewältigung der größten Krise seit Gründung des Landes Rheinland-Pfalz als Regierungschefin verhindern können und verhindern müssen. Sie tat es nicht und behielt auch die Kenntnis über dieses verantwortungslose Verhalten der „lieben Anne“ und des „lieben Erwin“ – offenbar als eine Art Joker – bis zu diesem Wochenende in der Hinterhand.

Eine Erklärung wäre interessant, aber bisher fand sich kein Qualitätsmedium, eine solche von ihr zu verlangen. Stattdessen ließen Dreyer und Lewentz die ehemalige Umweltministerin fallen wie eine heiße Kartoffel. Es ist die Reaktion auf Spiegels Staatssekretär Erwin Manz und seine Aussage vom 11. März, als er das Schweigen des Umweltministeriums während der Flutnacht damit begründete, sein Ressort sei nicht für den Katastrophenschutz zuständig, sondern das des Kollegen Innenminister.

Damit begann das von Anne Spiegel bereits am Morgen nach der Flutnacht befürchtete interkoalitionäre Blame Game zwischen SPD und Grünen – mit neun Monaten Verspätung, dafür nunmehr aber in voller Entfaltung, mit allen denkbaren rhetorischen Tricks – und mit erstaunlicher Perfidie und Brutalität. Fortsetzung folgt, spätestens nach der Osterpause des Mainzer Landtags.

Spiegels Staatssekretär Erwin Manz blieb übrigens bisher genauso unbehelligt im Amt wie der Kollege von der SPD. Aber die Rücktritte der Ministerinnen Heinen-Esser in Düsseldorf und Spiegel in Berlin haben eine ohnehin wackelige Konstruktion erschüttert und bringen nun auch in Mainz die Verhältnisse ins Rutschen. Stichworte: Malu Dreyer, Roger Lewentz, Medienversagen unter besonderer Berücksichtigung von SWR und ZDF, Organisation, Verantwortung, Führungsversagen. Cicero liegen erste Mitschriften der Zeugenaussagen vor und wird weiter berichten. Malu Dreyers Plan, sich hinter Anne Spiegels Fehlern so lange zu verstecken, wie es irgend geht, um selbst unbeschädigt aus der Flut-Affäre hervorzugehen, löst sich gerade in nichts auf. Er war zu clever, um klug zu sein.

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