Politische Korrektheit - Messerangriffe: Bloß nicht sagen, was ist

In den letzten Monaten kam es immer wieder zu Messerangriffen von Migranten. Doch statt der unangenehmen Wahrheit ins Auge zu sehen, drucksen große Teile der Politik und der Medien um die Verwahrlosung des öffentlichen Raums herum.

Tiefe Trauer nach dem schrecklichen Ereignis in Brokstedt / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Warnung: Dieser Beitrag kann Spuren von Sarkasmus enthalten. Damit ist nicht auszuschließen, dass Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang bereits die Lektüre als feindselige Unterstützung, mindestens aber schweigende Duldung einer „Delegitimierung des Staates“ inklusive einer „Verächtlichmachung demokratisch gewählter Repräsentanten“ auffasst. Das wiederum kann die Mitarbeiter des von ihm 2021 hierfür neu eingerichteten „Phänomenbereichs“ auf den Plan rufen. 

Die bewusst unscharf gehaltenen Grenzen des noch als „legitim“ (nicht etwa „legal“) betrachteten „Protestes“ sind schnell überschritten. Legal ist etwas, das nicht gegen ein Gesetz eines Rechtsstaats verstößt. Legitimität hingegen ist eine subjektive Kategorie auf der Basis persönlicher moralischer und sittlicher Vorstellungen – in diesem Fall jene des Behördenleiters Haldenwang. 

Messerangriffe in den letzten Monaten

18. Oktober 2022: Ein Somalier (25) ersticht in Ludwigshafen-Oggersheim ohne erkennbaren Anlass zwei Männer, 20 und 35 Jahre alt. Seither wird er psychiatrisch untersucht. Zu seinen Beweggründen sagt er nichts.

5. Dezember 2022: Ein 27 Jahre alter Asylbewerber aus Eritrea geht wie besessen in Illerkirchberg nahe Ulm mit einem Messer auf zwei Schulmädchen los. Eine 14-Jährige stirbt, ihre 13 Jahre alte Freundin kommt schwer verletzt ins Krankenhaus. Der Täter sagt nach wochenlangem Schweigen, er habe die beiden nicht gekannt. Ohnehin könne er sich an ein zweites Opfer gar nicht erinnern.

25. Januar 2023: In einer Regionalbahn nahe Brokstedt rastet ein 33 Jahre alter, wohnungs- und staatenloser Palästinenser aus und verletzt mehrere ahnungs- und wehrlose Fahrgäste mit einem Messer. Ein Pärchen, 17 und 19 Jahre alt, verblutet noch an Ort und Stelle, fünf weitere Bahnkunden kommen schwerverletzt ins Krankenhaus. 

Ermittlungen eingestellt

Der Täter war den Behörden seit seiner Einreise im Jahr 2014 wegen lebensbedrohlicher Messerangriffe und mehr als 20 weiteren Straftaten in Nordrhein-Westfalen und Hamburg innerhalb kürzester Zeit bekannt. Zu einer nachhaltigen Ahndung, die auch einen wirksamen Schutz der Bevölkerung dargestellt hätte, kam es jedoch nie. Die meisten Ermittlungsverfahren wurden laut Staatsanwaltschaft Bonn aus den verschiedensten Gründen eingestellt. 

Erst sechs Tage vor den Morden von Brokstedt hatten ihn die Hamburger Justizbehörden in nach eigenen Angaben weitgehender Ahnungslosigkeit der Vorgeschichte aus einer Untersuchungshaft entlassen und auf die Straße gesetzt, weil U-Haft – so die zuständige Richterin – „ohne rechtskräftiges Urteil nicht länger angemessen“ gewesen sei. 

Mit Amt heillos überfordert

Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina, eine Nichtjuristin wie alle Landesminister der Grünen in diesem Ressort, rechtfertigte sich mit dem Argument, das Hamburger Gesetz zu Resozialisierung und Opferschutz habe hier nicht angewendet werden müssen, weil „Eingliederungsplan und Integriertes Übergangsmanagement nur für Strafhaft gelten, nicht für Untersuchungshaft“. 

In ihrer Partei genießt die schon zuvor umstrittensten Politikern der Hansestadt hohes Ansehen wegen ihres Engagements „für die Rettung von Geflüchteten aus Seenot und gegen die Behinderung und Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung“. Ihre Staatsrätin Katja Günther wurde von Gallina wenige Monate nach der Beförderung zur Justizsenatorin aus dem Amt gemobbt. Juristin Günther hatte ihre empirisch belegte, aus unmittelbarer Anschauung erwachsene Überzeugung, ihre Chefin Gallina sei mit ihrer Aufgabe heillos überfordert, nicht länger zu verschweigen vermocht.  

Während in Hamburg der politische Streit losging, übte sich Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) in politischer Schadensbegrenzung und Trauermanagement. In Neumünster vergewisserte sie sich in der Schule der beiden Mordopfer von den vorbildlichen Leistungen der Lehrkräfte, der Sozialarbeiter, der Schulpsychologen und des „guten Kriseninterventionsteams“ sowie einer ordnungsgemäßen „Aufarbeitung des Verbrechens durch die gesamte Schulgemeinschaft“. Die technokratische Abarbeitung der für solche Fälle gedachten To-do-Liste verlief reibungslos. Prien und ihr Chef, Ministerpräsident Daniel Günther, werden nicht müde, ihre CDU und speziell Friedrich Merz zu mehr „Weltoffenheit“ zu ermahnen und endlich „Zuwanderung als etwas Positives zu begreifen“, so zuletzt vier Tage vor dem Attentat vor der eigenen Haustür: Günther verlangte von Merz „mehr Sensibilität“ gegenüber Zugewanderten.

Faeser an Faeser – aber keine Antwort  

Zuvor hatte allerdings Nancy Faeser, designierte Spitzenkandidatin der hessischen SPD für die bevorstehende Landtagswahl, an Bundesinnenministerin Nancy Faeser öffentlich die Frage gerichtet, wie es denn sein könne, dass sich der Palästinenser ungeachtet seiner ellenlangen Liste von lebensbedrohlichen Straftaten immer noch in Deutschland habe aufhalten können, erhielt aber keine Antwort. Besuche einer der Damen an einem Krankenbett der Niedergestochenen oder in den Familien der Todesopfer sind ebenso wenig überliefert wie Forderungen aus Landes- oder Bundesregierung, deren Namen zu nennen. 

Wichtig war vielmehr auch hier die unverzügliche Beteuerung der persönlichen Betroffenheit mit eindringlicher Schilderung der eigenen Befindlichkeit, erkennbar an den griffbereit im PC der Pressestelle abgespeicherten Ich-ich-ich-Formeln wie „Ich bin in Gedanken ...“, „Ich trauere mit ...“, „Ich erwarte rücksichtslose ...“, „Ich bin zutiefst erschüttert von ...“, aber natürlich auch „Ich warne vor der Instrumentalisierung ...“, gerne tags darauf gefolgt von eindrucksvollen Bildern inmitten der Hilfs- und Rettungskräfte, „denen wir gar nicht genug für ihren Einsatz danken können“, letzteres mit dem Ziel, ein wenig vom Ansehen der Helfer auf sich selbst umzuleiten, wenn schon der Verdacht einer politischen Verantwortung für das neuerliche Gemetzel „an unschuldigen Opfern“ (Erzbischof Stefan Heiße, der offenbar auch schuldige Opfer solcher Taten kennt) so schwer auf der Hand liegt.    

Zauberworte gegen politische Konsequenzen

Die „Instrumentalisierung“ ist neben dem die deutsche Gesellschaft laut Bundesregierung durchdringenden „Rassismus“ das unverändert bestens funktionierende Zauberwort zur Verhinderung politischer Konsequenzen. Der Präventiv-Vorwurf der „Instrumentalisierung“ verhindert das, wozu jeder Trottel normalerweise früher oder später in der Lage ist: Nicht zum y-ten Mal zu wiederholen, was bereits x-mal schrecklich schief gegangen ist. 

Die vorsorgliche Verdammung der „Instrumentalisierung“ soll verhindern, dass ein Personenkreis, in diesem Fall Bundes- und Landespolitiker, endlich Konsequenzen aus seinen Fehlern zieht – hier: eine von Monat zu Monat immer noch erratischere Asyl- und Einwanderungspolitik in fortgesetzter Missachtung von Artikel 16a Grundgesetz –, damit es irgendwann ein Ende hat mit den Folgen dieser Fehler, die arg- und wehrlose Bürger ausbaden müssen.

Zwang zur Verhaltensänderung 

Das Finanzamt verhängt Gebühren und Strafen, wenn der Steuerpflichtige seine Erklärungen zu spät einreicht. Warum? Weil es sich eine Verhaltensänderung erhofft. 

Die Bußgeldbehörde verteilt Punkte, wenn einer zu schnell fährt, im Wiederholungsfalle doppelt und dreifach. Warum? Weil sie sich eine Verhaltensänderung des Autofahrers mittels ihres „Mehrfachtäter-Punktsystems“ erhofft. 

Das Gericht widerruft eine Bewährung nach wiederholter Straffälligkeit. Warum? Weil der Warnschuss ignoriert wurde, für eine Verhaltensänderung also nicht genügte, weshalb es sie nun mit härteren Maßnahmen zu erzwingen versucht. 

Kontrolle der Berichterstattung 

Aber für den Staat selbst und seine „demokratisch gewählten Repräsentanten“ soll dieses Prinzip nicht gelten? Das ist nicht einzusehen, aber gängige Praxis. Eine Praxis, die ohne tatkräftige Unterstützung von dritter Seite nicht funktionieren könnte. Aktivisten der Qualitätsmedien im Dienste der Rassismusbekämpfung hassen spektakuläre, weil in der Öffentlichkeit begangene Verbrechen ja nicht etwa deswegen so sehr, weil es ihnen um die „unschuldigen“ Opfer ginge. Deren Anzahl, Herkunft oder Alter spielt gar nicht die entscheidende Rolle. 

Der oben erwähnte Messermord vom 18. Oktober an den beiden Handwerkern von Oggersheim erregte im nahen Hessen schon kein Aufsehen mehr, weil er nur unzureichend dokumentiert war; mit allerlei Relativierungen und Beschwichtigungen („kein islamistischer oder terroristischer Hintergrund“) schaffte er es in die örtlichen Medien. Für die Angehörigen und Freunde der Opfer eine weitere Demütigung, die sie fassungslos zurücklässt. Bloß nicht sagen, was ist. 

 

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Anders in Illerkirchberg: Dort scheiterte der Versuch der Behörden, die Berichterstattung über den Angriff auf die beiden Schulmädchen von Anfang an unter Kontrolle zu halten, an einem Passanten und Ersthelfer, der sein grausiges Erlebnis einem Reporter schildern konnte, bevor die Polizei den Tatort absperrte. Das war dann bundesweit nicht mehr einzufangen, auch nicht dadurch, dass man den Augenzeugen bei erster Gelegenheit aus dem Verkehr zog, weshalb es nur Töne, aber keine Bilder von ihm gab. 

Der Belehrungsversuch der Ulmer Polizei, aus ihrem mit stundenlanger Verspätung dann doch noch veröffentlichten Bericht jetzt bloß nicht die falschen Schlüsse zu ziehen, nachdem sie eine Nennung der Herkunft des Täters leider nicht mehr hat vermeiden können, und – sinngemäß – nun in blinder Wut auf Flüchtlinge loszugehen, wirkte abends nur noch bizarr.  

So sind sie halt, die jungen Männer

Der NDR blamierte sich nach dem Massaker von Brokstedt mit dem Argument, er rette nichts Geringeres als die Demokratie, wenn er die Herkunft des Attentäters nicht nenne – eine Arbeitsweise mit allerdings nur geringer Haltbarkeit. 

Die Süddeutsche Zeitung stellte einen ungewollt lächerlichen Artikel noch einmal ganz nach oben, in dem sie der Leserschaft erklärte, warum der enorme Anteil von Asylbewerbern und Schutzsuchenden an Straftaten gegen Leib und Leben bei näherer Betrachtung eigentlich die natürlichste Sache der Welt sei, müsse man doch lediglich das in Relation zur schon länger hier lebenden Bevölkerung jugendliche Alter und das vorherrschende Geschlecht der Eingereisten in Rechnung stellen, nämlich „männlich“, und jede Besorgnis verschwinde im Nu. 

Junge Männer seien nun einmal überall auf der Welt anfälliger für Gewaltkriminalität. Subtext: Sie nicht ins Land zu lassen, damit sie ihre Neigungen woanders ausleben, gar dann halt in ihrem Heimatland Somalia oder Afghanistan jemanden vergewaltigen oder abstechen, könne ja wohl kaum als anständige Lösung des Problems gelten. 

Schließlich, so ein letzter abenteuerlicher Gedankengang der Zeitung, solle man doch bitte berücksichtigen, dass in sehr vielen Fällen Schutzsuchende Opfer anderer Schutzsuchender seien, etwa bei Gewalttaten in Wohnungen oder Wohnheimen, Deutsche also gar nicht behelligt würden. Als ob das irgendetwas weniger schlimm machen würde. 

Warum die Innenministerin im Amt bleibt

Nancy Faeser erkannte immerhin die mutmaßlich negativen Folgen der Messermordserie für ihre weitere Karriere, speziell im Hinblick auf die hessische Landtagswahl am 8. Oktober. Als Spitzenkandidatin der SPD will sie sich an diesem Freitag gerne ausrufen lassen. Ihr Amt als Bundesinnenministerin für den Wahlkampf aufgeben mag sie allerdings jetzt nicht mehr, was nur heißen kann: Nicht einmal sie selbst glaubt wirklich noch an ein Wahlergebnis, aus dem sie als Ministerpräsidentin in Wiesbaden hervorgehen wird. 

Ihre Partei wird das kaum überzeugend finden, sich aber eher auf die Zunge beißen, als Faeser für jene Rückfalloption zu kritisieren, für die Angela Merkel ihren Umweltminister Norbert Röttgen 2012 nach verlorener NRW-Wahl gefeuert hatte.  

Alles gelogen, alles nur Bild-Zeitung

Nach eigenen Angaben ehrenamtlich arbeitende „Faktenprüfer“ wie das für seine intellektuelle Unbedarftheit bekannte Portal Volksverpetzer verzweifeln demgegenüber an den inzwischen wöchentlich erscheinenden Schlagzeilen über lebensbedrohliche und tödliche Messerangriffe: Alles gelogen, alles Bild-Propaganda, alles nur Hass und Hetze, auf die inzwischen selbst die Tagesschau und andere anständige Medien hereinfielen, weil sie unbesehen Falschmeldungen übernähmen oder nicht richtig nachdächten:

Seit Jahren lest ihr doch, dass es „immer schlimmer“ wird, oder? Das ist gelogen. Entweder ist das Gegenteil wahr oder es gibt einfach keine Zahlen. Aber diese Medien und Politiker wollen euch das glauben lassen. Die Wahrheit verkauft sich auch nicht so gut, bringt keine Schlagzeilen. Das geht doch schon seit Jahren so. Es ist immer das gleiche Drehbuch. Fakt sei vielmehr: Straftaten gegen das Leben mit Messer in Zügen hat sich im 1. Halbjahr 2022 halbiert. [sic] 

Bild am Sonntag kommt zu anderen Erkenntnissen und Bewertungen. Danach hat sich die Zahl der erfassten Messerattacken in Zügen und auf Bahnhöfen 2022 gegenüber 2021 mehr als verdoppelt. Laut Bundespolizei hätten sich in den Zügen 82 Messerattacken ereignet gegenüber 44 im Vorjahr. Insgesamt, so das Blatt, sei die Zahl der Straftaten um zwölf Prozent gestiegen, darunter 14.155 Körperverletzungen, 97 Übergriffe mit anderen gefährlichen Werkzeugen, fünf Angriffe mit Waffengewalt und 857 Sexualstraftaten nach 697 im Vorjahr. Der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen habe bei schwerer Körperverletzung, Raub, Mord und Totschlag 55,5 Prozent betragen. Damit seien Ausländer bei diesen Straftaten um das Fünffache überrepräsentiert.

Irgendwann wird das Pendel zurückschlagen

Wir sollen uns an den Irrsinn gewöhnen“, schrieb Cicero nach dem Mord an dem Schulmädchen und der verlogenen Informationspolitik der Ulmer Behörden an jenem Tag. Tatsächlich ist das Schweigegelübde der Qualitätsmedien und der sogenannten „Zivilgesellschaft“ angesichts des eskalierenden Skandals einer zunehmenden Verwahrlosung des öffentlichen Raums, in dem ein Menschenleben von Jahr zu Jahr weniger zählt, nach wie vor erstaunlich wirksam. 

Kein Kanzler Helmut Schmidt, kein Kanzler Helmut Kohl, kein Kanzler Gerhard Schröder hätte schon im eigenen Interesse einer derartigen Entwicklung lange untätig zugeschaut. Für Angela Merkel war es aber kein Problem, und für Olaf Scholz ist es ebenfalls keines. Wohlhabende kaufen sich ein besser gepanzertes Auto und meiden die öffentlichen Verkehrsmittel und gefährliche Gegenden, wo immer sie können, wenn sie nicht gleich auswandern. Alle anderen können sehen, wo sie bleiben, und nur hoffen, dass der Wahnsinn im Nachbarabteil bleiben, an ihnen vorübergehen werde, dass nicht ausgerechnet sie zur falschen Zeit am falschen Ort den falschen Leuten begegnen. Einen Anlass für einen Mordanschlag braucht es, wie gesehen, nicht mehr.    

Nur: Irgendwann wird das Pendel zurückschlagen. Auch friedliche, sehr geduldige Gesellschaften haben einen Kipp-Punkt. Mutwillig mittels regelrechten AfD-Konjunkturprogrammen auszutesten, wo dieser liegen könnte, ist für jeden verantwortlichen Politiker eine ganz schlechte Idee. In Ostdeutschland wird das schon bald in mehreren Landtagswahlen durchschlagen. 

Es hätte nicht so kommen müssen. 

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