Bayerns Wirtschaftsminister Huber Aiwanger (Freie Wähler) / dpa

Meistgelesene Artikel 2023: August - Antisemitismus-Vorwurf gegen Hubert Aiwanger: „Kostenloser Genickschuss“

Kurz vor der Landtagswahl taucht ein Dokument auf, das den bayerischen Wirtschaftsminister diskreditieren soll: Hubert Aiwanger von den Freien Wählern habe sich demnach als 17-Jähriger mit krass antisemitischen Äußerungen hervorgetan. Er selbst bestreitet die Vorwürfe. Dies war der meistgelesene „Cicero“-Artikel im August.

Porträt Mathias Brodkorb

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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Zum Jahresende blicken wir auf die Themen des Jahres 2023 zurück und rufen die Cicero-Artikel in Erinnerung, die am meisten Interesse fanden. Lesen Sie hier: den meistgelesenen Artikel im August.

Die Deutschen sind einfach so: Regelmäßig brauchen sie einen Nazi- oder Antisemitismus-Skandal. Und wenn es den nicht gibt, muss er eben erfunden werden, um die eigene Seele zu reinigen. Das ist ein wirklich famoses Konzept. Um ein guter Mensch zu sein, muss man selbst gar keine Leistungen mehr erbringen. Es reicht, einen anderen an den Nazi-Pranger zu stellen.

So ergeht es jetzt auch dem Wirtschaftsminister (und stellvertretenden Ministerpräsidenten) von Bayern, Hubert Aiwanger (Freie Wähler). Dieser wurde deutschlandweit bekannt, als er auf einer Demonstration gegen die Heizungspläne der Bundesregierung lautstark fragte, ob die in Berlin denn alle den „Oasch offen“ hätten. Das brachte ihm prompt eine Einladung zu Markus Lanz ein. Schon damals ging es darum, Aiwanger irgendwie als Rechtspopulisten zu brandmarken.

Aiwanger „offenbar“ ein Antisemit

Den Vogel abgeschossen haben dieser Tage aber Autoren der Süddeutschen Zeitung. In einem Artikel nämlich wird nahegelegt, der heute 52-jährige Politiker sei nicht nur möglicherweise, sondern sogar „offenbar“ ein Antisemit. Der Grund: Als 17-Jähriger soll er ein antisemitisches Flugblatt an seinem Gymnasium in Umlauf gebracht haben. Ganze vier Autoren zeichnen für den Artikel verantwortlich – als könnte das die Kraft der Argumente irgendwie vermehren.

Und die Sache ist tatsächlich ziemlich unappetitlich. Aufgerufen wurde seinerzeit zu einem „Bundeswettbewerb“, wer der „größte Vaterlandsverräter“ sei. Als Preise wurden ausgelobt ein „Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz“ oder ein „kostenloser Genickschuß“. Was genau die Umstände dieser Aktion waren, bleibt bisher im Dunkeln.

Stützen können sich die SZ-Journalisten bei der Behauptung, Aiwanger sei der Urheber des Pamphlets, lediglich auf Hinweisgeber, die wegen angeblicher „dienstrechtlicher und gesellschaftlicher Konsequenzen“ nicht namentlich in Erscheinung treten wollen. Aber soviel sagen die anonymisierten Zeugen doch: Damals sei Aiwanger eindeutig als Urheber der Angelegenheit überführt und auch vom Disziplinarausschuss der Schule bestraft worden.

Um dieses Dokument geht es
Um dieses Dokument, dessen Urheberschaft Aiwanger bestreitet,  geht es

Sechs Wochen vor der Landtagswahl ist das für Aiwangers politische Gegner ein gefundenes Fressen. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hält das Flugblatt für „menschenverachtend, geradezu eklig“ und verlangt Aufklärung von seinem Stellvertreter. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Florian Brunn fordert sogar den sofortigen Rücktritt Aiwangers: „Es ist unvorstellbar, dass ein Verfasser derartiger Zeilen im Bayerischen Landtag sitzt oder auch nur einen Tag länger ein öffentliches Amt in unserem Land bekleidet.“ Die SPD-Fraktion hat zwischenzeitlich außerdem angekündigt, eine Sondersitzung des Landtages anzuberaumen. Aiwanger streitet indes ab, der Urheber des Flugblattes zu sein und droht, wenn derartiges behauptet wird, mit rechtlichen Konsequenzen.

Kurz vor der Landtagswahl

Über die eigentlichen Motive, einen lediglich auf anonymen Zeugen beruhenden Bericht kurz vor der Landtagswahl dennoch zu veröffentlichen, legen die SZ-Autoren beredt Zeugnis ab. Aiwanger werde schließlich immer wieder vorgeworfen, „dass er sich weit am rechten Rand bewegt und gelegentlich darüber hinaustritt“. Das Flugblatt jedenfalls spiele „unübersehbar“ mit dem Holocaust. Das alles ginge selbst dann weit über ein akzeptables Maß hinaus, „wenn man bedenkt, dass Aiwanger zum Zeitpunkt des mutmaßlichen Vorfalls 17 Jahre alt war“.

Worauf es am Ende hinaus läuft, ist ziemlich klar: Wenn das alles stimmt, was behauptet wird, soll Aiwanger gehen. Derartigen Schlussfolgerungen unterwerfen sich dieser Tage sogar kritische Medien wie die NZZ. Für Marc-Felix Serrao gibt es demnach nur zwei Möglichkeiten: „Sollte sich die Geschichte erhärten, dann wäre Aiwangers politische Karriere wohl am Ende. Sollte sie allerdings nicht stimmen, dann hätte die SZ ein Problem.“ Aber damit geht die NZZ selbst dem von der SZ in Umlauf gebrachten Narrativ auf den Leim. Es gibt nämlich noch eine dritte Möglichkeit.

Die ganze Sache beginnt schon mit dem Vorwurf, das Flugblatt sei angeblich „antisemitisch“. Judenfeindliche Äußerungen sind dem Pamphlet allerdings an keiner Stelle zu entnehmen. Dessen Inhalt dürfte zwar von der breiten Öffentlichkeit mit Recht als „ekelig“ und unappetitlich angesehen werden, aber nicht jede Geschmacklosigkeit ist schon ein Fall von Antisemitismus.

Nehmen wir doch einfach den schlimmsten Fall an: dass das Flugblatt tatsächlich antisemitisch und nicht nur hochgradig geschmacklos sei, sondern Aiwanger außerdem sein Urheber. Müsste er deshalb zurücktreten? Mitnichten!

Totalitäre Züge

In Wahrheit offenbart ein Denken, das dieser Logik folgt, selbst totalitäre Züge. Aiwanger ist heute 52 Jahre alt. Selbst für den Fall, dass er als 17-Jähriger durch antisemitische Ausfälle in Erscheinung getreten sein sollte, rechtfertigt das heute keine Rücktrittsforderungen. Die entscheidende Frage wäre vielmehr, ob der heutige Aiwanger ein Antisemit ist oder nicht. Und das behaupten nicht einmal die Autoren der SZ. Dabei wäre das ja die entscheidende Frage. Zur Wahl steht in sechs Wochen in Bayern nicht der 17-jährige Hubert Aiwanger, sondern ein erwachsener Mann. 

Man könnte, wenn man auf die Demokratie denn stolz wäre, ja gerade ihre Fähigkeit, Menschen mit irren Gedanken am Ende doch für sie zu gewinnen, für ihre eigentliche Leistung halten. Die Demokratie wäre dann eine Herrschaftsordnung, die die Hände in alle Richtungen ausstreckt und jedem Individuum zugesteht, zum Besseren bekehrt werden zu können. Aber genau dann, wenn dies eines der wesentlichen Merkmale demokratischer im Unterschied zu totalitären Gesellschaften wäre, müsste man den heutigen Aiwanger, wenn denn wahr wäre, was man über ihn behauptet, zu seinem Gesinnungswandel ausdrücklich beglückwünschen – und ihn nicht wegen seiner Irrungen als 17-Jähriger verurteilen. 

Ansonsten hätte auch Joschka Fischer niemals Außenminister Deutschlands werden dürfen. Der schmiss einst nämlich Steine auf Polizisten, also auf den demokratischen Rechtsstaat.

Es ist also einfach falsch, wenn die NZZ behauptet, Aiwanger müsste wohl zurücktreten, falls er doch als Urheber des Flugblattes entlarvt werden könnte. Falls es so käme, müsste er zurücktreten, weil der 52-jährige, heutige Aiwanger seine Wähler über seine Urheberschaft belogen hätte. Der Maßstab für die Beurteilung Aiwangers ist nicht seine Vergangenheit – sondern seine Gegenwart.

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Achim Koester | Mi., 3. Januar 2024 - 11:26

war mMn der Hauptgrund für die Kampagne gegen Aiwanger.
Wude eigentlich schon einmal überprüft, wie lange das Flugblatt schon im Besitz der SZ war, bevor der Zeitpunkt opportun schien, es zu veröffentlichen? So jedenfalls hat es seinerzeit der STERN mit Rainer Brüderle gehandhabt. Der Journalismus der MSM in diesem Land wird immer schäbiger.

und trifft nacheinander oft ins eigene links grüne Tor.
Was hat’s denn „Hubsi“ gebracht ? Noch ein paar Prozentpunkte mehr bei der bayrischen LT- Wahl & einige tausend Klick‘s auf seine Erdinger Rede mehr, sowie auf die markigen Worte, bedeutend mehr Zustimmung Land auf Land ab als die rot grünen es sich gewünscht haben. Und Söder …. dem hat’s auch nicht geschadet. Der einzige dem es wirklich geschadet hat ist dem Denunziant, dem Lehrer der ein Verfahren am Hals hat. Zusammengefasst: durch Eigentor Spiel verloren !
Mit freundlichen Gruß aus der Erfurter Republik

Heidemarie Heim | Mi., 3. Januar 2024 - 13:04

Gerade die SPD in Gestalt ihrer Chefin Frau Esken feiert da im Kampf gegen räächts scheinbar verstärkt Urstände zum Neuen (Wahl)-Jahr. Ein seit letztem Jahr 36%iger Mitgliederzuwachs der AfD sowie die zu erwartenden Stimmenzuwächse dieser Partei haben sie scheinbar dermaßen auf die Palme befördert, dass sie Verfassungsschutz und Bundesverfassungsgericht regelmäßige Prüfungen mit dem Ziele eines Parteiverbots an die Herzen legt. Anstatt sich z.B. mit Innerer Sicherheit oder gar verfassungsgemäßen Ampel-Haushalten zu beschäftigen;)! Man muss nun wirklich kein Fan oder Wähler dieser Partei sein, um darin ein etwas fragwürdiges Verständnis von Demokratie und Rechtsstaats (man wundert sich langsam, dass der "rechts" beinhaltende Begriff noch verwendet werden darf;) zu sehen. Ja, ja weiß schon;) Kommt von "Recht." Die Auslegung desselben, Ermittlungsauftrag, Verfolgung u. Urteil über ca. 20% AfD-Wähler und mehr hat nun also die SPD-Chefin a la SZ persönlich übernommen. "Wenn`s schee macht"😜