Kontra Allgemeine Dienstpflicht - Den Gemeinsinn fordern, den man torpediert

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat für die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht plädiert. Verwunderlich ist das nicht, denn das Thema Dienstpflicht ist ein bequemer Weg, um mit warmen Worten für einen Gemeinsinn zu plädieren, den man zuvor torpediert hat – und dabei den Blick auf die eigentlichen Probleme zu vernebeln.

Frank-Walter Steinmeier vernebelt den Blick auf von ihm mitverantwortete Missstände / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Hier argumentiert Cicero-Mitarbeiter Ulrich Thiele gegen eine allgemeine Dienstpflicht. Am Dienstag argumentierte Ben Krische dafür.

Frank-Walter Steinmeier hält eine „soziale Pflichtzeit“ beim Militär oder in Sozialeinrichtungen für eine gute Idee. „Es geht um die Frage, ob es unserem Land nicht guttun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen“, sagte das Staatsoberhaupt der Bild-Zeitung. Man komme „raus aus der eigenen Blase“, treffe „ganz andere Menschen“ und könne helfen: „Das baut Vorurteile ab und stärkt den Gemeinsinn.“

Dass ein solches Plädoyer für den Gemeinsinn, das wohl auch als Reaktion auf die außenpolitische Situation und auf die Nöte im Gesundheitswesen zu verstehen ist, ausgerechnet von ihm kommt, entbehrt nicht einer gewissen Schamlosigkeit. Schließlich hat sich Frank-Walter Steinmeier auch schon gefragt, ob es unserem Land nicht guttun würde, wenn er sich an seine Russlandkontakte verkauft und Deutschland in die energiepolitische Putinabhängigkeit lenkt. Steinmeier hielt als Kanzleramtschef von Gerhard Schröder und Architekt der Agenda 2010 auch die Gesundheitsreform für eine gute Idee, im Zuge derer das System der Fallpauschalen im Krankenhausbetrieb eingeführt wurde – die heutigen Mängel im Pflegesektor gehen bekanntlich auch auf den damaligen Ökonomisierungshype zurück (lesen Sie dazu dieses Interview mit einem Pflegewissenschaftler).

Billige Arbeitskräfte sollen Regierungsversagen kompensieren

Steinmeier ist natürlich nicht allein verantwortlich für alles, was außen- und sozialpolitisch im Argen liegt. Aber dass der Vorschlag von ihm kommt, ist symptomatisch für die Hybris der Dienstpflichtdebatte. Denn das Thema Dienstpflicht ist der bequemste Weg, um mit warmen Worten für einen Gemeinsinn zu plädieren, der zuvor torpediert wurde, und dabei den Blick auf die eigentlichen Probleme zu vernebeln.

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Auch wenn Steinmeier nicht explizit von einer Pflicht für junge Menschen sprach, hat sich die Debatte um die Frage nach einem Dienst im Anschluss an die Schulzeit entfacht. Viele der Argumente, die dabei von Befürwortern angeführt werden, fußen auf einer solchen Vernebelung.

Etwa die Behauptung, dass eine soziale Dienstpflicht eine Unterstützung für überlastete Sozialeinrichtungen und deswegen gut wäre. Das ist ein typisches Beispiel für das Vertauschen von Ursache und Symptom. Im Grunde sagt man damit, dass junge Menschen als dürftig bezahlter Notnagel für die Schäden der Regierungspolitik herhalten sollen. Allerdings ohne so ehrlich zu sein, es so zu benennen. Die wirkliche Unterstützung, beispielsweise im Pflegesektor, wären mehr Pflegekräfte, ergo bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, die sich am Verantwortungslevel, am Bildungsniveau und an den jeweiligen Aufgaben von Pflegekräften orientieren. Wo bleiben die Veränderungen, die zahlreiche Politiker vor zwei Jahren ankündigten, als Krankenhäuser teils überlastet waren und Pflegekräfte für ihre Arbeit bejubelt wurden?

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„Die“ Jugend lebt nicht nur in Bullerbü

Ein weiteres Argument, das auch in Steinmeiers Plädoyer anklingt, zeugt von einem empiriefernen Gesellschaftsbild. Endlich, so der Tenor, würde die verwöhnte Generation Z mal den Ernst des Lebens kennenlernen und aus ihrer weltfremden Blase herauskommen. Bemerkenswert daran ist, dass dieses Gesellschaftsbild selbst nichts jenseits einer heilen Mittelschichtswelt auf dem Radar hat, die man dann wiederum polemisiered gegen „die Jugend“ richtet.

Dabei werden laut dem Paritätischen Wohlfahrtsverband rund 2,8 Millionen Minderjährige in Deutschland trotz sozialpolitischer Reformen als arm eingestuft, Tendenz steigend, in einem der wohlhabendsten Ländern der Welt. Jedes vierte Kind oder Jugendlicher wächst in Armut auf. Müssen die auch aus ihrer „Komfortzone“ herauskommen? Und was ist mit Kindern, die als Halbwaisen aufwachsen? Oder mit einem Pflegefall zu Hause? Oder die mit einem Scheidungskrieg der Eltern fertig werden müssen? Oder die häusliche Gewalt erfahren? Oder die Depressionen haben? Die Zahl der Jugendlichen, die an Depressionen erkrankt sind, soll auch durch die Corona-Politik der Bundesregierung in den vergangenen Jahren massiv zugenommen haben. Was auf Jugendliche nach der Schule des Weiteren zu kommt: hohe Mieten und die jedes Jahr geringer werdende Chance, Eigentum zu erwerben – wenn man nicht zu denjenigen gehört, die erben. Solche Nöte hat das Klischeebild, das nur wohlbehütete Arztkinder aus Hamburg-Blankenese als „die Jugend“ sieht, nicht auf dem Schirm.

Was spricht gegen die freie Wahl?

Darüber hinaus zeugt die Idee einer sozialen Pflichtzeit von einem paternalistischen Menschenbild. Muss man die Menschen zum Glück der „Horizonterweiterung“ verpflichten? Es gibt diverse Möglichkeiten für einen freiwilligen Dienst: das Freiwillige Soziale Jahr, das Freiwillige Ökologische Jahr oder den Bundesfreiwilligendienst. Was spricht dagegen, junge Menschen selbst entscheiden zu lassen, ob sie ein Brückenjahr zwischen Schulabschluss und Studium oder Ausbildung nutzen wollen, außer, dass man ihnen nicht zutraut, mit der Freiheit der Wahl „richtig“ umzugehen? Warum nicht lieber Maßnahmen ergreifen, um die Möglichkeit eines freiwilligen Sozialdienstes attraktiver zu machen und dann dafür zu werben?

Es besteht auch die Möglichkeit, einen freiwilligen Wehrdienst auszuüben. Und damit zu einem weiteren Punkt der Pflichtbefürworter: Der Krieg in Europa sei ein Grund für eine Wehrdienstwiedereinführung, weil er uns vor Augen führe, dass eine Errungenschaft wie die Demokratie auch mit der Waffe gegen Feinde von außen verteidigt werden müsse. Deswegen wäre es von Vorteil, wenn junge Menschen mit Waffen umgehen können. Allerdings geht dieses Argument nicht ganz auf, denn selbst mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht „muss“ ja niemand den Dienst an der Waffe leisten, solange die Möglichkeit besteht, stattdessen einen Sozialdienst auszuüben. Abgesehen davon darf bezweifelt werden, dass der Wehrdienst einen so sagenhaften Beitrag zur Überholung der maroden Bundeswehr beitragen würde – etliche andere Länder verlassen sich, nebenbei bemerkt, ausschließlich auf eine Berufsarmee und sind damit auf besserem Stand als es die deutsche Bundeswehr nach 55 Jahren Wehrpflicht war.

Dafür hat die Bundesregierung 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr angekündigt, zuzüglich zum Zwei-Prozent-Ziel. Laut Lars Feld, Wirtschaftsberater von Finanzminister Lindner (FDP), werde man wegen des geplanten Sondervermögens „das ein oder andere in der Legislaturperiode…nicht realisieren“ können, zum Beispiel strukturelle Mehrausgaben im Sozialbereich, Stichwort Rente. Eine erstaunliche Parallelität: Die Forderung nach Solidarität wird dann laut, wenn Gering- und Normalverdiener den Gürtel enger schnallen sollen.

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