Klimapolitik - „Einstein wäre heute ein Schwurbler“

Wie schon während der Pandemie, gibt die Politik beim Thema Klimawandel Gewissheiten vor, die es in der Wissenschaft nicht gibt, sagt Gerd Antes. Im Cicero-Interview spricht der renommierte Medizinstatistiker über unsachgemäßen Umgang mit Empirie und die Versäumnisse der Medien.

Ein Mann erfrischt sich während der Hitzewelle / dpa
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Lukas Koperek ist Journalist und lebt in Mannheim und Berlin.

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Gerd Antes war Mitglied zahlreicher Wissenschaftskommissionen, unter anderem der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut sowie des Advisory Boards der International Clinical Trial Registry Platform (ICTRP) der WHO. Der Medizinstatistiker war Wissenschaftlicher Vorstand der Cochrane Deutschland Stiftung, die sich für wissenschaftliche Evidenz in der Medizin einsetzt.

Herr Antes, Sie gelten als Wegbereiter der evidenzbasierten Medizin in Deutschland. Was genau versteht man eigentlich unter „Evidenz“?

Dazu gibt es inzwischen viele Bücher. In Kürze: Der Begriff wurde 1991 kreiert und subsumiert die existierenden empirischen Verfahren, durch Studien Wissen zu generieren, um Populationen einzuschätzen und Maßnahmen und deren Erfolg bezüglich ihrer Wirksamkeit zu bewerten. Damit begann eine stürmische Entwicklung vor allem in der Medizin und Gesundheitsversorgung, aber die Methodik gilt für alle Interventionen. Das hat in den letzten dreieinhalb Jahren in der Pandemie eine enorme Bedeutung bekommen.

Während der Corona-Pandemie haben Sie immer wieder den unsachgemäßen Umgang der Politik mit wissenschaftlichen Daten kritisiert. Sehen Sie das gleiche Problem in der Klimadebatte?

Ja, auch wenn die Lage ein bisschen anders ist. Eine Konstante ist die enorme Übergriffigkeit der Politik, die versucht, auf wissenschaftliche Gremien einzuwirken, damit sie die Empfehlungen geben, die die Politik gerne hätte. Aber ein unsachgemäßer Umgang mit Wissenschaft ist auch in den Medien zu beobachten. Zum Beispiel stellen sich Leute mit einem medizinischen Hintergrund vor die Kamera und behaupten: Die Hitze wird bald die häufigste Todesursache sein! Ich übertreibe, wenn ich das so überspitzt formuliere. Aber das ist der grundsätzliche Tenor. Nur ist es nirgends belegt, dass die Zahl der Hitzetoten steigen wird. Nicht auch nur ansatzweise.

Sie spielen vermutlich auf den Fernseharzt Eckart von Hirschhausen an. Er behauptet, die Hitze sei die größte Gesundheitsgefahr, auf die wir uns in diesem Jahrhundert einstellen müssten.

Ja, solchen Aussagen bekommen nur durch Prominenz den Anschein von Wissenschaftlichkeit, was der normale Bürger nicht beurteilen kann. Dafür gibt es schlicht keine Grundlage mit wissenschaftlichem Konsens, schon gar keine einfachen Wahrheiten. Es ist noch nicht lange her, da hat er zur besten Sendezeit in der ARD eine Blutwäsche als Therapie gegen Covid-Erkrankung propagiert. Kollegen haben mich schon während der Sendung angerufen und gesagt, ich solle sofort  den Fernseher einschalten. Das war wirklich haarsträubend.

„Follow the science“ ist ein beliebter Schlachtruf derjenigen, die gesellschaftspolitische Forderungen mit angeblichen wissenschaftlichen Erkenntnissen begründen. Aber sollte uns Wissenschaft überhaupt eine Handlungsmaxime vorgeben?

Sie haben mich ja eingangs auf die evidenzbasierte Medizin angesprochen. Eine der großen Errungenschaften seit 1991 ist, dass bei empirischen Ergebnissen unverzichtbar das Maß des Vertrauens beziffert werden muss, das man in diese Ergebnisse haben kann. Sätze wie „Follow the science“ sind schon deshalb fragwürdig, weil sie den Anschein erwecken, es gäbe „die Wissenschaft“ als eine Einheit, die mit absoluten Sicherheiten operiert. Das ist natürlich nicht so. Kürzlich hat in einer Talkshow eine Klimaaktivistin von der Letzten Generation gesagt, 99 Prozent der Wissenschaftler seien sich einig, dass die Erde nicht mehr zu retten sei, wenn wir in den nächsten paar Monaten nicht irgendwie den Hebel rumreißen. Man muss das so hart sagen: Das ist absoluter Schwachsinn.

Weil da ein Konsens vorgegeben wird, den es nicht gibt?

Ja. Mit dieser Bestimmtheit kann man es einfach nicht sagen. Und die Wissenschaft, die verantwortungsbewusst handelt, wird es auch nie versuchen. Wenn überhaupt, müsste man viel spezifischer werden: Unter welchen Bedingungen konnte was genau festgestellt werden? Und dass angeblich 99 Prozent der Wissenschaftler sich einig sind – woher will man das wissen? Das ist überhaupt nicht festzustellen. Das ist nur noch ein Missbrauch von Wissenschaft, um die eigene Ideologie zu unterstützen.

Kürzlich hat auch der Gesundheitsminister Karl Lauterbach behauptet, die Anzahl der Hitzetoten pro Jahr würde wegen des Klimawandels steigen. Selbst wenn das so wäre, was allerdings nicht belegt ist, müsste man sich erstmal eine Reihe von Fragen stellen: Steigt nur die absolute Anzahl der Toten oder steigt sie überproportional zum Bevölkerungswachstum? Hängt es vielleicht auch mit einer Zunahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder mit dem steigenden Durchschnittsalter der Bevölkerung zusammen? Meine Frage: Denken Sie, die Verzerrungen, die teilweise zu beobachten sind, haben auch etwas mit einem fehlenden Verständnis von Statistik zu tun?

Ja, sicherlich. Ich würde sagen, es ist eine Mischung aus Inkompetenz und bewusstem Missbrauch. Aber es ist ja nicht nur Statistik. In dieser Behauptung, dass die Anzahl der Hitzetoten steigen werde, wiederholt sich das Drama der Debatte um die Covid-Sterbefälle – sind die Menschen mit oder an Covid gestorben? Sagen wir mal, ein alter Mensch, der gesundheitlich nicht in guter Verfassung ist, versäumt es, ausreichend zu trinken und dehydriert. Dann kann man natürlich sagen: Er ist an einer Folge der Hitze gestorben. Man kann aber auch sagen, er sei in ein Pflegeloch gefallen und habe nicht die Betreuung bekommen, die er eigentlich bräuchte. Es ist also viel komplexer, als es bei solchen Aussagen wie der von Lauterbach scheint. In den Medien wird das aber nicht so formuliert, vielmehr werden irgendwelche absoluten Zahlen ohne Kontext herausposaunt. Ich will das Klimaproblem keinesfalls verharmlosen, im Gegenteil. Aber so, wie wir gerade damit umgehen, tun wir der Sache keinen Gefallen.

Vielleicht zeigt sich darin ein grundsätzliches Problem im Verhältnis von Politik, Medien und Wissenschaften: dass sich nämlich diese etwas unbefriedigenden, immer in Relation zu sehenden Erkenntnisse der Wissenschaft nicht gut für Schlagzeilen eignen.

Das ist richtig, allerdings ist das nicht das Problem der Wissenschaft, sondern ein Kommunikationsproblem zwischen den verschiedenen Feldern. Die Medien wollen Schlagzeilen. Die Politik will glänzen mit klaren Entscheidungen. Aber in der Wissenschaft ist das Problem sehr klar ausformuliert mit dem Begriff „decision making under uncertainty“. Wie gehe ich in der Entscheidungswelt damit um, dass ich unsichere Grundlagen habe? Ein Grad der Unsicherheit ist immer, dass man nur Wahrscheinlichkeiten angeben kann, mit denen etwas eintritt. Diese absoluten Sicherheiten, die Politik und Medien beim Thema Klimawandel behaupten, gibt es nicht.

Das haben Sie auch damals im Umgang mit der Pandemie kritisiert.

Spulen wir noch mal zurück. Einer der kolossalen Fehler der Pandemiepolitik war, in diesem dynamischen Infektionsgeschehen fixe Zahlen in ein Gesetz zu schreiben und darauf dann Automatismen aufzubauen: Bei Inzidenz 35 passiert das, bei 50 das. Das ist extrem problematisch. Und dann ist da noch ein anderes Problem: Eigentlich hätte es einen Aufschrei aus den empirischen Wissenschaften geben müssen. Das ist aber unterblieben. Jetzt, beim Thema Klima, ist es ähnlich. Grundsätzlich sehe ich da zwar deutlich mehr Kompetenz im Umgang mit Daten als bei der Pandemie.  Aber wie die dann in der Öffentlichkeit missbraucht werden – das ist sehr ähnlich.

Was genau war das Problem mit den Inzidenzen?

Das Problem war, dass man nicht sagen konnte, wie zuverlässig diese Zahlen sind. Man ist bei den Inzidenzen von absoluten Zahlen als Wahrheit ausgegangen, hatte aber nie die Anzahl der Tests unter Kontrolle. Man hat es nicht einmal versucht. Das Gemessene war also eigentlich keine Infektionsinzidenz, sondern eine Testinzidenz.

Weil die Inzidenz in Relation zur Anzahl der Tests beurteilt werden muss.

Genau. Aber die Anzahl der Tests war nie bekannt – vor allem weil es immer wieder extreme Schwankungen in kürzesten Zeiträumen gab. Zum Beispiel hat Markus Söder spontan bestimmt, dass die Urlaubsrückkehrer an der Grenze getestet werden müssen. Mit diesen instabilen Zahlen kann man einfach nichts anfangen. Und trotzdem wurden an diese Zahlen schwere Einschränkungen geknüpft.

Da wären wir wieder beim grundsätzlichen Problem: Die Politik muss konkrete Gesetze formulieren und dafür komplexe Sachverhalte vereinfachen. Zum Beispiel: Wir einigen uns auf das 1,5-Grad-Ziel. Über diesen Wert könnte man sicher streiten, aber egal. Wie verhindern wir die Erwärmung? Wir entscheiden uns für eine CO2-Reduktion. Auch das steht vielleicht zur Debatte, vor allem weil CO2 nicht der einzige Faktor ist, der sich negativ auf das Klima auswirkt. Dann fragen wir uns: Wie reduzieren wir CO2? Schließlich kommen wir auf ein Tempolimit. Und plötzlich ist man in einer absurden Situation: Man streitet sich darüber, ob man ein Tempolimit 100 auf deutschen Autobahnen einführen soll, um so etwas Komplexes wie das Weltklima zu beeinflussen. Einerseits muss man es natürlich herunterbrechen, um es lösbar zu machen. Andererseits führen wir deshalb sehr lange, kleinteilige Debatten, die im großen Ganzen kaum etwas ändern werden.

Und auch da geht man in der Öffentlichkeit von absoluten Sicherheiten aus, die es nicht gibt. Es wird nicht hinterfragt, warum man sich überhaupt an diesen Werten und Parametern orientiert. Man müsste sich viel stärker den Prozess der Entscheidungsfindung bewusst machen. Im Grunde gibt es da drei Aufgaben. Erstens: Den Ist-Zustand bestimmen. Dann kommt die Frage: Mit welchen Maßnahmen kann ich das beeinflussen? Und drittens: Wie messe ich das? Ich muss also feststellen, ob die Beeinflussung stattfindet und ob sie erfolgreich ist. Beim Klima hängen wir uns am CO2 auf, aber die Gegebenheiten sind nicht so kontrolliert wie im Labor. Neulich habe ich von einem Physiker erfahren, dass es an den Stellen, wo viel CO2 freigesetzt wird, auch eine höhere Absorption gibt. Zum Beispiel durch die Meere. Durch so etwas wird die ganze Angelegenheit extrem komplex.

Man braucht aber die zuverlässigen Zielparameter, mit denen man beurteilen kann, ob die Maßnahmen erfolgreich sind. Das sind nicht die Hitzetoten. Der Tod dieser Menschen ist sehr bedauerlich, und man sollte alles dafür tun, um die Anzahl der Hitzetoten zu reduzieren. Aber sie sind nicht das entscheidende Maß. Wenn in den Medien berichtet wird, dass die Anzahl der Hitzetoten steigen wird, oder wenn der Gesundheitsminister solche Aussagen trifft, bekommt man schnell den Eindruck, das sei ein Beleg für den Klimawandel. Das sind kausale Brücken, die nur Plattitüden sind und nicht als einfache Wahrheiten kommuniziert werden dürfen.

 

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Sie haben in einem Interview mal gesagt, Lauterbach versuche, Politik als Wissenschaft zu verkaufen. Denken Sie, er missbraucht die Wissenschaft, um seine Politik zu legitimieren?

Absolut. Und das wird gestützt von den Medien. Noch einmal zurück zur Pandemie. Wenn Lauterbach in einer Talkshow sitzt und sagt, es sei durch eine Studie belegt worden, dass Schulschließungen eine sinnvolle Maßnahme seien, und die Studie aus England ist, dann sagt das für mich, dass er nicht die geringste Übersicht hat. Man kann so etwas nicht mit dieser Gewissheit sagen. Die Anzahl der Studien, die sich auf Corona bezogen, war schon im Dezember 2020 bei circa 20.000. Ein Jahr später waren es schon 97.000. Jede Woche sind weltweit knapp tausend neue Studien dazugekommen. Lauterbach konnte den Überblick über die aktuelle Studienlage keinesfalls haben. Er hat sich vermutlich etwas anhand der Überschrift rausgesucht, was die eigene Sichtweise stützt. Ein bekanntes Phänomen: das sogenannte „Cherry picking“. In einem Fall wurde sogar klar, dass er noch nicht einmal das Abstract gelesen hatte. Bei so einem Umgang mit Empirie muss die Wissenschaft eigentlich laut werden.

Gerade haben Sie die Rolle der Medien angesprochen. Denken Sie, auch Journalisten sollten besser im Umgang mit Wissenschaft geschult werden?

Zweifellos sollte die Bildung gerade in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland der Rohstoff sein, der die Landesgeschicke bestimmt. Ich bilde seit 20 Jahren Wissenschaftsjournalisten aus. Ich hatte mal einen sehr guten Eindruck vom Wissenschaftsjournalismus in Deutschland, sowohl von der Ausbildung als auch von der Arbeit der Redaktionen. Heute muss ich sagen: Der Wissenschaftsjournalismus, gerade in den sogenannten Qualitätsmedien, ist einer der größten Kollateralschäden der Pandemie. Und wenn wir nicht aufpassen, geht es beim Thema Klima so weiter.

Woran, denken Sie, liegt es, dass die Qualität abgenommen hat?

Es hat etwas mit dem Druck zu tun. Die Pandemie wurde ja nicht nur in den Wissenschaftsressorts besprochen, sondern auch im Politikteil, im Feuilleton, im Wirtschaftsteil – und die Felder mussten erst einmal bespielt werden. Dabei hat die Qualität Schaden genommen. Aber es gab auch politischen Druck. Es ist ja bekannt, dass in Deutschland ganz zu Anfang der Pandemie auf ministerieller Ebene auf Angst gesetzt wurde, um Maßnahmen zu begründen. Diese Angst hat sich auch im Journalismus bemerkbar gemacht. Soweit ich das beurteilen kann, haben auch sogenannte Qualitätsmedien die Grundprinzipien von Journalismus irgendwann aufgegeben, Meinungen unterstützt und Haltung gefordert.

Welche Grundprinzipien zum Beispiel?

Zum Beispiel das Prinzip der Ausgewogenheit. Plötzlich ist ein Ungleichgewicht entstanden und es hieß: Wir müssen jetzt auf die Wissenschaften hören, und Leute, die der Wissenschaft nicht folgen, dürfen auch keinen Platz in den Medien eingeräumt bekommen. Stichwort: „False balances“. Diese Vorgehensweise wurde an vielen Stellen aggressiv verfolgt.

Man hat diese beiden Gruppen konstruiert: Es gibt die Vernünftigen, die der Wissenschaft glauben, und es gibt die „Schwurbler“. Das sind pauschal alle, die Zweifel an dem äußern, was in der breiten Masse als wissenschaftlicher Konsens dargestellt wird.

Genau. Und das ist ein vollkommen verrücktes Bild von Wissenschaft. Nach der Logik müsste man sagen: Einstein wäre heute ein Schwurbler. Der öffentliche Umgang mit Empirie muss sich verändern. Die Missachtung der Grundprinzipien empirischer Arbeit, die wir in der Politik und in den Medien beobachten, reicht sogar bis in die Wissenschaft hinein. Es muss betont werden, dass alles relativ ist. Dass Politiker irgendwelche Behauptungen in den Raum werfen und absoluten wissenschaftlichen Konsens für sich beanspruchen, ist aufs Schärfste abzulehnen. Am Ende schadet man damit auch der Wissenschaft.

Das Gespräch führte Lukas Koperek.

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