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() Claus Jacobi, damaliger Spiegel-Chefredakteur, nach dem er 1962 aus dem Gefängnis entlassen wurde
Inside SPIEGEL

Der Spiegel ist eine Institution. Jeden Montag setzt das Nachrichtenmagazin aus Hamburg die Themen der Woche. Der Fotograf Marco Urban hat für Cicero die Produktion einer Ausgabe dokumentiert. Wie der Spiegel zu dem wurde, was er heute ist, beschreibt der ehemalige Chefredakteur Claus Jacobi aus ganz persönlicher Erfahrung

Am 10. Oktober 1962 erschien der wohl folgenreichste Artikel in Deutschland: „Bedingt abwehrbereit“, eine Untersuchung über Kampfkraft und Strategie der Bundeswehr. Nach Ansicht von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß – des ­Spiegels liebster Feind – waren in dem Beitrag mehrere Staatsgeheimnisse verraten worden. Deshalb wurden Ermittlungen gegen das Magazin eingeleitet und seine führenden Redakteure in Untersuchungshaft genommen. Zu ihrer Verteidigung prüfte die legendäre Spiegel-Dokumentation 34 900 Zeitungsausschnitte und 8731 Seiten Fachliteratur. Der Zeitpunkt der Aktion war klug gewählt. Die Kuba-Krise hatte damals ihren Höhepunkt erreicht. Krieg lag in der Luft. Wenn, dann würde die verängstigte Öffentlichkeit ein solches Vorgehen vermutlich jetzt am ehesten stützen, zumal der erhobene Vorwurf in dieser Situation besonders verabscheuungswürdig erklang: Kanzler Adenauer hatte im Bundestag von „einem Abgrund von Landesverrat“ gesprochen. Der Spiegel stand vor dem Ruin. Wären nur ein paar Nummern ausgefallen, hätte die enthauptete Redaktion die Federn ins Korn geworfen, hätten Anzeigenkunden ihre Anzeigen zurückgezogen oder Leser sich abgewandt – es hätte das „Aus“ bedeuten können. Was stattdessen geschah, damit hatte keiner gerechnet. Poeten, Proleten und Professoren protestierten. Eine Welle der Empörung schwappte durch die Republik. Wirtschaftler und Wissenschaftler formulierten Bedenken, Künstler demonstrierten, Studenten randalierten. Die Medien zogen auf die Barrikaden. Und in Bonn tanzten die Puppen. Die FDP rief ihre Minister aus der Regierung ab. Die Spiegel-Krise wurde zur Staatskrise. Die Straße hatte ihr Haupt erhoben. Mir war es nur lieb. Es war unsere Rettung. Ohne nationale Aufregung hätten wir leicht vom Räderwerk einer staatstreuen Justiz zerstückelt werden können. Der Bundesgerichtshof lehnte es schließlich ab, ein Hauptverfahren gegen Augstein, Ahlers oder einen anderen zu eröffnen. Strauß musste noch im selben Jahr zurücktreten, Adenauer im nächsten. So wurde die Spiegel-Affäre zur Wendemarke im Strom der Geschichte der Bundesrepublik. Die Epoche von Wirtschaftswunder, Kanzler-Demokratie und obrigkeitstreuen Untertanen versank. Ein Generationswechsel begann. Ein Linksruck ging durch die Republik. Sie probte den Kopfstand. Die Umwertung der Werte setzte ein. Knechte wurden zu Herren, Jäger zu Gejagten. Reichtum, bisher bewundert, wurde verteufelt. Sozialismus, bisher belächelt, wurde salonfähig. In der Wirtschaft hieß „Gewinn“ plötzlich „Profit“. Pornografie lief Prüderie den Rang ab. Über Goethe wuchs Grass. An den Hochschulen verdrängte ordinäre Macht Ordinarienmacht. Neid machte sich breit. Wahrheitssucher Rudolf Augstein hatte der Redaktion einst die negative Kritik als Sittengesetz vorgegeben: Halbgötter zu demaskieren, Denkmäler zu stürzen, Großes klein zu hacken, mal zu Recht, mal zu Unrecht. „Er kann nur Gift säen“, zürnte Bischof Otto Dibelius. Doch ob Gift oder Arznei, das ist in den Medien genau wie in der Medizin oft lediglich eine Frage der Dosierung. Das, was Rudolf Augstein an Gift in den Spiegel träufelte, diente häufig der Gesundung der Allgemeinheit. Kleineren Geistern freilich missriet die Giftmischerei wieder und wieder. Das Resultat war dann ein Brei aus Besserwisserei, Überheblichkeit und Häme, den heute, im Niedergang des Print-Journalismus, manche noch immer als „kritischen Journalismus“ bewundern. Der Spiegel hat diese Gefahr unter Stefan Aust meisterhaft überwunden und siriusfern hinter sich gelassen. Dass der Spiegel seit dem Tod seines Gründers Rudolf Augstein keinen Chefkommentator wieder einführte, empfinde ich als eine besonders taktvolle Geste der Verneigung vor dem großen kleinen Mann. Wie Dr. Liebig einst die Kraft des Bullen zu kleinen Würfeln einkochte und einwickelte, so verdichtet der Spiegel jede Woche das Weltgeschehen zu appetitlich verpackten Happen. Er ist heute die bestgemachte und einflussreichste Zeitschrift der Republik. Allerdings auch ihre teuerste: Niemand in Europa gibt so viel Geld für jedes veröffentlichte Wort aus wie der Spiegel. „News is expensive“, hatte schon Henry Luce, der Gründer des US-Magazins und Spiegel-Vorbilds Time, erkannt. Ein zweites großes Erfolgsgeheimnis des Magazins ist seine Kontinuität. Statt zu ändern, um zu ändern, wie andere, verbessert es immer weiter Bewährtes. Die Grundzüge seines Layouts haben sich lange nicht gewandelt, Rubriken wie „Hohlspiegel“, „Rückspiegel“ oder „Personalien“ stehen mit diesen Titeln seit über einem halben Jahrhundert auf ihrem heutigen Platz. Die Spiegel-Sprache, zeitweise in Gefahr zu verkrampfen, um originell zu sein, ist lockerer geworden, ohne dass Klischees wie „auf dünnem Eis“ oder „durch dick und dünn“ zu häufig auftauchen würden. Nur das abgewandelte Klischee sei zulässig, meinte einst der legendäre Gerichtsreporter Gerhard Mauz und schrieb über einen ohnmächtig werdenden Sittenstrolch, er „fiel um streckte alle fünfe von sich“. Ich habe einst manche Titelgeschichte mit meinem Freund Conrad Ahlers gemeinsam gezimmert, dem Verfasser von „Bedingt abwehrbereit“. Er kannte Bonns Geheimnisse, ich brauchte sie nur aufzuschreiben. Sah mein großartiger Kochefredakteur Johannes K.Engel uns dabei zusammensitzen, sagte er: „Ah, die Ameise melkt wieder die Blattlaus“ und zog sich zufrieden zurück. Ich wünsche dem Blatt viele Blattläuse; Ameisen sind leichter zu finden. Claus Jacobi war von 1962 bis 1968 Chefredakteur des Spiegel. Der Journalist arbeitet heute als Kolumnist und Buchautor Foto: Picture Alliance

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