Epidemiologe Ulrich Mansmann - „Wir sind in die 4. Welle hineingerannt“

Der Konflikt zwischen Seuchenschutz und anderen gesellschaftlichen Interessen ist uralt und entstand nicht erst in der Corona-Pandemie. Umso erstaunlicher, wie unvorbereitet die Politik auch nach fast zwei Pandemiejahren noch agiert. Sie handelt im Panikmodus und verspielt damit das Vertrauen der Bevölkerung.

Sondersitzung des Bundesrates zu Änderungen am Bundesinfektionsschutzgesetz Mitte November / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Ulrich Mansmann, Jahrgang 1959, ist seit 2005 Direktor des Instituts für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. In dieser Zeit arbeitet er an Problemen der patientenorientierten klinischen Forschung, an Fragen in der Versorgungsforschung, in epidemiologischen Studien und an Problemen bei der Digitalisierung.

Herr Mansmann, am Wochenende fand in Köln das Rhein-Derby zwischen dem 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach statt. Das Kölner Gesundheitsministerium hatte zuvor erlaubt, das Stadion mit 50.000 Menschen zu füllen. Daran hagelte es viel Kritik. Richtig so?

Richtig so, man muss diese Fußballspiele sein lassen. Herr Söder hat schon im letzten Jahr Fußballspiele der EM zugelassen mit klarem Wissen über deren Gefahrenpotential. Dieses Gefahrenpotential ist immer noch da, und ich verstehe nicht, dass es zu diesen Fußballspielen kommt. Aber es gibt viele Dinge, die in ähnlicher Weise unverständlich sind: Man hat in Bayern im September/Oktober als Alternative zum Oktoberfest eine „Gaststätten-Wiesn“ veranstaltet, man hat Impfzentren abgebaut. Alles keine klugen Entscheidungen. Denn eigentlich war die Situation bereits im Sommer relativ klar: Die vierte Welle wird kommen, und entsprechende Vorbereitungen sind zu treffen. Dass diese Vorbereitungen nicht getroffen wurden und jetzt alle auf Panikmodus stellen, zeigt eine gestörte Kommunikation zwischen Politik und Wissenschaft.

Einerseits haben wir die wissenschaftliche Basis, auf der Wissenschaftler gewisse Maßnahmen empfehlen. Andererseits ist es auch Aufgabe der Politik, die Balance zu halten zwischen Pandemie-Bekämpfung und gesellschaftlichem Zusammenleben. Beispiel: Tests und Kontrollen bei einem Gaststättenbesuch. Solche Kompromisse sind doch gut, oder?  

Ich habe den Sommer in der Provence verbracht, eine Reise ins Hochrisikogebiet. Und dort gab es viel strengere Kontrollen der Impfzertifikate, viel mehr Disziplin als in Deutschland. In den letzten Wochen in Deutschland habe ich mich in Hotels und Gaststätten aufgehalten, die nicht konsequent die Gültigkeit meiner Zertifikate mit entsprechender Software und Sorgfalt geprüft haben.  

Wie nehmen Sie denn diese Diskussion „Virus-Bekämpfung versus Freiheitsrechte“ wahr?

Freiheitsrechte müssen angemessen garantiert werden. Vitale gesellschaftliche Prozesse haben einen vergleichbaren Wert wie persönliche Gesundheit; wobei ich das bei einem Bundesligaspiel etwa nicht so sehe. Diese Abwägung ist eine alte Diskussion. Der Chemiker und Apotheker Max von Pettenkofer hat vor etwa 170 Jahren die öffentliche Gesundheit, Public Health, in München erfunden. Pettenkofer musste sich mit einem Auftrag des bayerischen Königs zum Thema Cholera und der damit ausgelösten komplexen Krise beschäftigen. Die Cholera kam damals aus der Türkei und aus Ägypten nach Europa. Und auch damals standen sich seuchenstrategische Überlegungen und wirtschaftliche Kollateralschäden gegenüber. Für Pettenkofer stand fest, dass gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen im Grunde einen ähnlichen Wert wie die Gesundheit eines Menschen haben. Er hatte damals Robert Koch als Gegenspieler, dessen Ratschlag Eindämmung und Quarantäne war.

Also ist diese Diskussion nicht neu.

Nein. Und das ist ein Konflikt, der auch bei uns nun wieder hochgekommen ist. Wir hatten im Sommer und im Frühherbst die Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie wir wissenschaftliche Fakten mit gesellschaftlichen Interessen vereinbaren können. Auf welche Werte wir setzen und in welche Richtung wir gehen wollen, wurde aber nicht diskutiert. Abwägungen zwischen Alternativen fand nicht statt. Ergebnisoffenes Abwägen von Vor- und Nachteilen verschiedener Präventions- und Kontrolloptionen fand nicht statt. Es gab zu wenig Platz für den wissenschaftlichen Diskurs im Vorfeld der Entscheidungsfindung. Stattdessen sind wir nun in eine Situation hineingerannt, in der man massiv reagieren muss. Die Belastung des Gesundheitswesens ist eine so ernste Sache, dass ein Nachdenken über Kontaktbeschränkungen oder ein Lockdown naheliegt. Wäre man früher und überlegter an die Sache rangegangen, hätte man die berechtigten Interessen der Bevölkerung auch besser berücksichtigen können. Aber dafür hätte die Politik ihre Arbeit schon vor Monaten machen müssen, vielleicht ungestört von einem Bundestagswahlkampf.

Was meinen Sie?

Man wusste im Sommer, dass eine neue Welle kommen wird. Man wusste, es wird eine dritte Impfung geben müssen, weil bei einem Totimpfstoff zwei Impfungen oft nicht ausreichen, um eine nachhaltige Immunität zu erreichen. Und was hat man getan? Man hat im Sommer begonnen, die Impfzentren zu schließen. Man hat dem Berufsverband der niedergelassenen Ärzte nachgegeben, weil die sich stark genug fühlten, alleinverantwortlich die Verabreichung des Impfstoffes zu meistern. Nun ziehen die sich aber überfordert wieder zurück.

Zum Thema dritte Impfung: Im Sommer wurde zwar in den Fachblättern über die nachlassende Wirkung der Impfstoffe gesprochen. Aber in Richtung Bevölkerung wurde doch im Zuge der Impfkampagne nie offen kommuniziert, dass der Wirkstoff nach vier bis sechs Monaten nicht mehr wirkt – und sich dann quasi alle boostern lassen müssen.

Bereits im Sommer hat eine Studie aus Israel nachgewiesen, dass nach einem halben Jahr die Immunität durch Antikörper stark abnimmt. Man hat eigentlich im Sommer schon über diese Impfung nachgedacht. Und man hätte auch sehen können, dass diese Auffrischungsimpfung flächendeckend kommen wird. Im Moment wird die Infrastruktur dafür wieder aufgebaut und aktiviert. Die Kommunikation zum Impfen sollte man in der Folge ausschließlich auf das Boostern lenken. Die aufgeheizten Diskussionen über eine gesetzliche Impfpflicht – die ohnehin erstmal juristisch geprüft werden müsste und auf die Schnelle nicht helfen würde – verwirren die Menschen. Und es ist doch so: Jens Spahn sagte im Oktober, wir brauchen keine epidemische Notlage mehr. Ein paar Wochen später kritisierte er die Pläne der neuen Regierung, weil sie die epidemische Lage nationaler Tragweite nicht als Notbremse verwenden will und den Ländern ein großes Instrumentarium gegen die Epidemie zur Verfügung stellt. Das sind Widersprüche in der Kommunikation, die eher parteipolitische Streitereien sind und nicht verantwortliche Kommunikation mit der Bevölkerung.

Was erleben wir derzeit eigentlich? Ist das diese „Pandemie der Ungeimpften“, von der viel gesprochen wird?

Es war sicherlich eine große Versuchung für alle, zu glauben, dass mit der Impfung Corona vorbei sein wird und wir es geschafft haben. Das war die Botschaft im Sommer. Das hat uns das Gefühl vermittelt, dass wir Geimpften uns alles erlauben können. Jedoch belegen die Daten, dass ein Geimpfter nicht vollständig geschützt ist. Von 100.000 Geimpften infizieren sich etwa 120 mit Corona, von 100.000 Ungeimpften sind es etwa 700. Von 100.000 Geimpften verstirbt einer an/mit Corona, von 100.000 Ungeimpften sind es 9. Wenn es etwa 70 Prozent Geimpfte und 30 Prozent Ungeimpfte gibt, so sind bei 100.000 Personen etwa 0,7 x 120 = 84 Infektionen bei Geimpften und 0,3 x 700 = 210 bei Ungeimpften. Somit trägt auch die Gruppe der Geimpften nicht unerheblich zur Infektionslast bei. Die Welt in Geimpfte, die alles dürfen, und Ungeimpfte, die kaum mehr etwas dürfen, aufzuteilen, ist daher nicht gerecht.

Wen trifft es bei den Impfdurchbrüchen denn vor allem?

Alle Leute, die in meiner Umgebung einen Impfdurchbruch hatten, waren unter 45 und gesund. Sie mussten zwar nicht ins Krankenhaus, weil sie eher Symptome einer schweren Erkältung hatten. Aber sie trugen die Infektion eine Zeitlang herum und waren ansteckend für andere. Diese Dichotomie, wonach die Geimpften die Guten sind und die Ungeimpften die bösen Buben in dieser Pandemie, funktioniert nicht so einfach, wie die öffentliche Diskussion dies darstellt. 

Wenn man sich die Impfquoten europaweit ansieht, lässt sich feststellen, dass Deutschland auf den hinteren Plätzen liegt, also besonders viele ungeimpfte Bürger hat. Woran liegt das denn?

Deutschland liegt noch vor den USA, aber hinter Spanien, Dänemark, Italien, Schweden und England. Impfen ist in Deutschland schon eine sehr spezielle Sache. Das Impfverhalten der Deutschen trägt dazu bei, dass gewisse Krankheiten nicht ausgerottet werden konnten. In Deutschland kommt es zum Beispiel immer wieder zu Masernausbrüchen. Dabei könnten die Masern von der Erde verschwinden. Das Masernvirus hat einen menschlichen Ursprung, nicht wie SARS-COV-2, das aus dem Tierreich kommt. Das heißt: Wenn wir die Masern einmal los sind, dann bleiben sie auch für immer weg. Was wir aber sehen, sind deutsche Impfvorbehalte, die zu immer neuen Ausbrüchen führen.

Kann man das geografisch einordnen?

Bei der Corona-Impfung gibt es ein Nord-West- nach Süd-Ost-Gefälle mit den niedrigsten Raten in Sachsen. Was Studien und Umfragen zeigen, ist, dass Menschen, die sich gegen eine Impfung stellen, Risiken insgesamt als zu hoch einschätzen. Nicht nur gesundheitliche, sondern auch ganz alltägliche Risiken. Damit gibt es Probleme bei der Risikowahrnehmung.

Im Gespräch mit Ungeimpften habe ich bisher drei Gründe gehört, warum sie sich nicht gegen Corona haben impfen lassen, obwohl sie könnten: Erstens der gesellschaftliche Druck, der zu einer Trotzreaktion führt. Zweitens mangelndes Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger. Und drittens, weil man bei einem möglichen Impfschaden selbst die Verantwortung tragen müsste. Neulich meinte jemand zu mir: Er würde sich impfen lassen, wenn die gesetzliche Impfpflicht kommt. Denn dann hätte er bei einem Impfschaden die Möglichkeit, den Staat in die Verantwortung zu nehmen.

Diesen Punkt kann ich gut verstehen. Man kann Ihren letzten Punkt auch dahin erweitern, dass eine Impfpflicht manchen von gewissensbedingten Impfvorbehalten entbinden kann. Klar ist aber auch, dass uns eine gesetzliche Impfpflicht in diesem Winter ohnehin nicht mehr retten würde. Bis die Gesetzeslage geklärt ist, die Infrastruktur steht, der Impfstoff besorgt ist und diese gesetzliche Impfpflicht dann auch Wirkung zeigt, würden sicherlich mehrere Monate vergehen.

Deshalb sagen Sie: Ein Lockdown muss her, am besten gestern?

Ja. Das wäre jetzt neben den Boosterimpfungen die wichtigste Maßnahme. Im zweiten Schritt sollten wir dann über eine Impfpflicht nachdenken, entsprechende Vorbereitungen treffen und im Frühjahr wohlüberlegt und gut gerüstet mit der Bevölkerung darüber kommunizieren.

Wir haben in Deutschland derzeit einen Inzidenzwert um 450 und eine Hospitalisierungsrate von um die 6 je 100.000 Einwohner. Wenn man diese Werte auf die Gesamtbevölkerung von über 83 Millionen Menschen umrechnet: Wie bedrohlich ist die Lage tatsächlich? Der absolut größte Teil der Bevölkerung kommt mit dieser Pandemie ja gar nicht in Berührung, sehr wohl aber mit den Maßnahmen gegen sie.

Es gibt 5,8 Millionen registrierte infizierte Fälle. Da müsste schon jeder irgendwie in seinem Bekannten- und Freundeskreis Covid-19 begegnet sein. Mehr als 100.000 Personen sind bisher an/mit Covid-19 gestorben; mehr, als in Tübingen wohnen, das etwa 90.000 Einwohner hat. Wie soll man den Verlust einer solchen Stadt für Deutschland bewerten? Im Winter kommen noch einige Tote dazu, und vielleicht ist dann die Bevölkerungszahl von Heidelberg, etwa 160.000 Einwohner, erreicht.

Das heißt?

Wie gehen wir mit solchen Verlusten um? Was denken wir über eine Gesellschaft, die so viele Ihrer Mitglieder nicht schützen kann? Das ist das zentrale Argument, mit dem derzeit alles gesteuert und begründet wird. Und darüber muss diskutiert werden, ob das das einzige Ziel ist, dem sich unsere Gesellschaft unterwerfen will. Auch darüber, wie viele Kollateralschäden wir zu akzeptieren bereit sind, wenn wir ein gesellschaftliches Leben aufrechterhalten wollen. Ich sehe nicht, dass eine solche Diskussion geführt wird.

Was ich wiederum sehe, ist, dass wir in ganz vielen anderen Bereichen gewisse Kollateralschäden akzeptieren. Nur bei Corona tun wir das nicht. Und was ich auch sehe, ist, dass es das Gesundheitssystem über Jahre verschlafen hat, eine entsprechende Struktur aufzubauen, um angemessen auf eine Hospitalisierungsrate von 6 auf 100.000 Einwohner reagieren zu können. Haben wir also eine Corona-Pandemie? Oder ist das eine Pandemie, die vor allem ein Schlaglicht auf die Versäumnisse der vergangenen Jahre wirft? Und wenn dem so ist, warum ist die Bevölkerung bei Corona plötzlich in der Bringschuld, wenn doch die Politik jahrelang nicht geliefert hat?

Da haben Sie auf jeden Fall einen Punkt: Diese Pandemie legt eben auch offen, was über Jahre unter den Tisch gekehrt wurde. Es fing schon damit an, dass am Anfang der Pandemie Deutschland begann, seine Pandemie-Pläne zu suchen. Sie waren irgendwie verstaubt, weil sich keiner drum gekümmert hatte. Die fehlende Einsatzbereitschaft führte zu einem Chaos, bei dem diese halbherzigen Lösungen und Herangehensweisen zum Problem wurden. Wie werden wir nach der Pandemie damit umgehen? Wie analysieren wir, was schiefgelaufen ist, und welche Konsequenzen ziehen wir für die Zukunft daraus? Warum werden mühevoll aufgebaute Strukturen blind von der Politik wieder eingerissen, wie Impfzentren, Versorgung von Alten- und Plegeheimen, Testzentren und anderes?

Wo wir schon bei der Wahrheit sind: Ich höre, dass die Ungeimpften etwa 75 Prozent zum Pandemiegeschehen beitragen. Ich lese, dass auf den Intensivstationen 73,3 Prozent der Menschen, die wegen Covid-19 behandelt werden, Ungeimpfte sind. Wäre jetzt nicht ein guter Zeitpunkt, um sich in Politik und Medien ehrlich zu machen, dass die Datenerhebungen und damit auch die Datengrundlage nicht ausreichen, um ganz konkrete bis absolute Aussagen über diese Pandemie zu treffen?

Mit den oben genannten Zahlen entspricht dies 210 von 294, ~71 Prozent, bei den Infektionsfällen und 2,7 von 3,4, etwa 80 Prozent, bei den Todesfällen. Nie wurde eine Pandemie so gut mit Daten begleitet. Eine empfehlenswerte Website hierzu ist übrigens Our World in Data. Jetzt kommt aber der nächste Schritt: Was wird damit gemacht? Was ich sehe, ist, dass auf Basis der Datengrundlagen eine gewisse Alternativlosigkeit kommuniziert wird. Es gibt also eine Art unerschütterliche Konzentration auf eine gewisse Form von Fakten, Wissen, mit der Folge, dass bei einer solchen Alternativlosigkeit divergierende Interessen, Werte und Wertbilder nicht gegeneinander abgewogen werden können. Welche Folgen das hat, sieht man auch daran, dass der Begriff der Wissensgesellschaft zunehmend negativ und autoritär konnotiert ist.

Und die Politik?

Was Politiker für sich als „bestes Wissen“ definieren, auf dessen Basis sie politische Entscheidungen treffen, ist in der Corona-Pandemie fragwürdig geworden. Politiker scheinen Probleme mit der Interpretation von Daten zu haben. Mit den ersten Infos zum SARS-COV-2 Virus wurde klar, dass die Herstellung von Herdenimmunität durch Durchseuchung mehrere Millionen Tote kosten würde. Damit waren drastische Maßnahmen gerechtfertigt.

Es sieht derzeit zumindest nicht danach aus, als würde das Coronavirus Millionen Menschen im Land dahinraffen. Wir wissen ja nicht mal genau, ob die Menschen an oder mit Corona sterben. 

Ich finde es irrelevant, ob jemand daran stirbt, dass das Virus die Lunge zerstört hat oder durch das Virus geschwächt an einer Begleiterkrankung. Ohne das Virus wäre alles anders verlaufen. Was die öffentliche Diskussion noch nicht erreicht hat, ist ein Bedenken der nachhaltigen Schädigung gewisser Infizierter durch „Long Covid“. Wenn von fünf Millionen Infizierten nur zwei Prozent an Long Covid leiden, sind das auch 100.000 Menschen. Wie man da weiterdenken kann und welche Szenarien sich daraus ergeben, ist eine wichtige Sache.

Ulrich Mansmann / Privat

Das Kernanliegen eines Virus ist doch eigentlich, sich so weit zu entwickeln, dass es seinen Wirt nicht tötet, weil es sich damit in letzter Konsequenz ja selbst abschafft. Nun mutiert das Coronavirus und verbreitet sich relativ schnell. Zwei Fragen hierzu: Ist eine solche Mutation zwangsläufig eine schlechte Nachricht? Und wie lange mutiert denn so ein Virus, bis es fertig ist mit dem Mutieren?

Es ist ja eine Hoffnung in einer Pandemie, dass sich das Virus durch Mutation abschwächt und wir mit ihm leben lernen. Aber es gibt auch das Gegenszenario des mutierten Killervirus; auch ein wunderbares Thema für Katastrophenfilme. Bei jedem Zellbefall, wenn die neuen Viren dann ausschwärmen, liegen neue Mutationen vor. Jeder Infektionsherd erzeugt neue Mutationen, und der Zufall beschert uns dann und wann eine, die Evolutionsvorteile zeigt.

Auf was müssen wir uns bei der neuesten Variante, Omikron, einstellen?

Die Delta-Variante hat die Alpha-Variante innerhalb weniger Wochen verdrängt. Die Deltavariante kam im März 2021 zu uns und hat sich die ersten sechs Wochen sehr zurückhaltend verhalten. Nachdem ein gewisser Pool an Infizierten vorlag, wurde sie innerhalb von vier Wochen die vorherrschende Virusvariante. Das kann sich so auch mit der neuen Omikron-Variante abspielen. Man scheint ja schon erste Informationen über eine größere Infektiosität zu haben. Unklar ist wohl noch, inwiefern die jetzigen Impfstoffe auf die neue Variante reagieren. Das wird man in 14 Tagen genauer wissen. Was man aber sagen kann, ist, dass man mRNA-Impfstoffe relativ schnell umbauen kann. Bei Biontech/Pfizer dauert das, heißt es, etwa zehn Wochen.

Was sind Ihrer Meinung nach also die zentralen Lehren, die die Politik aus den vergangenen zwei Jahren ziehen muss, auch für künftige Pandemien? Corona wird ja nicht die letzte bleiben.

Ich halte den Krisenstab, der von der Ampel-Koalition initiiert wurde, für einen wichtigen Schritt nach vorne. Auch das Gremium aus einem repräsentativen Spektrum von Experten ist eine wichtige Idee. Es soll im BMG als interessenmäßig ausgeglichenes Gremium angesiedelt werden. Damit kann sichergestellt werden, dass wesentliche Bereiche der Gesellschaft beim wissenschaftlichen Diskurs im Vorfeld der Entscheidungsfindung beteiligt sind. Es sollen Fachleute im Umgang mit herausfordernden Situation zur Beurteilung der Sachlage einbezogen werden, etwa Experten für Logistik, die diesen für die Bekämpfung der Epidemie so wichtigen Bereich richtig bespielen können. Unsere politischen Frontmänner bei der Epidemiebekämpfung haben gerade darin nicht gerade brilliert. Ich wünsche mir Strukturen, die Offenheit und Weitsicht ermöglichen und uns vor Politikern schützen, die den Panikmodus als ihr wirkliches Element erleben. Präventives Denken sollte viel mehr in die Corona-Strategie und in die Strategien gegen künftige Epidemien einfließen.

Die Fragen stellte Ben Krischke.

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