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(picture alliance) Ob die Piraten immer noch wollen, dass ihre Wähler sich informieren?

Die Piraten - Ein verpufftes Wunder

Alternative Politik? Frischer Wind in der Politik? Das war einmal. Die Piraten gleichen sich immer mehr den etablierten Parteien an, um 2013 Jahr den Bundestag zu stürmen. Aus demütigen Nerds sind mittlerweile ehrgeizige Politplaner geworden. Die ersten wenden sich enttäuscht ab

Was war das für ein Jubel, als der orangefarbene Balken wuchs und wuchs und wuchs – und schließlich bei acht Prozent stehen blieb. Am 18. September 2011 stolperten 15 Piraten ins Berliner Abgeordnetenhaus. Mehr Kandidaten hatte man gar nicht aufgestellt, denn mehr hätte man für aberwitzig gehalten. Die Wahl fegte beinahe die Medienfirma von Pavel Mayer dahin, denn er und drei seiner Angestellten waren plötzlich keine hauptberuflichen ITler mehr, sondern Abgeordnete. Die Presse jubelte – ein Coup der Nerds, Glasnost digital, Parteienfrühling mitten im Spätsommer. Und, ein bisschen sogar, ein Polit-Wunder.

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Der rumänische Schriftsteller Mircea Dinescu zitierte einmal ein Sprichwort aus seiner Heimat: „Jedes Wunder dauert drei Tage.“ Was dann kommt, sind bestenfalls Vergessen, schlimmstenfalls Enttäuschung und Selbstgefälligkeit. Wenn Tag eins der Piraten Berlin war, dann waren Tag zwei und drei der anschließende TV-Pop und Mitgliederansturm sowie die Wahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen.

Und jetzt, am Tag vier? Die Piraten haben erkannt, welche Widerstände auf der politischen Bühne auf sie warten, es geht nicht mehr bergauf, sondern nur noch geradeaus, sie stecken in den sprichwörtlichen Mühen der Ebene. Und das tut weh. Etwa, wie sie gerade ihr Alleinstellungsmerkmal verlieren: In allen Parteien finden die Netzexperten nun Gehör, sogar die Union hat ein „C-Netz“ gestartet. Liquid Feedback, das die Piraten als erste Partei pämperten, ist salonfähig geworden. Die Mitbestimmungsplattform wird nun auch bei der FDP Bayern und im Landkreis Friesland genutzt.

Wenn das Wunder alltäglich geworden und auch äußere Schmarotzer genährt hat, drohen die eigentlichen Empfänger oft zu vergessen, warum sie es überhaupt erhalten haben. Da war die rasende Wut auf die etablierte Politik, auf die Eitelkeit seiner Vertreter, auf die langwierige Meinungsbildung in den alten Parteien.

Mittlerweile werden Repräsentanten wie der politische Geschäftsführer Johannes Ponader nicht mehr in Talkshows eingesetzt, um inhaltliche Positionen zu diskutieren, sondern weil er mit Schlabberpulli, Sandalen und iPhone ein medialer Hingucker ist. Mittlerweile gibt es bei den Piraten zwar Meinungsbildung zu unzähligen Detailfragen, doch bei den wirklich wichtigen gleich gar keine. Das wurde etwa beim Umgang mit den Schweizer Steuer-CDs deutlich: Einige Abgeordnete aus Düsseldorf und Kiel hatten erst gegen den nordrhein-westfälischen Finanzminister Walter-Borjans wegen seines CD-Ankaufs geklagt, doch dann distanzierten sich sowohl der NRW-Landesverband als auch große Teile der Fraktion von dieser Strafanzeige.

Ähnlich chaotisch ging es zu, als die Piraten jüngst über die Atomkraft stritten: Eine kleine Arbeitsgruppe warb auf einem Flyer für die „moderne und sichere Nutzung der Kernenergie“ – und erhielt von der Bundespressestelle prompt eine Abmahnung samt Unterlassungserklärung. Dieser Eingriff in die Meinungsfreiheit wiederum empörte die Piraten so sehr, dass die Abmahnung zurückgenommen wurde.

Das „Vergessen“ beginnt auch da, wo man sich politische Lernprozesse einzugestehen übersieht. Wo man also, zur Erkenntnis gekommen, dass frühere Überzeugungen nicht mehr auf die Realität passen, nun die gegenteiligen Positionen als die eigenen verkauft. So geschehen beim Thema Urheberrecht: Einst galten die Verwertungsgesellschaften, die die Rechte von Künstlern sichern, als Todfeinde der Piraten, als „Content-Mafia“ (dieser Begriff wurde schon kurz nach den ersten Wahlerfolgen aus dem offiziellen Sprachgebrauch verbannt). Heute gelten Verwertungsunternehmen wie VG Wort oder GEMA, Verlage, Labels und Publisher als ein „wichtiger Faktor“, wie eine piratige Ideensammlung zu neuen Geschäftsmodellen für Künstler im digitalen Zeitalter einräumt.

Seite 2: Fast-Food-Politik nach dem Franchise-Modell

Tag vier, das ist auch die Enttäuschung. Und sie macht sich bereits bei vielen Engagierten, die mit den Piraten gesegelt sind, breit. Die Berlinerin Katja Dathe, die nach der Wahl über eine Nachrückerliste in die Bezirksverordnetenversammlung einzog, schmiss frustriert ihr Amt hin. Sie nannte das Parlament auf ihrem Blog ein „Bürokratiemonster“ und eine „vollkommen überflüssige und kontraproduktive Demokratiesimulation“. Es binde „auf sehr perfide Art jede Form bürgerlichen Engagements“. Noch im Februar hatte sich die 42-Jährige für den Landesvorsitz beworben.

Auch an der Basis grummelt es. Der bayerische Pirat Mike Anacker begründete seinen Austritt aus der Partei in der Süddeutschen Zeitung etwa damit, dass zu viele Piraten im öffentlichen Dienst beschäftigt seien. Ein Beispiel dafür ist der Bundesvorsitzende Bernd Schlömer, der im Verteidigungsministerium arbeitet. „Das ist in anderen Parteien nicht anders, diese Beamten-Partei-Struktur. Aus diesem Grund bin ich damals aus der CSU ausgetreten – jetzt finde ich bei den Piraten genau den gleichen Filz, der mich immer abgeschreckt hat.“

Die Piraten ähneln immer mehr dem Franchise-Modell: Jeder, der will, kann sich den orangefarbenen Button anpinnen, eine AG oder Crew gründen und Piratenpolitik machen. Er muss dafür nur eigene Mittel – Zeit, Geld (auch wenn längst nicht alle ihre Mitgliedsbeiträge entrichten) und etwas Engagement mitbringen. Er kann es aber auch lassen. Politik als Fast Food: schnell aufgewärmt, noch schneller entsorgt. Anders als bei McDonald’s gibt es aber nicht überall die gleiche Filiale mit dem gleichen Big Mac, sondern in Kiel ein bisschen Datenschutz, in NRW ein bisschen Sozialdemokratie und in Berlin ein bisschen Flughafen-Opposition. Hier ein Spritzer Kernkraft, dort eine Tüte Atomprotest.

Damit das Franchise-System nicht ganz aus dem Ruder läuft und in der Filiale Bundestag bald der Whopper angeboten wird, treffen sich die Piraten an diesem Wochenende in Essen zu einem „Barcamp Bundestag“. Dort wollen sie sich selbst Fragen zur künftigen Abgeordnetentätigkeit stellen: Was muss eine Bundestagsfraktion tun, damit sie als piratig gilt? Liquid Feedback nutzen? Alle Dokumente veröffentlichen? Ihre Diäten spenden? Anders gesagt: Man überlegt, wie es sein sollte, wenn es denn wäre. Man möchte den künftigen Fraktionären einen Stempel aufdrücken, noch bevor sie überhaupt auf die Listenplätze gewählt wurden.

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Zwar ist kluge, strategische Planung in anderen Parteien eine Selbstverständlichkeit – all das könnte damit auch Teil der Professionalisierung der Piraten sein. Aber es könnte auch jener Punkt an Tag vier erreicht sein, wo das Verhalten in Selbstgefälligkeit, ja Übermütigkeit kippt. Die Demut, die der Pirat und Tatort-Autor Tom Bohn jüngst bei Cicero Online von den Künstlern einforderte, fehlt den Polit-Neulingen selbst. Als die Medien irgendwann ihren Liebesdienst entzogen und zunehmend kritisch berichteten, reagierten die Piraten überaus eifersüchtig, wollten sogar das Filmen mit Kameras auf einem Parteitag verbieten.

Es waren vor allem ihre Unvoreingenommenheit und Naivität, ihr so anderer Politikstil, weshalb Erst- und Nichtwähler einst ihr Kreuzchen bei den Piraten gemacht haben. Könnte sich das umkehren, wenn der Ehrgeiz der jungen Partei, wenn das Gerangel um die aussichtsreichsten Bundestags-Listenplätze offenbar werden? Die Piraten nehmen die Gunst mittlerweile jedenfalls für gegeben – und buhlen auch um gesetztere Wählerklientel. Deswegen die vielen Strategiesitzungen, deswegen die scharfe Oppositionsarbeit an der Spitze des Berliner Flughafen-Untersuchungsausschusses, deswegen das Einverleiben von immer mehr Profis aus Medien und Wissenschaft. Es geht eben doch darum, „richtige“ Partei zu werden.

Doch den Spagat zwischen beiden Gruppen – den Frustrierten wie den Etablierten – kann die Partei auf mittlere Sicht nicht leisten. Dafür erwarten die einen, von denen sich einige erst in der Wahlkabine von dem Spaß-Namen verleiten lassen, zu viel Chaotentum, die anderen zu viel Seriosität. Die Partei wird nicht beides bedienen können.

Im Moment jedenfalls sind die Piraten noch weit davon entfernt, großflächig im klassischen Wählermilieu zu räubern. Dafür haben sie nicht mal ihre Buchhaltung richtig im Griff. Wie die Wirtschaftswoche berichtete, werden die Piraten ihren Rechenschaftsbericht für 2011 nicht mehr pünktlich Ende September abliefern können. Sie müssen bei der Bundestagsverwaltung um Aufschub bis Jahresende bitten.

Es ist eben tatsächlich so: Das Wunder der Piraten ist an Tag vier nur noch eine Luftbuchung.

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