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(picture alliance) Die Pyramide und das Auge: Teil der 1-Dollar-Notenverschwörung

Verschwörungstheorien - Die Weltreligion des dritten Jahrtausends

Neben die großen fünf Weltreligionen hat sich ein neuer globaler Glaube gereiht: Der Glaube an Verschwörungstheorien. Er existiert parallel zu den bisherigen Kulten, vielerorts tritt er aber auch an deren Stelle – und stetig wächst die Zahl seiner Proselyten in allen Kulturkreisen

Anfang Februar 2012 begründete die ägyptische Ministerin für internationale Zusammenarbeit Fayza Abou al Naga das Vorgehen gegen 43 internationale Stiftungen, die in Kairo arbeiten, mit der Existenz von „ausländischen Plänen, die die Sicherheit des Landes bedrohen“. Sie ahnt nicht, wie nah sie mit diesem verschwörungstheoretischen Denken einem den Islam hassenden Paranoiker wie Anders Breivik steht. Der Massenmörder von Utoya hatte exakt am gleichen Tag, an dem die Frau Ministerin die Welt über das Komplott gegen ihr Land informierte, in Oslo einen öffentlichen Haftprüfungstermin.

Er rechtfertigte seine Tat damit, dass er Norwegen vor einer „ethnischen Säuberung“ bewahren wollte. Breivik glaubt an die „Eurabia-Theorie“, nach der sich europäische Politiker, Wirtschaftsführer und Medien von arabischen Machthabern in den siebziger Jahren kaufen ließen und seitdem die Einwanderung von Muslimen fördern. Langfristig solle der Kontinent islamisiert werden. [gallery:Cicero Online präsentiert die besten Verschwörungstheorien]

Breivik kommt der Wahrheit in einem Punkt ziemlich nahe. Es gibt tatsächlich eine neue Religion, die in Konkurrenz zum Christentum getreten ist. Allerdings ist dies nicht der Islam. Es ist der allgegenwärtige Glaube an Weltverschwörungen. Milliarden Menschen sind überzeugt vom Vorhandensein großer Komplotte, an denen Politik, Wirtschaft und Medien gleichermaßen mitwirken und deren Vertuschung nur gelegentlich von einsamen mutigen Propheten unterlaufen wird. Ohne diese Helden, die aussprechen, was „man nicht sagen darf“, würde niemand etwas von der Existenz jener Parallelherrschaften erfahren.

Breiviks Stichwortgeber aus der islamfeindlichen Bloggerszene sehen sich ebenso in der Rolle solcher einsamen Wahrheitsverkünder wie ein eher linker Enthüller vom Schlage Julian Assanges. Religionsgeschichtlich ist das Neognostik oder Neo-Katharer-Wesen. Diese beiden christlichen Strömungen gingen davon aus, dass die Welt, in der wir leben, nur die Fälschung eines bösen Untergottes, des sogenannten Demiurgen sei, und dass der Weg zur Erlösung damit beginne, dass man den Schwindel erkennt. Ein bisschen so wie im „Matrix“-Film.

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Das Jahr 2011 war ein Fest für alle Konspirationsgläubigen. Dominique Strauss-Kahn, der Tod Osama bin Ladens und der arabische Frühling versetzten die Verschwörungstheoretiker in Rausch. 57 Prozent aller Franzosen sind überzeugt, der in New York wegen Vergewaltigung angeklagte Ex-IWF-Chef sei Opfer einer Verschwörung gewesen.

Petr Hájek, der Vizekanzler des tschechischen Präsidenten Václav Klaus, verkündete unmittelbar nach dem Tod bin Ladens, dieser habe nie existiert, er sei nur eine mediale Fiktion und seine Erschießung nur ein Wahlkampftrick.

Auch in Russland sah sich der US?Botschafter John Beyrle gezwungen, die in Moskauer Medien florierenden Spekulationen, bin Ladens Tod sei nur inszeniert gewesen, öffentlich als Unfug zurückzuweisen. Dergleichen hatte unter anderen ein „ehemaliger CIA-Agent“ im ersten Kanal des russischen Fernsehens behauptet. Und in Arabien wurden die Revolutionen des Frühjahrs auch zum Schlachtfeld der Komplottgläubigen: Die ägyptischen Revolutionäre beschuldigten Husni Mubarak, ein Agent Israels zu sein. Auf der anderen Seite versuchte Libyens Muammar al Gaddafi seine Macht zu retten, indem er die Aufständischen als Handlanger des Westens und islamische Extremisten in Personalunion denunzierte.

Deutschland hat wenig Grund, sich über solche politischen Gespenstergeschichten erhaben zu fühlen. Hier ist seit 1993 das antisemitische Enthüllungswerk des Nürnberger Buchhändlers Jan Udo Holey (Pseudonym: Jan van Helsing) über vermeintliche „Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert“ zu einem Dauerbestseller und wahren Volksbuch geworden.

Sogar noch mehr Anhänger hat auch hierzulande eine neuere Verschwörungstheorie, die im Zentrum des Mythos von Wikileaks steht. Diese dunkle Legende besagt, dass der ganzen Welt von einem mächtigen Geheimbund, dessen Drähte von den USA gezogen werden, die Wahrheit vorenthalten wird. Julian Assange selbst glaubt an diese Theorie nicht einfach so, wie ein Journalist an eine Arbeitshypothese glaubt, sondern mehr wie ein Religionsgründer, der alle Einwände gegen seine Offenbarung als satanische Einflüsterungen abtut. Oder als Machenschaften von „Juden“ – darin ganz in der Tradition klassischer Verschwörungstheoretiker.

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Mit priesterlichem Gehabe wirbt der Australier für seinen neuen Kult der Eingeweihten und Reinen, die den Schleier der falschen Welt gelüftet haben. Einer seiner Texte aus dem Jahre 2006 über „Conspiracy as Governance“ („Verschwörung als Regierungshandeln“) gilt mittlerweile als „Wikileaks-Manifest“. Darin scheut er sich nicht einmal, das System, das er attackiert, in einer offensichtlich der Bibel entlehnten Metaphorik als apokalyptisches „großes Tier“ („Beast“) zu bezeichnen, als wären ihm alle 666 Tassen gleichzeitig aus dem Schrank gefallen, als der Geist der Johannes-Offenbarung in ihn fuhr.

Das allgegenwärtige Florieren von Verschwörungstheorien könnte man als unterhaltsame Politfolklore abtun und belächeln, wenn nicht so viele Menschen mit ähnlicher Inbrunst daran glauben würden wie Assange. Und deren Konversion zur Gemeinde der Verschwörungstheoretiker kommt einer Selbstentmündigung gleich. Man leugnet die empirische Wahrheit der Politik, die immer ein schwer durchschaubares, hässliches, häufig langweiliges Geflecht aus Kompromissen, Interessenabwägungen, Zufällen, Eitelkeiten, Kompetenzgerangel, Rücksichtnahmen, Risikobewertungen und oft genug auch Dilettantismus ist, zugunsten eines Glaubens an das faszinierende, widerspruchsfreie Komplott.

Das ist ein alarmierendes Symptom schwindenden Vertrauens. Die Krise der demokratischen Institutionen in der EU und den USA befeuern die Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit. Wenn etwas so schlecht funktioniert, so denkt sich der Paranoide mit einer nachvollziehbaren Verzweiflung, muss Absicht dahinterstecken, nicht bloß einfach Versagen. Die Österreicher Eduard Gugenberger, Franko Petri und Roman Schweidlenka stellen in ihrem Buch über die Geschichte des Konspirationswahns lapidar fest: „Um 1930 herum erreicht die Weltverschwörungshysterie im deutschen Sprachraum ihren Höhepunkt.“

Damals boomten die Verschwörungstheorien dank der Weltwirtschaftkrise und der Schwäche Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg. Heute lösen der vermeintliche Niedergang des Westens, die Bedrohung durch den islamischen Fundamentalismus, die internationale Konkurrenz und der gefährdete soziale Status der Mittelschichten Ängste aus, die so groß sind, dass die Betroffenen sie sich selbst nicht mehr durch banales Systemversagen, sondern nur noch durch riesenhafte Fiktionen erklären können.

Natürlich hat die Zunahme des verschwörungstheoretischen Denkens mit dem üblichen Verdächtigen zu tun: dem Internet. Seit es Mitte der neunziger Jahre zum Massenmedium wurde, können sich Hirngespinste jeder Art dort schneller und ungefilterter ausbreiten. Die Geschwindigkeit des Mediums hat sogar den Wettbewerbsdruck unter den Konspirationserfindern noch vergrößert. Das zwingt sie, ihre Produkte zu optimieren, was in ihrem Falle heißt, sie noch sensationeller auszupinseln.

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Der Wahn ist aber auch ein Symptom der seit den fünfziger Jahren immer mehr fortschreitenden allgemeinen Infantilisierung. Menschen, die sich nicht mehr kleiden wie Erwachsene, die mit Musik, Filmen und Büchern bis zur Rente an der weltweiten Jugendkultur teilhaben und die oft ebenso lange vor der Verantwortung des Familienlebens flüchten, wenden sich von der drögen Politik ab und den poppigen Fiktionen der Verschwörungstheoretiker zu.

Dort verfangen sie sich dann in einem gedanklichen Netz, das Robert Anton Wilson, Autor dreier satirischer Romane über den Geheimbund der Illuminaten, ein wenig selbstironisch so beschreibt: „Auch wirklich verrückte Verschwörungstheorien kann niemand wirklich widerlegen, denn sie alle haben eine seltsame Schleife in ihrer Konstruktion: Jeder Beweis gegen sie funktioniert nämlich gleichzeitig als Beweis für sie, wenn man die Dinge so sehen will. Daher überlebt die Pop-Dämonologie der Verschwörungstheorie jede Kritik, genau wie ihre Cousine, die Theologie.“

Das Paradox jener Selbstentmündigung ist aber, dass sich der vermeintlich so kritische Verschwörungsgläubige mithilfe seiner Paranoia oft umso leichter manipulieren lässt. Deshalb haben Gewaltherrscher häufig Verschwörungstheorien geschaffen oder verbreitet, um mit ihnen zu regieren – eine Variante von „conspiracy as governance“, die Julian Assange ganz gewiss nicht im Sinne hatte, die aber im Gegensatz zu seinen Hypothesen belegbar ist. So beginnt der moderne antisemitische Mythos von einem globalen jüdischen Geheimbund, der die Weltherrschaft anstrebt, mit einem 1806 von der französischen Geheimpolizei unter Joseph Fouché gefälschten Enthüllungsbrief. Und die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ sind bekanntlich ein Machwerk aus dem Umfeld der zaristischen Geheimpolizei um 1900.

Der Glaube an die „jüdische Weltverschwörung“, die zugleich hinter dem Kapitalismus der Wall Street und dem Bolschewismus Moskaus stecke, wurde dann die ideologische Grundlage des Naziregimes. Auf der anderen Seite hat Stalin sich all seiner Feinde entledigt, indem er nacheinander diverse „Verschwörungen“ zum Anlass für Säuberungen des sowjetischen Machtapparats nahm, bis hin zum angeblichen Komplott „Ärzte als Mörder“, mit dem der Diktator 1953 kurz vor seinem Tode eine antijüdische Verfolgungswelle rechtfertigen wollte.

Derartige Verschwörungstheorien gehören bis heute zum alltäglichen Handwerkszeug der letzten Diktatoren von Ahmadinedschad bis Castro: Man ist geradezu dankbar, wenn dabei ausnahmsweise mal nicht die Juden und/oder Amerikaner im Mittelpunkt stehen, sondern ein traditionsbewusster Potentat wie Simbabwes Robert Mugabe ganz im Sinne des antikolonialistischen Erbes immer noch die Engländer für alle Unbill verantwortlich macht.

Sie alle wissen, dass nichts die Menschen gewaltbereiter macht als eine Verschwörungstheorie. Da die Voraussetzung des Komplotts eine perfekte Tarnung ist, kann jede Tatsache, die Zweifel an der Konspiration nährt, als Beweis für Raffinesse der Verschworenen umgedeutet werden. Menschliche Hemmungen sind gegenüber einem Gegner, der nie sein wahres Gesicht zeigt, unangebracht.

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Das Weinen eines Babys, das Flehen einer Frau oder der Appell eines Schwachen ans Mitleid seines Peinigers erscheinen nur als Tricks der Maskierten. Nicht umsonst leistete eine Verschwörungstheorie Geburtshilfe beim blutigen Zur-Welt-Kommen der politischen Moderne in Europa: Die „Grande Peur“, die im Sommer 1789 die französischen Bauern befiel, war eine sich epidemisch ausbreitende Angst vor Bettelhorden, Räubern und Dunkelmännern, mit deren Hilfe sich der Adel angeblich für verweigerte Frondienste rächen wollte. Diese Furcht machte die Bauern erst richtig reif für die Revolution und für ihre Gräuel.

Auch dieses Beispiel zeigt: Verschwörungstheorien sind kein Spaß. Sie sind oft ein Zeichen tiefer, vom Verstand nicht mehr leicht zu erschließender Systemstörungen. Und sie haben auf eine perverse Weise etwas Republikanisches. Die großen Verschwörungstheorien der Neuzeit, in deren Mittelpunkt die Freimaurer, die Illuminaten, Jesuiten (neuerdings abgelöst vom Opus Dei) oder die Juden stehen, sind nicht umsonst alle in der Epoche der Französischen Revolution entstanden.

Krisen sind die dunklen Sonnen, die Verschwörungstheorien erst zum Blühen bringen. Wie finster muss die Welt also sein, wenn heute sogar aufseiten der Linken die Komplottfantasien blühen. Ursprünglich war die Furcht vor Geheimgesellschaften eine Spezialität konservativer Kleinbürger. Noch die Autoren Gugenberger/Petri/Schweidlenka sehen im Untertitel ihres 1998 erschienenen Weltverschwörungstheorien-Buches „die neue Gefahr von rechts“. Seitdem hat sich der Konspirationsvirus immer weiter auch in linken Hirnen ausgebreitet.

Vor allem der Mythos von den Machenschaften des internationalen Judentums hat dort ein aufsehenerregendes Comeback erlebt. Man redet jetzt nur etwas dezenter vom „Zionismus“. Robert Wistrich, der als einer der führenden Antisemitismus-Historiker der Welt gilt, schreibt dazu: „Der Zionismus hat in den siebziger und achtziger Jahren für die Kommunisten und die anderen Linken die Rolle übernommen, die der Antisemitismus in den dreißiger und vierziger Jahren für die Nazis und die anderen Rechten spielte.“ Für die Linke hat sich diese Hinwendung zum Antisemitismus allerdings als selbstzerstörerisch erwiesen: In Deutschland ist die Linkspartei seit Jahren dabei, sich über die korrekte Haltung zum „Zionismus“ zu zerfleischen. Eine solche Langzeitnachwirkung hätten sich die antisemitischen Fälscher und Verschwörungstheoriefabrikanten Napoleons und des Zaren niemals träumen lassen. 

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